Dienstag, 17. März 2015

»Frieden« mit der Ukraine (Jörg Wollenberg)

Mit dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk (3. März 1918) zwischen den Mittelmächten und Sowjetrußland wurde das »Mitteleuropa-Projekt« der »Kriegszielpartei« der Obersten Heeresleitung (OHL) um Ludendorff und Hindenburg Wirklichkeit. Die Vertreter der Industrie und des Handelskapitals gehörten ab 1914 mit dem AEG-Chef und späteren Außenminister Walter Rathenau zu den Propagandisten des Projektes: Aus riesigen Gebieten Rußlands entstand damals eine Pufferzone, die von Finnland und den baltischen Staaten über die Ukraine, die Krim bis jenseits des Kaukasus zur türkischen Grenze reichte. Und das Bündnis zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich ermöglichte mit Hilfe der Berlin-Bagdad-Bahn die Eroberung der Erdölfelder im Nahen Osten. Alles wurde von deutschen Truppen kontrolliert und besetzt bis zum Frieden von Versailles am 28. Juni 1919. Ein Eroberungsfeldzug, der Hitlers »Fernziel, ein deutsches Ostimperium auf den Trümmern der Sowjetunion aufzubauen«, schon 1917/18 hatte Realität werden lassen. Bereits am 9. Februar 1918 hatten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn einen Friedensvertrag mit den Separatisten der Ukrainischen Volksrepublik geschlossen, die zuvor ihre Unabhängigkeit von Rußland erklärt hatten. So entstand aus der Zerfallsmasse des Zarenreichs die »Kornkammer Europas«. Mit dem sogenannten Brotfrieden endete der Erste Weltkrieg in Osteuropa. So hoffte die OHL, die Versorgung mit Nahrungsmitteln für die hungernde deutsche Bevölkerung zu sichern und die Frühjahrsoffensive an der Westfront im März 1918 einleiten zu können. Schon damals mit überraschenden Ergebnissen. So nahm zum Beispiel Alfred Faust, der an die Ostfront eingezogene Bremer Propagandachef von Ludwig Roselius (Kaffee HAG), als USPD-Mitglied am Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin teil – als Abgeordneter der Ostfront, Wahlbezirks-Heeresgruppe Kiew/Ukraine. Faust berichtete dort über »wilde Truppen« und chaotische Zustände der deutschen Heeresgruppe Kiew (Protokoll 31.1.1919, S. 205). Er wurde unter anderem begleitet von dem im August 1916 in russische Gefangenschaft geratenen Ernst Reuter, dem späteren Berliner Oberbürgermeister. Reuter hatte es als damaliger Anhänger der Bolschewiki bis zum Kommissar der autonomen Wolgadeutschen Republik gebracht. Er nahm am Gründungskongreß der KPD Ende Dezember 1918 in Berlin teil und blieb als Wortführer der »Linken« bis zum Parteiausschluß im Januar 1922 KPD-Generalsekretär – unter seinem Parteinamen Ernst Friesland. Das Handelskapital der Hansestädte auf Raubzügen im Osten Der als »historische Stunde« gefeierte Gewaltfrieden von Brest-Litowsk sicherte für kurze Zeit den Beginn einer deutschen Vorherrschaft in Osteuropa. Diese Zeit nutzte die Hanseatische Kaufmannschaft zur Gründung einer »Gesellschaft für internationale Unternehmungen«, um den deutschen Außenhandel auszudehnen und wichtige Teile der baltischen Provinzen Rußlands auszubeuten. Die Beteiligung des führenden Hamburger Bankiers Max Warburg und des Ruhrindustriellen Hugo Stinnes sicherte die Kreditbeschaffung ab. Noch im März 1918 gelang es ihnen, mit dem Bukarester Vertrag eine Neuordnung der rumänischen Erdölwirtschaft unter Einschluß der galizischen Ölfelder abzuschließen. Bereits im Dezember 1917 hatten sie eine neue Mineralöl-Handels- und Beteiligungsgesellschaft gegründet, der sich auch Albert Ballin von der Hapag für den Verein der Hamburger Reeder angeschlossen hatte. Die Raubzüge der Hanseatischen Kaufmannschaft sollten mit ihrem Drang gen Osten im Zweiten Weltkrieg einen neuen Höhepunkt erreichen. Sie profitierten ab 1941/42 von den Morden und Raubzügen in den besetzten Gebieten im Osten. Abgesichert durch die Wehrmacht und die SS-Einsatzgruppen und geschützt von den hanseatischen Polizeibataillonen und den deutschen Polizeidienststellen vor Ort gründeten die Handelshäuser ihre Niederlassungen vor allem