Dienstag, 15. Januar 2019

Absichtserklärungen und Wirklichkeit (Thomas Rothschild)


Zwei geschichtsmächtige Ideologien standen einander im 19. Jahrhundert gegenüber: der Nationalismus und der Sozialismus. Der Nationalismus wurde im 20. Jahrhundert am radikalsten im deutschen, dann »großdeutschen« (also deutsch-österreichischen) Nationalsozialismus in Politik umgesetzt, der Sozialismus gab den ideologischen Überbau für die Sowjetunion ab. Er verstand sich als universelle Weltauffassung der Zukunft und sollte dem Anspruch nach den Nationalismus bezwingen.

Jetzt, weit im 21. Jahrhundert, fristet der Sozialismus als Idee und erst recht als politische Wirklichkeit ein kümmerliches Dasein. Noch nie schien der Kapitalismus so unanfechtbar, galt die Marktwirtschaft so sehr als unkritisierbar und, entgegen aller Evidenz, als Garant der Demokratie wie heute. Es bedarf keiner Komitees für unamerikanische Umtriebe, um jene als Staatsfeinde abzustempeln, die den Glauben an die beglückende Wirkung der Marktwirtschaft nicht teilen. Zugleich erlebt der Nationalismus, den man für historisch obsolet gehalten hatte, eine Renaissance von gewaltigem Ausmaß.

Die Apologeten eines vereinten Europa, auch und gerade jene, die sich für Linke halten und es vielleicht einmal waren, versichern lautstark, dass dieses die Voraussetzungen zur Überwindung des Nationalismus und damit zu einer Vermeidung von Kriegen liefere. Mit einer Heftigkeit, die an Nötigung grenzt, hat sich der Konsens durchgesetzt, dass das europäische Projekt ein Werk göttlicher Vernunft und seine Ablehnung des Teufels sei. Das Stigma der »Europafeindlichkeit« hat die gleiche einschüchternde Wirkung wie der Vorwurf der »US-Feindlichkeit« seitens der Neoliberalen, die Unterstellung der »Israel-Feindlichkeit« seitens nationalistischer Juden oder der Anwurf der »Sowjetfeindlichkeit« einst seitens der Kommunisten. Die Wahrheit ist: Der Nationalismus hat in dem Maße zugenommen, in dem die EU an Einfluss gewonnen und die Souveränität der einzelnen Staaten abgenommen hat. Die Wahrheit ist: Serbien, Kroatien, Bosnien hatten historisch weit mehr gemeinsam als Portugal, Estland und Rumänien. Wer den Zerfall Jugoslawiens als Fortschritt hingenommen hat und die Stärkung der EU idealisiert, macht sich eines gespaltenen Bewusstseins verdächtig. Die EU dient nicht den Interessen der europäischen Völker, erst recht nicht den Interessen der Weltbevölkerung, sondern den Interessen der europäischen Konzerne und dem Ausbau eines Bollwerks gegen die amerikanische und chinesische Konkurrenz. Ob das den Frieden sichert, ist die Frage. Das Wort vom »Wirtschaftskrieg«, das zurzeit die Runde macht, gibt einen Vorgeschmack.

Nun wäre das halb so schlimm, wenn die Europa-Prediger, jedenfalls jene, die nicht zu den Profiteuren zählen, eingeständen, dass sie sich geirrt haben. Aber wie sooft wiegen die Absichtserklärungen schwerer als die beobachtbare Wirklichkeit. Mag der Nationalismus in immer mehr Ländern sein Haupt erheben, mag er immer aggressiver das 19. Jahrhundert oder die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück beschwören – die EU-Propagandisten bleiben dabei: Ein vereintes Europa bedeutet das Ende des Nationalismus und das Ende von Kriegen. Sie gleichen jenen Repräsentanten der Deutschen Bahn, die hartnäckig behaupten, Stuttgart 21 bedeute einen enormen Schritt nach vorne, während das Projekt Tag für Tag neue Katastrophenmeldungen einbringt. Sie gleichen den Funktionären des Internationalen PEN, die nach Istanbul reisen, um für die Freilassung inhaftierter Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten zu demonstrieren, mit selbstgefälligem Pathos von Gesprächen mit Ministern erzählen, aber keinen einzigen Häftling aus dem Gefängnis befreien konnten: Worte ohne Wirkung, Absichtserklärungen und Wirklichkeit.

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