Samstag, 25. August 2012

Stalin: Vom Vorbild zum Verderber

Vorabdruck. »Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende«. Die Wende in der Bewertung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Von Domenico Losurdo jungeWelt vom 11. 08. 2012 (auf Kommunisten-online am 19. August 2012) – Der an der Universität Urbino lehrende Philosoph Domenico Losurdo hat eine Stalin-Monographie vorgelegt, die zuerst 2008 im Verlag Carocci in Rom herausgekommen ist. Das Buch hat in Italien einiges Aufsehen erregt und eine breite geschichtsbezogene Debatte in Gang gesetzt. Der Kölner PapyRossa Verlag legt nun eine deutsche Übersetzung des Werks vor, die dieser Tage unter dem Titel »Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende« im Buchhandel erscheint. Wir veröffentlichen aus dem Band, um Fußnoten gekürzt, das Vorwort. Darin deutet sich bereits die Methode an, die für die Untersuchung konstitutiv ist: Auf Grundlage einer »allumfassenden Komparatistik« wird die sowjetische Geschichte im Kontext der Tragödien des 20. Jahrhunderts betrachtet und der sowjetische Staatschef entdämonisiert – ohne die gegen ihn erhobenen Anklagen einfach zu negieren. Eine Rezension des Buches folgt. Imposante Trauerkundgebungen begleiteten den Tod Stalins: Während seiner Agonie »drängten sich Millionen Menschen im Zentrum Moskaus, um dem sterbenden Führer die letzte Ehre zu erweisen«; am 5. März 1953 »weinten Millionen Bürger über den Verlust, so als handelte es sich um eine persönliche Trauer«. Dieselbe Reaktion zeigte sich in den entferntesten Gebieten des riesigen Landes, zum Beispiel in einem »kleinen Dorf«, das, gleich nach der Verkündung des Todes in eine spontane und einhellige Trauer verfiel. »Die allgemeine Bestürzung« verbreitete sich weit über die Grenzen der UdSSR hinaus: »Viele weinten auf den Straßen von Budapest und Prag.« Tausende Kilometer vom sozialistischen Lager entfernt, waren auch in Israel Trauerbekundungen weit verbreitet: »Alle Mitglieder der Mapam weinten ohne Ausnahme«; es handelte sich um die Partei, der »alle wichtigsten Führer« und »fast alle Kämpfer« angehörten. Mit dem Schmerz verband sich die Bestürzung: »Die Sonne ist untergegangen« titelte die Zeitung der Kibbuzbewegung Al-Hamishmar. Diese Gefühle wurden eine Zeitlang von hochrangigen Exponenten des Staats- und Militärapparats geteilt: »Neunzig Offiziere, die am Krieg von 1948, am großen Unabhängigkeitskrieg der Juden teilgenommen hatten, schlossen sich in einer geheimen, bewaffneten prosowjetischen (sowie prostalinistischen) und revolutionären Organisation zusammen. Elf von ihnen sind später Generale und einer ist Minister geworden, und heute noch werden sie als Väter des Vaterlands Israel verehrt.« Im Westen huldigten nicht nur die Führer und Aktivisten der mit der Sowjetunion verbundenen kommunistischen Parteien dem Verstorbenen. Ein Historiker (Isaac Deutscher) schrieb, obgleich er ein begeisterter Anhänger Trotzkis war, einen Nachruf voller Anerkennungen: »In drei Jahrzehnten hat sich das Gesicht der Sowjetunion vollkommen verändert. Der Kern der historischen Wirkung des Stalinismus ist dieser: Er hat ein Rußland vorgefunden, das den Acker mit dem Holzpflug bearbeitete, und er verläßt es als Besitzer des Atommeilers. Er hat Rußland zur zweiten Industriemacht der Welt erhoben, und es hat sich nicht nur um eine Frage bloß materiellen und organisatorischen Fortschritts gehandelt. Ein derartiges Ergebnis hätte man nicht ohne eine breit angelegte kulturelle Revolution erzielen können, in deren Verlauf man ein ganzes Land in die Schule geschickt hat, um ihm eine breite Bildung zu geben.