in der Ukraine und auf der Krim, aber auch in Reval/Tallinn und Riga. Karl Schneider hat diesen Akt der Beteiligung der »Pfeffersäcke« an Kriegsverbrechen in seiner 2011 veröffentlichten Dissertation über die »Bremer Polizeibataillone und der Holocaust« dargestellt. Und die von Karl-Heinz Roth vorgelegte Studie über »Reemtsma auf der Krim« (2011) liefert weitere bedrückende Belegstücke am Beispiel der Tabakhandelsfirmen unter der Ägide der Martin Brinkmann AG und des Reemtsma-Konzerns. Beide hatten sich im Frühjahr 1942 zu einer Tabakbau- und Handelsgesellschaft zusammengeschlossen, um in der Ukraine und im Nordkaukasus ein Syndikat der Tabakproduktion zu gründen. Mit Hilfe der skandalösen Ausbeutung von Zwangsarbeitern gelang ihnen ein riesiger Profit. Sie übernahmen in der zuständigen staatlichen Zentralen Handelsgesellschaft Ost für landwirtschaftlichen Absatz und Bedarf GmbH (ZO) mit 230 deutschen Einsatzfirmen und 1500 deutschen Verwaltern in den Hauptgeschäftsstellen der Ukraine und Kaukasiens eine Vorreiterrolle beim Einsatz von rund 5500 deutschen Kadern (Sonderführern) und etwa 520.000 zur Zwangsarbeit verurteilten einheimischen Arbeitskräften. Die Kaufleute halfen dabei, die sowjetische Landwirtschaft auszuplündern, Wehrmacht und Okkupationsbehörden mit Agrarerzeugnissen zu beliefern und den Weitertransport von geraubten Waren ins Reich durchzuführen. Der »Erfolg« beruhte auch auf der polizeilich-militärischen Kollaboration und den von den SS-Sonderkommandos befehligten »Selbstschutz«-Kompanien in der Ukraine, unterstützt dabei von einheimische Verwaltungskadern, die sich nach den jeweiligen lokalen ethnischen Strukturen in der Regel aus Russen, Ukrainern und anderen Minderheiten (außer Juden) zusammensetzten. Schweigepakt bis heute Das Ausschweigen über die rigorosen Ausplünderungspraktiken und das Wissen von Mordaktionen gehört bis heute zu den kollektiven Verdrängungsmechanismen. Nach wie vor bleibt es eine ungelöste Aufgabe, Funktion und Rolle der deutschen Einsatzfirmen der Zentralen Handelsgesellschaft Ost aufzuarbeiten, die mehr als eine halbe Million Arbeitskräfte aus der Sowjetunion schamlos ausbeuteten, ohne daß bislang für eine Wiedergutmachung der Überlebenden gesorgt wurde. Ganz zu schweigen von jenen Firmen, die nach den Luftangriffen Teile der Produktion in die besetzen Länder oder in die Nähe von Konzentrationslagern umsiedelten. Die Bremer Focke-Wulf-Flugzeugbau GmbH mit dem Großaktionär Roselius errichtete beispielsweise ein großes Werk in der Nähe vom KZ Stutthof bei Danzig und ließ dort Motoren bauen. Die Weser-Flugzeugbau GmbH errichtete im Sudentenland bei Böhmisch Kamnitz einen Zweigbetrieb, in dem 650 Häftlinge Stollen für den Flugzeugbau in das Gebirge treiben mußten. Und die Firmenleitung forderte außerdem den Bau eines Barackenlagers als Außenstelle des KZ Flossenbürg. Bleibt noch anzumerken: Den »auswärts eingesetzten« NS-Tätern gelang nach 1945 in der Regel die konfliktlose Rückkehr in die Zivilgesellschaft. So wurde zum Beispiel Karl Schulz, Adjutant von Arthur Nebe, Leiter der Einsatzgruppe B, 1946 als Polizeimajor in eine Planstelle beim Stab des Chefs der Polizei in Schleswig-Holstein eingewiesen. 1952 kehrte er als Kriminaldirektor nach Bremen zurück. Und Erwin Schulz, der ehemalige Bremer Gestapo-Chef und in Nürnberg als Massenmörder zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilte Leiter eines Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, konnte 1954 auf Bitten des Bremer Senats die Haftanstalt Landsberg vorzeitig verlassen und als verurteilter Kriegsverbrecher seine Dienstbezüge mit einem Übergangsgeld bis zu seiner Pensionierung beziehen. Zwei von zahlreichen Beispielen als Folge des in den norddeutschen Hansestädten herrschenden Schweigepaktes über die NS-Zeit zwischen Kaufmannschaft und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung. Ein Schweigepakt, der wirkungsvoll bis heute fortbesteht.

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