Mittwoch, 19. Februar 2020

Polizeigewalt in Frankreich: Kann so langsam nicht mehr totgeschwiegen werden


Foto von Bernard Schmid von den Protesten gegen die Pariser Polizei am Sonntag, den 2. April 17 in Paris - wir danken!„… Die heutige französische Polizei ist von der Brutalität ihrer eigenen Geschichte geprägt. Viele ihrer Überwachungs- und Repressionsmethoden fanden ihren Weg in die französische Heimat über das Repertoire der Kräfte, die für die „indigenen Nordafrikaner“ in den ehemaligen französischen Kolonien zuständig waren. In der gesamten Kolonialzeit haben Polizeibeamte und -angestellte ihre Erfahrungen z.B. aus Algerien mit nachhause genommen und sie bei der Polizeiarbeit in Arbeitervierteln und der Niederschlagung von Aufständen auf dem französischen Kernland genutzt. Die Ermittlungs-, Festnahme- und Würgetechniken, die kürzlich Adama Traoré oder eben Chouviat getötet haben, oder auch die Anwendung von sexueller Gewalt zur Demütigung – wie im Fall von Théo Luhaka im Jahr 2017 – sind konsequentes Ergebnis dieser langen unaufgearbeiteten Geschichte. Mit der Geschichte der Polizeigewalt gehen jedoch zugleich die Bemühungen einher, die Übergriffe einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen. In den frühen 1970er Jahren begannen Organisationen wie die arabische Arbeiterbewegung damit, „rassistische Polizeiverbrechen“ zu kritisieren. Sie reagierten damit auf Versuche der Polizei, die Opfer zu kriminalisieren, indem sie die getöteten Personen in den Medien als „Wiederholungstäter“ oder „Drogenabhängige“ diffamierte, die für die erlittene Gewalt selbst verantwortlich sind. Dort wurde das brutale, rassistische Verhalten der französischen Polizei so gut wie nie als solches dargestellt. Begriffe wie „Irrtum“ oder „Fehler“ werden noch heute häufig für Zusammenstöße mit der Polizei verwendet, die tödlich enden. Seit Anfang der 2000er Jahre bieten jedoch neue Arten unabhängiger Medien den Familien und Anhängern der Opfer eine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen…“ – aus dem Beitrag „Niemand kann mehr wegschauen“ von Mathieu Rigouste am 14. Februar 2020 im Freitag externer Link (Ausgabe 7/2020) – ursprünglich im britischen Guardian, hier in deutscher Übersetzung (von Jan Jasper Kosok). Siehe dazu auch einen weiteren aktuellen Beitrag und unseren letzten dazu:
  • „Hand ab, Auge raus“ von B. Schmid am 06. Februar 2020 in der jungle world externer Link zu einer Art Zwischenbilanz der extrem Polizeigewalt gegen jeglichen Protest in Frankreich: „… Neue Vorfälle ließen die Polemik in den vergangenen Wochen wieder auf­leben. Bei den Protesten gegen die Rentenreform am 9. Januar etwa hatten Polizisten eine Demonstrantin, die in der Nähe des Polizeispaliers ihr Handy vom Boden aufheben wollte, geschlagen; sie gehört der als moderat geltenden Gewerkschaft UNSA bei der Bahngesellschaft RATP an. Ein Video von diesem Vorfall gingen durch die Medien. Um auf die aufflammende Debatte zu reagieren, kündigte Innenminister Castaner am 27. Januar an, er werde die umstrittene Polizeigranate GLIF4 aus dem Verkehr ziehen. Diese enthält den Strengstoff TNT, beim Aufplatzen verströmt sie Tränengas und entfaltet eine Blendschockwirkung. Bei den Protesten der Gelben Westen war fünf Demonstranten eine Hand abgerissen worden, das ging teils auf den Einsatz der GLIF4 zurück. Als im Jahr 2014 ein Lohnabhängiger der Fabrik Alsetex, wo die Geschosse hergestellt wurden, bei einem Arbeitsunfall zu Tode kam, wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Im selben Jahr kam ein Untersuchungsbericht der Dienstinspektion IGPN zu dem Ergebnis, es könne ein Tötungsrisiko bestehen, wenn diese Granate auf Höhe des Oberkörpers explodiere. 2017 hatte die Regierung ihren Entschluss verkündet, die Herstellung der GLIF4 endgültig einzustellen. ­Allerdings sollten die vorhandenen Bestände noch genutzt werden, bis diese aufgebraucht seien, »bis zum Zeithorizont 2020 bis 2022« – der nun erreicht sein dürfte. Aber die GLIF4 wird umgehend durch eine andere Granate, die GM2L, ersetzt; die enthält zwar kein TNT, hat aber eine vergleichbare Sprengkraft…“