« Selbst wenn sie vom asiatischen und despotischen Erbe des zaristischen Rußlands geprägt und zum Teil verzerrt war, fand in Stalins UdSSR »das sozialistische Ideal seine natürliche und geschlossene Integrität«. Enormes Prestige In dieser historischen Bilanz gab es keinen Platz mehr für die fürchterlichen Anklagen, die Trotzki seinerzeit gegen den verstorbenen Führer erhoben hatte. Welchen Sinn hatte es, Stalin als Verräter des Ideals der Weltrevolution und als kapitulierenden Theoretiker des »Sozialismus in einem Land« in einer Zeit zu verurteilen, in der sich die neue Sozial­ordnung in Europa und in Asien ausbreitete und die Revolution »ihre ›nationale Schale‹ sprengte«? Von Trotzki als »kleiner Provinzler« verspottet, »der zum Scherz von der Geschichte auf die Ebene der großen Weltereignisse katapultiert worden ist«, war Stalin 1950 für einen berühmten Philosophen (Alexandre Kojève) zur Verkörperung des Hegelschen Weltgeistes aufgestiegen und deshalb dazu berufen, auch mit energischen Methoden die Menschheit zu vereinigen und anzuführen und dabei Weisheit und Tyrannei zu kombinieren. Außerhalb der kommunistischen Kreise bzw. der kommunistenfreundlichen Linken regte der Tod Stalins im Westen, trotz des Kalten Krieges und des Andauerns des heißen Krieges in Korea, insgesamt »ausgewogene« Nachrufe »voller Achtung« an: Damals »betrachtete man ihn noch als einen relativ gutmütigen Diktator und sogar als einen Staatsmann, und im Volksbewußtsein hielt die liebevolle Erinnerung an den ›Onkel Joe‹ an, den großen Kriegsherrn, der sein Volk zum Sieg über Hitler geführt und dazu beigetragen hatte, Europa von der nazistischen Barbarei zu retten« (Kojève). Die Ideen, die Eindrücke und die Emotionen der Jahre der Großen Koali­tion gegen das Dritte Reich und seine Verbündeten waren noch nicht verschwunden, als – daran hatte Isaac Deutscher 1948 erinnert – »Staatsmänner und Generale (…) von dem sicheren Griff tief beeindruckt waren, mit dem er alle technischen Details seiner gigantischen Kriegsmaschine erfaßte und meisterte«. Zu den günstig beeindruckten Persönlichkeiten gehörte auch derjenige, der seinerzeit die militärische Intervention gegen das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land angeführt hatte, nämlich Winston Churchill, der sich wiederholt so über Stalin ausgedrückt hatte: »Dieser Mann gefällt mir« (»I like that man«). Anläßlich der Konferenz von Teheran im November 1943 hatte der englische Staatsmann seinen sowjetischen Kollegen als »Stalin den Großen« begrüßt: Er sei der würdige Erbe Peters des Großen, er habe sein Land gerettet, indem er es in die Lage versetzte, die Invasoren zu besiegen. In gewisser Hinsicht fasziniert war der US-amerikanische Botschafter in Moskau (von 1943 bis 1946), Averell Harriman, der auf militärischer Ebene immer ein recht schmeichelhaftes Bild des sowjetischen Führers gezeichnet hatte: »Ich fand, er war besser informiert als Roosevelt und realistischer als Churchill, gewissermaßen der effizienteste Kriegsherr«. Emphatisch sogar hatte sich 1944 [der christlich-soziale italienische Außenminister] Alcide de Gasperi ausgedrückt, der »das enorme, historische Verdienst über hundert Jahre hinaus der vom Genie Josef Stalins organisierten Armeen« gewürdigt hatte. Und die Anerkennungen seitens des bedeutenden italienischen Politikers hatten sich nicht auf die bloß militärische Ebene beschränkt: »Wenn ich sehe, wie Hitler und Mussolini die Menschen wegen ihrer Rasse verfolgten und jene erschreckende antijüdische Gesetzgebung erfanden, die wir kennen, und wenn ich gleichzeitig sehe, wie die aus 160 Rassen zusammengesetzten Russen eine Verschmelzung dieser Rassen versuchen, wenn ich diese Bemühung um die Vereinigung der menschlichen Gesellschaft sehe, so laßt mich sagen: Das ist christlich, das ist eminent universalistisch im Sinne des Katholizismus.« Nicht weniger stark und nicht weniger verbreitet war das Prestige, das Stalin unter den großen Intellektuellen genossen hatte und noch genoß. Harold J. Laski, ein damals angesehener Exponent der englischen Labour Party, hatte sich in einem Gespräch mit »Norberto« Bobbio im Herbst 1945 als »Bewunderer der Sowjetunion« und ihres Führers bekannt, der von ihm als »sehr klug« (»très sage«) bezeichnet wurde. Im gleichen Jahr hatte Hannah Arendt geschrieben, daß das von Stalin angeführte Land sich durch die »vollkommen neue und gelungene Art« ausgezeichnet habe, »die Konflikte der Nationalitäten anzupacken und zu schlichten, unterschiedliche Bevölkerungen auf der Grundlage der nationalen Gleichheit zu organisieren«; es handelte sich um eine Art Vorbild, es war etwas, »dem jede politische und nationale Bewegung ihre Aufmerksamkeit schenken sollte«. Auch [der italienische Philosoph und Historiker] Benedetto Croce hatte, kurz vor und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schreibend, Stalin das Verdienst zuerkannt, dank seines Beitrags zum Kampf gegen den Nazifaschismus die Freiheit nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch in seinem eigenen Land gefördert zu haben. Ja, geführt werde die UdSSR von »einem politisch genialen Mann«, der eine insgesamt positive historische Rolle spiele: Im Vergleich zum vorrevolutionären Rußland »hat der Sowjetismus einen Fortschritt der Freiheit bedeutet«, so wie »im Vergleich mit dem feudalen Regime« auch die absolute Monarchie »ein Fortschritt der Freiheit (war) und ihre weiteren und größeren Fortschritte bewirkte«. Die Zweifel des Philosophen konzentrierten sich auf die Zukunft der Sowjetunion, aber im Kontrast dazu ließen sie die Größe Stalins noch mehr hervortreten: dieser hatte Lenins Platz eingenommen, so daß ein Genie auf das andere gefolgt war. Aber welche Nachfolger wird »die Vorsehung« der UdSSR bescheren? »Eine neue Zivilisation« Jene, die begonnen hatten, Stalins Sowjetunion mit Hitlerdeutschland zu vergleichen, als sich die Krise der Antihitlerkoalition abzuzeichnen begann, sind von Thomas Mann hart zurechtgewiesen worden. Das Dritte Reich habe sich durch den »Rassen-Größenwahn« der sogenannten »Herrenrasse« ausgezeichnet, die eine »teuflische Entvölkerungspolitik« und vorher noch die Ausrottung der Kultur in den jeweils eroberten Territorien praktizierte. Hitler habe sich auf diese Weise an das Motto Nietzsches gehalten: »Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sich Herren erzieht.« Genau entgegengesetzt sei die Orientierung des »russischen Sozialismus« gewesen, der massiv Bildung und Kultur verbreitete und damit gezeigt habe, keine »Sklaven« zu wollen, sondern »denkende Menschen« und der daher, trotz allem, den »Weg zur Freiheit« eingeschlagen habe. Unannehmbar sei daher die Gleichstellung der beiden Regime. Diejenigen, die so argumentierten, könne man sogar der Komplizität mit dem Faschismus verdächtigen, auch wenn sie behaupten, ihn verurteilen zu wollen: »Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.