„… In Bagdad setzten die Sicherheitskräfte laut Polizei und Rettungskräften Tränengas gegen die Menschenmenge ein und feuerten mit scharfer Munition. Sie hätten versucht, die Demonstranten davon abzuhalten, zur Notenbank zu marschieren. Auch in Nasirija im Süden des Landes seien scharfe Munition und Tränengas eingesetzt worden, um eine Menschenmenge zu vertreiben, die drei Brücken in der Stadt besetzt habe. Den Angaben zufolge wurden dabei drei Menschen getötet und mehr als 50 weitere verletzt. Eine vierte Person sei später im Krankenhaus an Schusswunden am Kopf gestorben. (…) In der Hafenstadt Um Kasr am Persischen Golf seien drei Demonstranten getötet und mehr als 90 weitere Menschen verletzt worden. Auch hier sei scharfe Munition und Tränengas abgefeuert worden. In Kerbela seien mindestens 24 Menschen verletzt worden, auch in Basra kam es zu Protesten gegen die Regierung. Ausgelöst wurden die neuen Proteste durch eine Anordnung der Regierung, die seit fast einem Monat geschlossenen Schulen im Südirak wieder zu öffnen. In vielen Orten wurde dieser Anordnung aber nicht Folge geleistet. In Nasirija blieben zudem Verwaltungsgebäude geschlossen, weil Demonstranten die Eingänge blockierten…“ – aus der Meldung „Mehrere Tote bei Protesten“ am 24. November 2019 bei tagesschau.de über das neuerliche Blutbad, mit dem es dem von den USA eingerichteten Regime erneut nicht gelang, die Proteste zu unterdrücken – so wenig, wie es den mit den iranischen „Revolutions“-Garden verbündeten Milizen gelingt… Siehe dazu auch eine Reportage aus Bagdad, einen ausführlichen Hintergrundartikel linker Analyse der Entwicklung, eine Meldung, die das Aufbrechen bisheriger Trennungen aktuell deutlich macht und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zum Irak:
- „Irak: Ein Land erschafft sich neu“ von Ansar Jasim und Schluwa Sama am 22. November 2019 beid er Rosa Luxemburg Stiftung ist eine Reportage aus Bagdad über die aktuellen Entwicklungen im Irak, worin unter anderem hervorgehoben wird: „… Auf dem Befreiungsplatz stehen etliche Zelte von Protestierenden: keine Parteien, sondern spontane Nachbarschaftszusammenschlüsse, linke Aktivist*innengruppen, Stadtvertretungen, Gewerkschaften von Lehrer*innen, Ärzt*innen und Anwält*innen sind zentrale Orte der Selbstorganisation: Hier gibt es medizinische Utensilien, Helme, Wasser, hier wird für alle gemeinsam gekocht und diskutiert oder es werden Nachrichten über das ausschließlich lokal sendende Radio verbreitet. Teilweise gibt es Familienzelte im Park hinter dem Monument. Es gibt mehrere Ausstellungen, mal von einem Comic-Künstler, dann wieder von einer Moschee – Moscheen sind auf dem Platz allerdings kaum präsent. Vom Park kommt man zu einer Unterführung. Hier, wo die Läden seit Jahren geschlossen und vermüllt sind, haben Aktivist*innen Wasser- und Stromleitungen angebracht, alle Verschläge sind mit politischer Kunst bemalt. Dort treffen wir mehrere Leute, die nicht aus Bagdad, sondern aus anderen Gouvernements kommen und sich den Protestierenden solidarisch angeschlossen haben. Es sind aber oft Menschen, die nichts haben und vom Takatuf des Platzes leben: Solidarität auf Augenhöhe – Schulter an Schulter. Das türkische Restaurant gegenüber vom Freiheits-Monument ist nach seiner Bombardierung von 2003 stillgelegt, wird uns erzählt. Es liegt neben einer der drei besetzten Brücken, der al-Jumhuriyah-Brücke, die direkt auf die Greenzone führt. Die Besetzung dieses türkischen Restaurants ist symbolhaft für die gescheiterte Politik seit 2003, für die Korruption und für die politische Klasse, die sich in der Greenzone versteckt – so das Verständnis der Protestierenden, welches Iqbal als neues «Massenverständnis» (wa´i jamahiri) beschreibt. Zunächst hatten sich dort bei den Protesten Anfang Oktober Scharfschützen verschanzt, die auf die Protestierenden schossen. Das Gebäude wurde besetzt, um zu verhindern, dass sich dort Militär oder Milizen festsetzen. Die Besetzung verkörpert die Protestbewegung: das Gebäude wurde entmüllt, es wurden Strom und Internet verlegt, von außen säumen das Gebäude politische Slogans, die Forderungen der Protestierenden und eine Aufforderung an die UN endlich einzugreifen. Auf allen Etagen gibt es Schlafplätze, für die Sicherheit der Protestierenden sorgen auf jeder Ebene teilweise auch sehr junge Protestierende, die einen auf alle Regeln hinweisen, die sie bisher ausgehandelt haben. Toiletten werden derzeit gebaut, solange hängen überall Schilder, die das öffentliche Urinieren unterbinden sollen. Es gibt Schutz- und Putzschichten, um eine permanente Präsenz im Gebäude zu garantieren. Für die Aktivist*innen geht es aber nicht nur darum. Das Gebäude ist für sie der «Wiederaufbau des Heimatlandes». Der Ort sei für die meisten Iraker*innen symbolisch geworden für die Bewegung…“
