Montag, 18. März 2019

GESUNDHEIT UND KAPITALISMUS Diese Politik macht krank

Wer arm ist, stirbt früher. Redner auf Kongress an der TU Berlin nennen alarmierende Zahlen, wollen aber vor allem verwalten
Von Susanne Knütter
Armut macht krank. Der Befund ist nicht neu. Aktuelle Ergebnisse zu »einkommensbezogenen Unterschieden in der Mortalität und Lebenserwartung« wurden auf dem Kongress »Politik macht Gesundheit« vorgestellt, der am Donnerstag und Freitag vergangener Woche in Berlin stattfand. Er wird jährlich von privaten und öffentlichen Einrichtungen organisiert, wie der Arbeitsgemeinschaft Gesundheitsförderung Berlin-Brandenburg, der Deutschen Gesellschaft für Public Health, dem Gesundheitsökonomischen Zentrum Berlin, dem Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre und der Technischen Universität Berlin.
Die empirischen Befunde sprechen für sich: Auf der Grundlage von Daten des sozioökonomischen Panels kamen Forscher des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu dem Ergebnis, dass mehr als jeder vierte Mann und mehr als jede zehnte Frau mit niedrigem Einkommen (27 bzw. 13 Prozent) vor dem 65. Lebensjahr sterben, aber nur 14 Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen mit hohem Einkommen. Die mittlere Lebenserwartung bei Geburt von Männern und Frauen mit niedrigem Einkommen liegt demnach 8,6 bzw. 4,4 Jahre unter der von Männern und Frauen mit hohem Einkommen. Und es gibt einen Trend: Die einkommensbezogenen Unterschiede in der Lebenserwartung sind über die letzten 25 Jahre weitgehend unverändert geblieben, zum Teil haben sie sich sogar weiter ausgeprägt.

Kinder betroffen

Der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes Rolf Rosenbrock machte während der Pressekonferenz am Donnerstag darauf aufmerksam, dass mehr als zwei Millionen Kinder in Deutschland als Mitglied von Bedarfsgemeinschaften Leistungen aus der »Grundsicherung für Arbeitssuchende« (»Hartz IV«) erhalten. Mit diesen Mitteln bleiben sie »im Bereich der Armut«. Er sprach sich für einen intersektoriellen Ansatz nach der Devise »Health in All Policies« (Gesundheit in allen Politikbereichen) aus, weil dabei auch nach den Gründen von »sozial bedingten Ungleichheiten bei Gesundheitschancen« gefragt werde.
Der Gesundheitssoziologe Thomas Gerlinger machte in seinem Einführungsvortrag darauf aufmerksam, dass die Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Armut und Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verstärkt und nicht reduziert habe. Als Beispiele nannte er die Absenkung des Rentenniveaus, die Privatisierung der Altersvorsorge, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, niedrige Löhne und einen unzureichenden gesetzlichen Mindestlohn bei gleichzeitiger Senkung der Spitzensteuersätze. Hinzu komme ein System der Krankenversicherung, das traditionell auf Kompensation und nicht auf Prävention ausgelegt sei. Im wesentlichen gehe es bei der Gesundheitspolitik um die Erschließung von Produktivitätspotentialen, indem etwa der Anstieg der Kosten für Behandlung und Pflege begrenzt oder Frühverrentung vermieden werde.
Der Kongress an der TU Berlin interessierte sich allerdings nicht für die Beseitigung des »Krankheitserregers« Armut, sondern für dessen Verwaltung. Und manchmal entstand sogar der Eindruck, als sei auch hier einmal mehr der oder die Arme und nicht die Armut das Problem. »Wer um die wirtschaftliche Existenz kämpft«, so der Schirmherr der Veranstaltung, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in seinem Grußwort, »widmet der Gesundheit oft nicht die Aufmerksamkeit, die sie bräuchte. Deshalb müssen wir noch mehr diejenigen erreichen, bei denen das Bewusstsein für den eigenen Beitrag zur Gesundheit bisher wenig ausgeprägt ist oder deren Lebensumstände nicht gesundheitsförderlich sind.«

Individuell vorsorgen

Arme Menschen wissen also offenbar nicht, dass es wichtig ist, sich um das eigene physische und psychische Wohl zu kümmern. Thomas Lampert (RKI) sprach während der Pressekonferenz von einem »Präventionsdilemma«. Das heißt, die größte »Risikogruppe« werde mit den vielen schönen gesundheitsfördernden Angeboten nicht erreicht. Was jahrelang versucht wurde, aber nicht wirke, seien zum Beispiel verhaltensorientierte Ansätze. Strategien, die auf ein »gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen« abzielen, könnten »nicht auf die Änderung individueller Verhaltensweisen beschränkt bleiben«, erklärte Susanne Borkowski, Forscherin im Bereich Kindliche Entwicklung und Gesundheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Wie erwerbslose Menschen von den Programmen zur Gesundheitsförderung erreicht werden können, soll das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und den Krankenkassen geförderte Modellprojekt »Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung in der kommunalen Lebenswelt« herausfinden. Die Jobcenter Nürnberg und Erlangen, die sich seit 2017 daran beteiligen, stellten auf dem Kongress die einschlägigen »Fortschritte« vor. In Nürnberg erhielten Teilnehmer eines sechsteiligen Workshops, der in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt veranstaltet wurde, die Möglichkeit, »verschiedene Angebote in den Bereichen Entspannung, Bewegung und Ernährung« auszuprobieren. In Erlangen sollen demnächst Langzeitarbeitslose als »Mittler« eine Verbindung zwischen Hilfesuchenden und den »Gesundheitsangeboten« herstellen. Die Frage, wie ein gesundes Leben auf Grundlage eines Hartz-IV-Regelsatzes von 424 Euro gelingen könne, wurde zwar auch kurz – und ausgerechnet von einem Vertreter der Krankenkassen – aufgeworfen, aber nicht beantwortet.

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