« Gewiß war später der Kalte Krieg ausgebrochen, und mit der Veröffentlichung ihres Buches über den Totalitarismus hatte Arendt 1951 gerade die von Thomas Mann scharf kritisierte Gleichstellung vorgenommen. Doch fast gleichzeitig hatte Kojève Stalin als den Protagonisten einer entschieden progressiven und weltweiten historischen Wendung bezeichnet. Das bedeutet, daß sogar im Westen die neue Wahrheit bzw. der neue Leitgedanke des unparteiischen Kampfes gegen die verschiedenen Erscheinungsformen des Totalitarismus sich nur mühsam durchsetzte. 1948 hatte Laski seine drei Jahre zuvor zum Ausdruck gebrachte Sichtweise gewissermaßen noch verdeutlicht: Zur Definition der Sowjetunion hatte er eine Kategorie wiederaufgenommen, die von einer anderen Vertreterin des englischen Labourismus, Beatrice Webb, benutzt wurde, die schon 1931 sowie während des Zweiten Weltkriegs und kurz vor ihrem Tode von »neuer Zivilisation« gesprochen hatte. Es stimmt – hatte Laski betont –, aus der außergewöhnlichen Förderung des sozia­len Aufstiegs von so lange ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und aus der Einführung neuer Verhältnisse in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen, die nicht mehr auf der souveränen Macht der Eigentümer der Produktionsmittel gründeten, war das von Stalin angeführte Land als der »Bahnbrecher einer neuen Zivilisation« hervorgegangen. Gewiß haben sowohl die eine als auch der andere sogleich präzisiert: Auf der im Entstehen begriffenen »neuen Zivilisation« laste noch das Gewicht des »barbarischen Rußland«. Sie drückte sich in despotischen Formen aus, aber – unterstrich besonders Laski – um ein korrektes Urteil über die Sowjetunion formulieren zu können, dürfe man einen wesentlichen Tatbestand nicht aus den Augen verlieren: »Ihre Führer kamen in einem Land an die Macht, das nur an eine blutige Tyrannei gewöhnt war«, und sie seien gezwungen gewesen, in einer Situation zu regieren, die von einem mehr oder weniger permanenten »Belagerungszustand« und von einem »potentiellen oder tatsächlichen Krieg« gekennzeichnet war. In akuten Krisensituationen hätten allerdings auch England und die Vereinigten Staaten mehr oder weniger drastisch die traditionellen Freiheiten eingeschränkt. (…) Zum Schluß: In einer ganzen historischen Epoche konnten das von Stalin geführte Land und Stalin selbst auf wohlwollendes Interesse, auf Achtung und manchmal sogar auf Bewunderung zählen. Natürlich gab es die große Enttäuschung über den Nichtangriffspakt mit Nazideutschland, aber Stalingrad hatte sie später vertrieben. Aus diesem Grund einte 1953 und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren die Hommage an den verstorbenen Stalin das sozialistische Lager und schien zeitweise die kommunistische Bewegung, trotz der vorhergehenden Zerrüttungen, erneut zu festigen; schließlich fand diese Huldigung eine Resonanz sogar im liberalen Westen, obwohl dieser in einem Kalten Krieg engagiert war, der von beiden Seiten unerbittlich geführt wurde. Nicht umsonst hatte sich Churchill in seiner Rede in Fulton, die offiziell den Kalten Krieg eröffnete, wie folgt ausgedrückt: »Meine große Bewunderung und Achtung gilt dem tapferen russischen Volk und meinem Mitkämpfer in Kriegszeiten, Marschall Stalin«. Zweifellos sind mit der Verschärfung des Kalten Krieges die Töne nach und nach härter geworden. Und dennoch hatte noch im Jahre 1952 ein berühmter englischer Historiker, der auch für das Foreign Office gearbeitet hatte, nämlich Arnold Toynbee, den sowjetischen Führer mit »einem genialen Menschen: Peter dem Großen« vergleichen können; ja, »die tyrannische Ausrichtung auf technologische Verwestlichung, die Stalin verfolgte, wurde schließlich, wie die Peters, durch die Erprobung auf dem Schlachtfeld gerechtfertigt«. Diese Ausrichtung war, abgesehen von der dem Dritten