  • Frankreich: Das “lästige” Recht auf Filmen von Polizeigewalt. Innenminister Castaner soll auf Druck von Polizeigewerkschaften Änderungen planen. Die Videos sind Beweismaterial, das die Regierung in die Klemme bringtDie Polizeigewalt in Frankreich ist für die Regierung ein unangenehmes Thema, da Gelbwesten-Demonstrationen regelmäßig neues Filmmaterial liefern, die Polizisten beim Zuhauen zeigen. So auch am vergangenen Wochenende, beim “Acte 66”, der mittlerweile 66. Samstags-Demonstration der Gilet jaunes. Ein 2-minütiger Videoclip setzt mit einem Polizisten ein, der mit erhobenem Schlagstock aus einer Gruppe von Polizisten heraus auf einen Mann, ohne Gelbweste, mit einem Tuch über dem Mund, zuläuft und auf ihn einschlägt. Nach kürzester Zeit stürmen mehrere Polizisten mit Stöcken auf den Mann zu, schlagen ihn und ringen ihn auf den Boden, wo er von Polizisten festgehalten wird und ihm obendrein Fußtritte sowie weitere Schläge mit Stöcken verpasst werden. Schließlich sitzen mehrere Polizisten auf dem Mann, dessen Kopf Richtung Pflaster gestoßen wird. Veröffentlicht externer Link wird der Clip auf der Twitterseite des Journalisten David Dufresne. Rechts oben steht die Zahl “881” und die Anrede “Hallo @Place Beauvau”. Die Adresse meint das Innenministerium externer Link, die Zahl gibt die laufende Nummer der “Störungsmeldung” (franz. “signalement”) an. David Dufresne hat es sich seit November 2018 zur Aufgabe gemacht, die Polizeigewalt zu dokumentieren. In seiner Dokumentation “Allô Place Beauvau?” externer Link finden sich harte Bilder von Verletzungen. Bis zum heutigen Tag listet er zwei Tote auf, 325 Kopfverletzungen, 25 Verluste von Augenlicht, 5 schwerste Handverletzungen (“arrachées”, auf Deutsch: “abgerissen”). (…)“Castaner will die Videos, die Polizeigewalt zeigen, stärker kontrollieren”, heißt es in einem aktuellen Bericht externer Link. Der ist zwar genau und plausibel, was die Quelle des Planes von Castaner betrifft, nämlich dass dies auf Bestreben bestimmter Polizeigewerkschaften erfolgen soll, aber er bleibt ziemlich vage, wenn es darum geht, was das Innenministerium konkret an neuen Regeln einführen will. Denn anders als in Deutschland, wo die Rechtslage zum Filmen von Polizeieinsätzen uneindeutig ist, gibt es in Frankreich seit 2008 ein Gesetz externer Link, dass diese Aufnahmen im öffentlichen Raum erlaubt wie auch ihre Verbreitung, solange dies dem Ziel der Information dient und keine Beleidigung damit einhergeht; ausgenommen sind Spezialeinsätze, etwa Antiterroreinsätze oder Einsätze gegen organisierte Kriminalität. Als einzig konkrete Maßnahme, die von den Erwägungen des Innenministers bekannt wird, erwähnt Médiapart das Unkenntlichmachen der Gesichter der beteiligten Polizisten, die, wie man an den hier verlinkten Videos aber sehen kann, meist ohnehin durch Helm und Tücher unkenntlich sind. In der Praxis zeige sich, dass Polizisten mit anderen Mitteln gegen Aufnahmen vorgehen, so das Magazin: Indem man den Filmern das Smartphone aus den Händen schlägt oder mit anderen Methoden entreißt…” Artikel von Thomas Pany vom 17. Februar 2020 bei telepolis externer Link
  • Siehe zuletzt ausdrücklich zur Polizeigewalt in Frankreich am 22. Januar 2020: Nach der neuerlichen extremen Gewalt gegen die Gelbwesten wächst in Frankreich die Kritik an der Polizeirepression
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=163018

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