Dienstag, 17. März 2015

Die Aktenpuzzler (Ralph Hartmann)

Der Chef für die Verwaltung der MfS-Akten, Roland Jahn, ist traurig und ungeduldig zugleich. Dem Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin ist es nach 19jähriger Forschung noch immer nicht gelungen, ein Computerprogramm zu entwickeln, mit dessen Hilfe 1989 zerrissene MfS-Akten automatisch und zügig rekonstruiert werden können (s. Ossietzky 14/2007). Dank einer Förderung aus dem Bundeshaushalt in Höhe von acht Millionen Euro konnten bei der Entwicklung der weltweit einmaligen Technik einige Fortschritte erzielt werden, wozu vor allem die Entwicklung eines elektronischen Puzzlegerätes, eines ePuzzlers, gehört, aber das notwendige Scannen des zusammengepuzzelten Materials geht viel zu langsam. Nun denken die Fraunhofer Puzzler darüber nach, einen hocheffektiven Spezialscanner, eine voll automatische Scan-Straße, zu entwickeln. Für das anspruchsvolle Unternehmen wurden aus der Staatsschatulle weitere zwei Millionen Euro bereitgestellt, aber es zieht sich in die Länge. Wann das bahnbrechende Werk vollendet sein wird, ist noch nicht abzusehen. Angesichts der mißlichen Lage müssen in Zirndorf bei Nürnberg, wohin die 16.250 Säcke mit rund 600 Millionen Schnipseln verfrachtet wurden, die Puzzlespezialisten die zerrissenen Akten weiter per Hand sortieren und zusammenfügen. Aber auch das kommt äußerst langsam voran. Akten-Chef Jahn meint gar, daß mit den bisherigen Kapazitäten die Rekonstruktion noch mehrere hundert Jahre dauern würde, und faßt seine verständliche Unruhe mit den Worten zusammen: »Ich bin ungeduldig angesichts dieser Zeitprognose.« Aber wo liegt der Ausweg aus der vertrackten Lage? Er ist schnell zu finden: Man macht, auf gut Sächsisch gesagt, die Bude dicht; auf Hochdeutsch: Man schließt das Amt des Stasiaktenbundesbeauftragten! Beiläufig sei eingestanden, daß dieses Verlangen gar nicht so originell ist. Bereits 2009 hatte der der DDR-Zuneigung wahrlich unverdächtige Arnold Vaatz, seinerzeit stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, eine baldige Schließung der Behörde, verbunden mit der Übergabe aller Akten an das Bundesarchiv, verlangt. Es ist an sich schon extravagant, 25 Jahre nach dem Untergang der DDR weiter eine Mammutbehörde zu finanzieren, die alte und uralte Geheimdienstakten sichtet und verwaltet. Geradezu skurril ist es aber, zerfetzte Altakten per Hand oder irgendwann einmal mit hochmoderner Puzzletechnik wieder herzustellen. Der MfS-Unterlagenchef meint zwar, daß monatlich noch immer rund 5.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt würden, aber nach wie vor gibt er wie seine Vorgänger Joachim Gauck und Marianne Birthler keine Auskunft darüber, wie viele Antragsteller tatsächlich fündig werden. Die Schließung der Behörde könnte relativ leicht vonstatten gehen, da es nun eine 14köpfige Kommission gibt, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts, Wolfgang Böhmer, geleitet wird und Vorschläge zur Zukunft des Gauck-Birthler-Jahn-Amtes erarbeiten soll. Aber wie das Aktenpuzzeln und die Entwicklung der Fraunhofer Scan-Straße werden sich auch die Kommissionsberatungen in die Länge ziehen, denn das Gremium debattiert darüber, was mit der Aufarbeitungseinrichtung erst nach 2019 geschehen soll. Eine alsbaldige Schließung würde nicht nur eine paradoxe Veranstaltung beenden, in der ein Staat außerordentlich aktive Geheimdienste unterhält und nicht einmal Bundestagsabgeordneten Einblick in die über sie geführten Schnüfflerakten gewährt, jedoch aufwendig die geheimdienstlichen Unterlagen einer vor zweieinhalb Jahrzehnten untergegangenen Republik verwaltet und sie zu »Forschungszwecken« für Gott und alle Welt öffnet; sie würde auch dazu beitragen, klamme Finanzkassen aufzufüllen. Immerhin sind für das Amt des Bundesbeauftragten im laufenden Jahr laut dem Bundeshaushaltsgesetz 108,96 Millionen Euro vorgesehen, die an anderen Stellen dringend benötigt werden. So könnten sie zum Beispiel für den Abbau des Sanierungsstaus in der Bundeshauptstadt eingesetzt werden, deren katastrophale marode Infrastruktur allgemein bekannt ist. Nicht nur die heruntergekommenen Straßen, auch Berliner Schulen, die meist in einem desaströsen Zustand sind, könnten davon profitieren. Lehrer, Eltern, Schüler beklagen immer wieder undichte Dächer, kaputte Fenster, bröckelnden Putz, schimmelnde Wände, verdreckte sanitäre Anlagen. Allein im Berliner Stadtbezirk Lichtenberg, wo in der ehemaligen MfS-Zentrale die Akten gelagert werden und kürzlich die wunderbare Dauerausstellung »Staatssicherheit in der SED-Diktatur« eröffnet wurde, besteht in den Schulen ein dringender Sanierungsbedarf in Höhe von 90 Millionen Euro. Das ist noch nicht einmal die volle Summe, die die Akten-Behörde pro Jahr frißt. Und auch für den Behördenchef Jahn würde sich angesichts seiner Verdienste gewiß eine neue Arbeitsstelle finden, beträgt sein Jahreseinkommen doch lediglich 0,12 Prozent der Ausgaben der von ihm geleiteten Einrichtung. Aber es gäbe freilich auch noch andere nützliche Verwendungen für die eingesparten Millionen. So würde sich das Bundesamt für Verfassungsschutz, dem jährlich nur 230,78 Millionen Euro zur Verfügung stehen, über den Zufluß der Gelder gewiß freuen, könnte es dann doch noch intensiver seiner geheimdienstlichen Arbeit nachgehen, viel- und sorgfältiger beobachten, mehr V-Leute anheuern, um unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat noch wehrhafter zu schützen. Und sollte das Bundesamt eines Tages aufgelöst werden, dann müssen Akten nicht im Reißwolf oder per Hand zerrissen werden. Es genügt, die elektronischen Datenträger mit den vielen Giga- und Terabytes an Informationen zuverlässig zu schreddern, und kein ePuzzler der Welt könnte sie wiederherstellen.

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