Reich zugefügten Niederlage, weiterhin gerechtfertigt: Nach Hiroshima und Nagasaki ging es für Rußland darum, »erneut einen Gewaltmarsch zu machen, um die Stufe einer westlichen Technologie zu erreichen«, die es erneut »blitzschnell hinter sich gelassen« hatte. Ins Schreckenskabinett verbannt Aber es ist vielleicht ein anderes historisches Ereignis, das mehr noch als der Kalte Krieg zu einer radikalen Wende in der Geschichte des Stalin-Bildes führt; Churchills Fultoner Rede vom 5. März 1946 spielte eine weniger wichtige Rolle als eine andere Rede, die zehn Jahre später, genau gesagt am 25. Februar 1956, von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der ­KPdSU gehalten wurde. Mehr als drei Jahrzehnte lang hat diese Geheimrede, die das Bild eines krankhaft blutgierigen, eitlen und recht mittelmäßigen oder auf intellektueller Ebene sogar lächerlichen Diktators skizziert, fast alle zufriedengestellt. Das erlaubte es der neuen Führungsspitze an der Macht in der UdSSR, sich als den einzigen Depositär der revolutionären Legitimität im eigenen Land, im sozialistischen Lager und in der internationalen kommunistischen Bewegung zu präsentieren, die in Moskau ihr Zentrum erblickte. Bestärkt in seinen alten Überzeugungen und mit neuen Argumenten zur Fortführung des Kalten Krieges ausgerüstet, hatte auch der Westen seine Gründe zur Zufriedenheit oder zur Begeisterung. In den Vereinigten Staaten hatte die Sowjet­ologie die Tendenz gezeigt, sich um die CIA und andere Militär- und Intelligence-Agenturen herum zu entwickeln, nach vorheriger Säuberung von Elementen, die im Verdacht standen, Sympathien für das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land zu hegen. Ein Militarisierungsprozeß einer Schlüsseldisziplin für die Fortführung des Kalten Krieges hatte sich abgezeichnet; im Jahre 1949 hatte der Präsident der American Historical Association erklärt: »Man kann sich nicht erlauben, nicht orthodox zu sein«, die »Pluralität der Ziele und der Werte« sei nicht mehr zulässig. Man müsse »ausgedehnte Maßnahmen der Reglementierung« akzeptieren, weil der totale Krieg, »sei er nun heiß oder kalt, jeden von uns rekrutiert und jeden von uns aufruft, seine Rolle zu übernehmen. Von dieser Verpflichtung ist der Historiker nicht freier als der Physiker«. Das alles geht 1956 nicht verloren, aber jetzt erhält eine mehr oder weniger militarisierte Sowjetologie eine Ermutigung, die aus dem Innern der kommunistischen Welt herrührt. Es stimmt zwar, daß Chruschtschows Geheimrede nicht so sehr den Kommunismus als solchen, sondern vielmehr eine einzelne Persönlichkeit unter Anklage stellte, aber in jenen Jahren war es auch aus der Sicht Washingtons und seiner Bündnispartner opportun, das Ziel nicht zu weit zu fassen, sondern die Aufmerksamkeit auf das Land Stalins zu konzentrieren. Mit der Unterzeichnung des mit der Türkei und Griechenland geschlossenen »Balkanpakts« von 1954 wird Jugoslawien zu einer Art äußerem Mitglied der NATO, und ungefähr zwanzig Jahre später schließt auch China ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten, das de facto gegen die Sowjetunion gerichtet ist. Vor allem diese Supermacht gilt es zu isolieren, und sie wird gedrängt, eine immer radikalere Entstalinisierung vorzunehmen, bis ihr keinerlei Identität und Selbstachtung mehr bleibt, um sich dann mit der Kapitulation und zuletzt mit der Auflösung abzufinden. Der fürchterliche Bezugspunkt Schließlich konnten die berühmten Intellektuellen, dank der »Enthüllungen« aus Moskau, ruhig das Interesse, die Sympathie und sogar die Bewunderung vergessen, mit der