- „Irak: Die Tuk-Tuk-Revolte“ in der Wildcat 104 (Winter 2019/2020) zur Vorgeschichte der aufstandsartigen Protestbewegung unter anderem: „… Im Sommer 2010, bei Temperaturen von fast 50 Grad, gab es Massenproteste gegen den Strommangel. Dieser geht auf die systematische Bombardierung des Stromnetzes 2003 zurück, das trotz teurer Verträge mit ausländischen Firmen (unter der Regie der USA) nur unzureichend wieder aufgebaut wurde. Seither gab es in jedem Sommer größere Proteste, 2015 griffen sie erstmals massiv die Korruption und die politischen Parteien an. Die Slogans waren: »Das Parlament und der Islamische Staat sind zwei Seiten derselben Medaille«‚ »Der IS wurde durch eure Korruption geboren«, »Die Diebe haben uns im Namen der Religion bestohlen«, »Nein zum Konfessionalismus, Nein zum Nationalismus, Ja zur Menschlichkeit!« (…) Allerdings fanden diese Demos immer nur nach dem Freitagsgebet statt. 2018 gab es überall im Irak Sit-Ins von ArbeiterInnen in Kraftwerken, weil die Regierung 100 GewerkschafterInnen in Kraftwerken wegen ihrer Teilnahme an Protesten entlassen hatte. Neben deren Wiedereinstellung forderten die ArbeiterInnen auch einen monatlichen Mindestlohn von 300 Dollar. Im September 2018 wuchsen sich Proteste in Basra zu Riots aus, die sich direkt gegen den Staat und seine Institutionen richteten. Vorher hatte der Gouverneur versucht, Proteste gegen Stromengpässe (der Iran hatte Stromlieferungen wegen unbezahlter Rechnungen eingestellt) und vergiftetes Wasser (sauberes Wasser wurde knapp, weil die Türkei einen neuen Staudamm eingeweiht hat) mit leeren Versprechen und Repression zu beenden. Die Entfremdung großer Teile der Bevölkerung vom politischen System drückte sich bei den Wahlen im Mai 2018 aus: Bei den »ersten freien Wahlen nach dem Fall des IS« lag die Wahlbeteiligung bei einem Rekordtief von 45 Prozent (bei den Wahlen davor hatte sie bei 60 Prozent gelegen) und der »Wahlsieger«, ein Bündnis des schiitischen Predigers al-Sadr mit der Kommunistischen Partei, bekam offiziell nur 14,3 Prozent der Stimmen, wenn man auch Nichtwähler mit einrechnet, sind es gerade mal 7,3 Prozent. Im als Hochburg al-Sadrs geltenden Bagdader Stadtteil Sadr City sind es offiziell 23 Prozent, mit Nichtwählern wegen der geringen Wahlbeteiligung nur 7,6 Prozent. Das besondere an den Bewegungen der letzten Jahre ist, dass sie von jungen Schiiten dominiert sind, die die Zeit unter Saddam nicht mehr erlebt haben. Ihnen bedeutet es nichts, eine schiitisch dominierte Regierung zu haben – sie wollen besser leben. Jugendliche sind besonders stark von der Arbeits- und Obdachlosigkeit getroffen (die Jugendarbeitslosigkeit im Irak liegt bei etwa 25 Prozent) und sie wollen die Bereicherung der Eliten bei gleichzeitiger Verschlechterung der Infrastruktur nicht mehr ertragen. Wie viele andere Irakis wollen sie endlich auch etwas von den Ölgewinnen abbekommen und lassen sich nicht mehr von den Predigten der Imame einlullen. Aus dieser Dynamik kommt die Wucht, mit der sich die Bewegung gegen die gesamten Eliten und die eingefahrenen ethnisch-religiösen Formeln wendet, nach denen die Macht aufgeteilt wird. Dabei geht es immer auch um den »tiefen Staat« und seine weitverzweigten Verflechtungen. Es ist klar, dass man so ein System nicht mit Wahlen verändern kann…“
- „’Traitors': Iraqi protesters slam tribal leaders for meeting PM“ von Arwa Ibrahim am 22. November 2019 bei Al Jazeera berichtet von der massiven Kritik an sogenannten „Stammesführern“, die sich mit der Regierung getroffen haben: Ein Hinweis sowohl darauf, wie das Regime – neben der Repression – versucht, sich eine politische Basis für die Machterhaltung zu sichern, als auch abermals darauf, wie der soziale Protest bisherige politische und gesellschaftliche „Einordnungen“ im Irak überwindet.
- Zu den Massenprotesten im Irak und ihrer Bedeutung zuletzt: „Vom Tahrir-Platz in Bagdad zu den Ölfeldern von Basra: Alles, was der Irak bisher nicht ist: Ohne religiöse Trennlinien, solidarisch, demokratisch…“ am 13. November 2019 im LabourNet Germany
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen