Der „zehnte Freitag“ in Algerien hat erneut enorme Massenmobilisierungen gegen das Regime bedeutet, nicht nur in der Hauptstadt, sondern quer durch das Land. Die Neuigkeit am Tag danach: In der Hauptstadt versammelten sich Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Organisationen: Menschenrechtsgruppen, Studierenden-Zusammenschlüsse, Frauengruppen, unabhängige Gewerkschaften, Kollektive von KünstlerInnen, um gemeinsam darüber zu debattieren, welche Alternativen es gibt zu der vom Regime geplanten Wahlfarce am 4. Juli 2019. Insgesamt waren 24 verschiedene Gruppierungen an dem Treffen beteiligt, für algerische Verhältnisse (zahlreiche Spaltungen innerhalb der Opposition, beispielsweise) eine überraschend hohe Zahl. Das ausdrücklich formulierte Ziel ist der Weg zur „Zweiten Republik“ und dies wird auch aus der während der Tagung vertretenen Einschätzung, die Wahlen am 4. Juli würden nicht stattfinden können, begründet. In dem Bericht „Algérie: la société civile réunie pour proposer un projet de sortie de crise“ am 28. April 2019 bei Radio France Internationale wird darauf verwiesen, dass in einer abschließenden Erklärung des Treffens zu einer großen landesweiten Konferenz aufgerufen wird, die eben den Weg zur Zweiten Republik gemeinsam entscheiden soll. Es werden darin auch die Versuche der Polizeirepression kritisiert und die Freilassung all jener gefordert, die wegen ihrer Kritik an einem fünften Mandat für den inzwischen zurück getreten gewordenen Bouteflika seit vor dem Beginn der Massenproteste noch im Gefängnis sitzen. Siehe dazu auch fünf aktuelle Meldungen zur Entwicklung in den unabhängigen Gewerkschaften und der Opposition im staatstragenden Verband, sowie einen Hintergrundbeitrag zu den Massenprotesten und Organisationsentwicklungen – und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zu Algerien:
„Les travailleurs prévoient une marche le 1er mai en soutien au mouvement populaire“ von Younes Saâdi am 21. April 2019 bei Maghreb Emergent ist ein Bericht über den Beschluss einer der unabhängigen Gewerkschaftsföderationen – der CSA (Confédération des syndicats algériens) - am diesjährigen 1. Mai alle Aktivitäten und Demonstrationen auf die Beendigung des gegenwärtigen Regimes hin zu organisieren, in Unterstützung der Volksbewegung.
„Marche de la fédération des communaux de la wilaya de Tizi-Ouzou“ am 18. April 2019 bei der SNAPAP (Facebook) ist ein Video von einer Streikdemonstration (nicht nur) der Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Tizi-Ouzou in der Kabylei, aus dem einmal mehr die massive Beteiligung der autonomen Gewerkschaften (die SNAPAP ist die größte Einzelgewerkschaft des unabhängigen Verbandes CGATA) an der Protestbewegung gegen das algerische Regime deutlich wird, hierzulande in der Berichterstattung oft übersehen.
„La Confédération Géneral Autonome des Travailleurs en Algérie ( CGATA ) Marchera le 1 MAI 2019 A Alger“ am 22. April 2019 bei Journalistes Citoyens Algérie ist ein Bericht über eine Pressekonferenz des Gewerkschaftsbundes CGATA, in der bekannt gemacht wurde, dass auch diese Föderation zur Maidemonstration gegen das Regime aufruft, verbunden mit mehreren regionalen Aufrufen zu Streiks in der kommenden Woche.
„Rank-and-file revolt gears up inside Algeria’s UGTA“ am 16. April 2019 beim Mena Solidarity Network war ein Bericht über die Zuspitzung der Auseinandersetzungen innerhalb des staatstragenden Gewerkschaftsbundes UGTA – worin unter anderem informiert wird, dass der für nächstes Jahr geplante Gewerkschaftstag vorgezogen werde.
„Algérie: L’UGTA tiendra les 21 et 22 juin prochain son 13ème congrès national“ am 22. April 2019 bei Maghreb Emergent ist eine Art Fortsetzungsmeldung der vorherigen: Nachdem beschlossen worden war, den Kongress auf den Herbst vorzuziehen und der ewige Vorsitzende und Bouteflika-Freund Sidi Said bekannt gegeben hatte, er werde nicht mehr für den Vorsitz kandidieren, war immer noch keine Ruhe eingekehrt: Verschiedene Strömungen innerhalb der UGTA wollen einen eigenen, von der Basis organisierten Kongress abhalten – denn auch hier genügt es nicht, dass der öffentliche Repräsentant des Systems abgetreten wird, sondern es sollen die „ganzen Strukturen“ verschwinden, wenn es nach der stärker werdenden Opposition geht.
„Was ist los in Algerien?“ von Maurizio Coppola am 05. April 2019 bei re:volt weist unter anderem auf die Hintergründe für die Entschlossenheit der Bewegung hin: „… Außerdem kann die algerische Bewegung – die hauptsächlich von der jüngeren Generation getragen wird – nicht als „spontan“ bezeichnet werden. Seit Jahren schon kritisieren die Menschen den Mangel an echter politischer Freiheit, die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen durch den neoliberalen Klientelismus und die Unmöglichkeit, ein menschenwürdiges Leben aufzubauen. Zudem haben mehrere Sektoren der Arbeiter*innen in den letzten Jahren gestreikt. Als die Bewegung dann explodierte, waren es eben nicht einfach viele kleine Bewegungen, die schlicht ihre Ablehnung einer fünften Amtszeit von Bouteflika zum Ausdruck brachten. Es handelt sich vielmehr um eine breite und in ihren Forderungen einheitliche Protestbewegung für Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Die friedliche Natur der Bewegung und die bis anhin gezeigte Unfähigkeit des Regimes, sie zu unterdrücken, haben Dynamiken der Selbstorganisation freigesetzt. Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren gehen vermehrt selbstorganisiert auf die Straße. Der strategische Versuch der organisierten Arbeiter*innen, sich den Gewerkschaftsbund UGTA (Union générale des travailleurs algériens) wiederanzueignen, könnte eine entscheidende Rolle für den Wandel in Algerien spielen. Sowohl der am 10. März organisierte Generalstreik als auch die Demonstration am 26. März in Tizi Ouzou sind sinnbildlich für diesen Prozess: Die Arbeiter*innen forderten den Abtritt des regierungstreuen UGTA Generalsekretärs Abdelmadjid Sidi-Saïd der nun seit 20 Jahren im Amt ist. Nebst den Arbeiter*innen sind in den letzten Wochen vor allem die Student*innen und die Frauen als organisierte Kraft aufgetreten. Erstere haben noch am 2. April zum sechsten Mal in Folge Demonstrationen in den größeren Städten des Landes organisiert. In Algier trugen sie ein Transparent mit der Aufschrift mit sich: „Die Menschen wollen ihre eigene Übergangsregierung wählen und ihre eigene verfassunggebende Versammlung bilden“. Die Frauen hingegen haben am 16. März die Erklärung „Algerische Frauen für einen Wandel und die Gleichheit“ lanciert, die dazu aufruft, die Mobilisierungen so lange fortzusetzen, bis das politische System die Gleichheit zwischen den Geschlechtern erkennt und umsetzt. Sie wurde von Aktivistinnen aus dem ganzen Land unterzeichnet…“
- Zur algerischen Massenprotestbewegung zuletzt: „Auch der neunte Freitag in Algerien im Zeichen von Millionen Menschen auf den Straßen: Absage an die Manöver des Regimes“ am 23. April 2019 im LabourNet Germany
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