sie auf die UdSSR Stalins geblickt hatten. Besonders die Intellektuellen, die sich auf Trotzki beriefen, fanden in jenen »Enthüllungen« eine Ermutigung. Über lange Zeit hinweg hatte gerade Trotzki für die Feinde der Sowjetunion die Schande des Kommunismus verkörpert und wurde vorzugsweise als der »Ausrotter«, besser als der »jüdische Ausrotter« hingestellt (hierzu ausführlicher an späterer Stelle im Buch, d. Red.); noch 1933, als Trotzki schon seit einigen Jahren im Exil lebte, blieb er für [den Philosophen Oswald] Spengler immer noch der »bolschewistische Massenmörder«. Von der Wende des XX. Parteitags der KPdSU an wurden nur noch Stalin und seine engsten Mitarbeiter ins Schreckenskabinett verbannt. Weil Chrusch­tschows Geheimrede ihren Einfluß weit über den Kreis der Trotzkisten hinaus ausübte, spielte sie eine trostreiche Rolle in den Kreisen einer gewissen marxistischen Linken, die sich auf diese Weise der mühsamen Pflicht enthoben sah, die Theorie ihres Lehrers und ihre konkret entfaltete Wirkungsgeschichte neu zu überdenken. Statt abzusterben, hatte sich der Staat in den von Kommunisten regierten Ländern sogar über alle Maßen ausgeweitet; weit entfernt zu verschwinden, spielten die nationalen Identitäten eine immer wichtigere Rolle in den Konflikten, die zur Zerrüttung und schließlich zur Auflösung des sozialistischen Lagers führten; keine Zeichen für die Überwindung des Geldes und des Markts waren sichtbar, die mit der ökonomischen Entwicklung höchstens noch wichtiger wurden. Sicher, all das war unbestreitbar, aber schuld daran waren … Stalin und der »Stalinismus«! Es gab also keinen Grund, die Hoffnungen bzw. die Gewißheiten in Frage zu stellen, die die bolschewistische Revolution begleitet hatten und die auf Marx verwiesen. Von entgegengesetzten Positionen aus entwickelten diese politisch-ideologischen Sektoren ihr Stalin-Bild allerdings von kolossal willkürlichen Abstraktionen her. Links eliminierte man virtuell aus der Geschichte des Bolschewismus und mit größerem Recht aus der Geschichte des Marxismus denjenigen, der länger als jeder andere die Macht in dem Land ausgeübt hatte, das aus der Revolution hervorgegangen war, die unter Berufung auf die Ideen von Marx und Engels vorbereitet und durchgeführt worden war. Die Antikommunisten gingen indes zwanglos sowohl über die Geschichte des zaristischen Rußland als auch über den zweiten Dreißigjährigen Krieg hinweg, in dem die widersprüchliche und tragische Entwicklung Sowjetrußlands und der drei Stalin-Jahrzehnte anzusiedeln ist. So nahm jeder der verschiedenen politisch-ideologischen Sektoren die Rede Chruschtschows zum Anlaß, um die eigene Mythologie zu pflegen, ob es nun um die Reinheit des Westens oder um die Reinheit des Marxismus und des Bolschewismus ging. Der Stalinismus war der fürchterliche Bezugspunkt, der es jedem der Antagonisten möglich machte, sich selbst im Gegenzug in seiner unendlichen moralischen und intellektuellen Überlegenheit zu verherrlichen. Auf sehr unterschiedliche Abstraktionen gegründet, brachten diese Deutungen am Ende dennoch eine gewisse methodologische Konvergenz hervor. Ohne der objektiven Lage große Aufmerksamkeit zu widmen, leiteten sie bei ihrer Untersuchung des Terrors diesen von der Initiative einer einzelnen Persönlichkeit oder einer begrenzten Führungsschicht her, die entschlossen gewesen sei, ihre absolute Macht mit jedem Mittel durchzusetzen. Wenn Stalin unter dieser Voraussetzung mit einer anderen großen politischen Persönlichkeit verglichen werden konnte, so konnte es nur Hitler sein; folglich war zum Verständnis der UdSSR Stalins einzig der Vergleich mit Nazideutschland möglich. Dieses Motiv taucht Ende der 1930er Jahre schon bei Trotzki auf, der wiederholt die Kategorie »totalitäre Diktatur« gebraucht und innerhalb dieses genus zwischen der »stalinistischen« und der »faschistischen« (und vor allem Hitlerschen) species unterscheidet, mit einem Ansatz also, der später im Kalten Krieg und in der heute herrschenden Ideologie zur allgemeinen Meinung wird. Ist diese Argumentationsweise überzeugend oder sollte man lieber eine umfassende Komparatistik heranziehen und dabei weder die gesamte Geschichte Rußlands noch die im zweiten Dreißigjährigen Krieg engagierten westlichen Länder aus den Augen verlieren? Auf diese Weise vergleicht man zwar Länder und Führungsschichten mit ganz unterschiedlichen Merkmalen. Hängt aber diese Verschiedenheit nur von den Ideologien ab oder spielt auch die objektive Lage eine wichtige Rolle, und das heißt die geopolitische Kollokation und die Geschichte im Hintergrund aller Länder, die in den zweiten Dreißigjährigen Krieg verwickelt sind? Wenn wir von Stalin reden, geht der Gedanke sogleich zur Personalisierung der Macht, zum Konzentrationslager-Universum, zur Deportation ganzer Volksgruppen; verweisen aber diese Phänomene, abgesehen von der UdSSR, nur auf Nazideutschland oder zeigen sie sich, jeweils anders beschaffen, je nach dem mehr oder weniger scharfen und akuten Ausnahmezustand und seines mehr oder weniger langen Andauerns auch in anderen Ländern, die mit der gefestigtsten liberalen Tradition inbegriffen? Sicher darf man die Rolle der Ideologien nicht aus den Augen verlieren; kann aber die Ideologie, auf die sich Stalin berief, wirklich mit derjenigen gleichgesetzt werden, durch die sich Hitler inspirierte oder führt auf diesem Gebiet die vorurteilslose Komparatistik am Ende zu ganz unerwarteten Resultaten? Den Theoretikern der »Reinheit« zum Trotz kann eine politische Bewegung, ein politisches Regime nicht beurteilt werden, indem man sich der Vortrefflichkeit der Ideale anvertraut, denen zu folgen, es behauptet: Bei der Bewertung dieser Ideale dürfen wir ihre Wirkungsgeschichte nicht außer acht lassen; muß aber dieser Ansatz generell oder nur für die Bewegung geltend gemacht werden, die von Lenin oder von Marx ihren Ausgang genommen hat? Diese Fragen erscheinen all denen überflüssig und sogar irreführend, die das Problem der Wandelbarkeit des Stalin-Bildes verdrängen und von der Überzeugung ausgehen, daß Chruschtschow endlich die zuvor verborgene Wahrheit ans Licht gebracht hätte. Als methodologisch unfähig erwiese sich allerdings ein Historiker, der 1956 als das Jahr der definitiven und letzten Enthüllung festlegen wollte und damit zwanglos die Konflikte und Interessen überging, die die Entstalinisierungskampagne und ihr Vorgehen inspirierten und zuvor schon die Sowjetologie des Kalten Krieges inspiriert hatten. Der radikale Kontrast zwischen den verschiedenen Stalin-Bildern sollte den Historiker dazu bringen, nicht eines davon zu verabsolutieren, sondern vielmehr alle zu problematisieren. Domenico Losurdo: Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. PapyRossa Verlag, Köln 2012, 451 Seiten, 22,90 Euro * Mit einem Nachwort von Luciano Canfora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer Buchpremiere mit dem Autor am Dienstag, 18.9., 19 Uhr in der jW-Ladengalerie (Torstr. 6, Berlin-Mitte, Moderation: Arnold Schölzel) siehe auch: Stalins Tod - Eine Würdigung des großen Führers des Weltproletariats Von Günter Ackermann/März 2007 siehe

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