Montag, 25. März 2019

Europa – raus aus der binären Logik (Peter Wahl)


Europa und EU sind höchst kontroverse Themen, wie der jüngste Parteitag der Linkspartei wieder gezeigt hat. Neu ist das nicht. Schon vor 100 Jahren hat die Linke heftig darüber gestritten. So schreibt Rosa Luxemburg 1911 gegen die Parole von den Vereinigten Staaten von Europa: »Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.«

Die Kontroversen schlagen auch auf die Wahl zum EU-Parlament (EP) durch. Gab es beim letzten Mal noch eine gemeinsame Liste mit Alexis Tsipras an der Spitze, werden jetzt zwei linke Plattformen – in manchen Ländern sogar drei – kandidieren. Nimmt man die Resultate nationaler Wahlen als Kriterium, ist als stärkste Kraft Maintenant le Peuple (»Jetzt das Volk«) am Start, ein Bündnis aus PODEMOS, La France Insoumise, dem portugiesischen Bloque d’Esquerda, sowie den schwedischen, dänischen und finnischen Linken – alle mit Aussichten auf Sitze im EP. In Deutschland ist das Projekt nicht vertreten. Hier geht die Linkspartei ins Rennen. Partner sind SYRIZA, die Portugiesische Kommunistische Partei, die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens sowie diverse kommunistische und sozialistische Kleinparteien – letztere ohne Aussicht auf einen Sitz. Außerdem kandidiert Yanis Varoufakis mit seiner Liste »Europäischer Frühling«. Die niedrige Sperrklausel macht’s möglich.

Was sind die wesentlichen Unterschiede? Die deutsche Linkspartei setzt auf die traditionelle Parole »Mehr Europa, aber anders!« Bei Maintenant le Peuple ist dagegen vom Bruch der Verträge die Rede. Dahinter steckt die sogenannte Plan-B-Strategie Mélenchons. Demnach wird – falls man die Regierung stellt – in einem Plan A versucht, durch Verhandlungen neoliberale Regeln außer Kraft zu setzen, zum Beispiel den Stabilitätspakt und die Austeritätspolitik. Sollte das nicht funktionieren, kommt Plan B zum Zuge, das heißt der unilaterale Bruch mit den Verträgen.

Um dabei die Kompromissbereitschaft der anderen, vor allem der Deutschen, zu fördern, soll von vornherein verdeutlicht werden, was man in Anlehnung an Brecht so formulieren könnte: »In Erwägung, ihr hört nur auf Druck, and’re Sprache könnt ihr nicht versteh’n, werden wir dann eben den Druck auf euch erhöh’n.« Griechenland hatte seinerzeit nicht dieses Druckpotential. Bei Frankreich oder einer Allianz von zwei, drei Mitgliedsländern sähe das anders aus.

Die Idee ist zwar innovativ, aber es sieht nicht so aus, als ob eine Plan-B-Partei in absehbarer Zeit an die Regierung käme. Für das Mehr-Europa-Lager gilt das erst recht. Mangels Macht und Einfluss funktioniert seine Strategie schon seit 30 Jahren nicht.


Flexible und differentielle Kooperation
Das wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, aus der binären Logik proeuropäisch versus antieuropäisch auszusteigen und nach einer autonomen Strategie zu suchen, die weder im Kielwasser des europäistischen Mainstream dümpelt, noch nationalistisch vereinnahmt werden kann.

Ansätze dazu werden unter dem Stichwort flexible und differentielle Integration schon seit längerem diskutiert. Hinter dem Wortungetüm verbirgt sich ein Dreierpack von miteinander verbundenen Komponenten: ein Mix aus selektiver Integration und selektiver Desintegration; eine variable Geometrie der Zusammenarbeit sowie eine stärkere Öffnung nach außen.

Dabei geht es nicht um einen fertigen Plan, sondern darum, einen Denkraum zu öffnen, um aus der blockierten Debatte herauszukommen. Die erste Komponente bedeutet auf bestimmten Politikfeldern »weniger Europa«, das heißt Rückbau der Integration, auf anderen »mehr Europa«. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Fritz W. Scharpf, hat zum Beispiel vorgeschlagen, die sogenannten vier Grundfreiheiten, also den harten Kern der EU, vom Status des Primärrechts auf den des Sekundärrechts herabzustufen. Das würde mehr Spielräume, mehr Subsidiarität für Mitgliedsländer, ermöglichen. Auch beim Währungsregime gibt es mehrere Vorschläge für »weniger Europa«. Umgekehrt könnte auf anderen Gebieten die Integration vertieft werden. Interessant wären hier der ökologische Umbau, vor allem die Energie- und Verkehrspolitikpolitik, oder die Steuerpolitik.

Selbstverständlich werden nicht alle Mitgliedsstaaten bei allem mitmachen. Hier greift dann die variable Geometrie, vulgo: Koalitionen der Willigen. Wer bei ehrgeizigen Klimazielen und/oder der Energieversorgung kooperieren will, kann das tun. Umgekehrt können jene, die nicht mitmachen wollen, die anderen nicht mehr blockieren. Einigkeit nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner führt dann nicht mehr zu Handlungsunfähigkeit.

Im Ansatz ist das schon mit den bestehenden Regeln möglich, nämlich im Verfahren der »Verstärkten Zusammenarbeit«. Demnach kann eine Gruppe aus mindestens neun Mitgliedsstaaten, die zugleich für mindestens 60 Prozent der EU-Bevölkerung stehen und von 75 Prozent der Stimmen im Rat grünes Licht bekommen, Projekte allein durchführen. Das Verfahren ist noch zu restriktiv und kompliziert, aber der Grundgedanke geht in die richtige Richtung.

Das dritte Element, stärkere Öffnung nach außen, bedeutet Kooperation mit Nachbarregionen, also mit Nordafrika, der Türkei, dem Westbalkan, Osteuropa und Russland. Allerdings nicht in der starren Form der bisherigen Assoziierungsverträge, deren problematischen Effekte man am Vertrag mit der Ukraine studieren kann, sondern maßgeschneidert.

Die Vorteile dieses Ansatzes liegen auf der Hand: Er setzt auf internationale Zusammenarbeit, nicht auf Nationalismus. Indem er das ohnehin unrealistische Ziel eines supranationalen Großstaates aufgibt, kann er einem disruptiven und konfrontativen Auseinanderfallen der EU vorbeugen. Und er verleiht der Linken ein eigenständiges europapolitisches Profil.


Abschied von den Vereinigten Staaten von Europa
All das bedeutet, sich von der »immer engeren Union der europäischen Völker«, wie es in der Präambel der Verträge heißt, von den »Vereinigten Staaten von Europa – USE« zu verabschieden. Das sollte der Linken eigentlich nicht schwerfallen. Vereinigte Staaten gibt es ja bereits – in Nordamerika. Dass die Welt nach 500 Jahren Kolonialismus und Imperialismus nicht noch auf eine zweite Ausgabe Vereinigter Staaten scharf ist, müsste von einem internationalistischen Standpunkt einleuchten.

Auch wären die USE keineswegs die Überwindung des Nationalismus. Im Gegenteil. Wenn schon jetzt der deutsche Außenminister meint, wir brauchten einen »neuen europäischen Patriotismus«, dann ist das Nationalismus im Quadrat. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini glaubt gar, »unsere Softpower ist die beste der Welt«. Bevor es das Wort Softpower gab, aber die Sache selbst durchaus, hieß das bei Hoffmann von Fallersleben »deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten ihren alten schönen Klang«. Früher ging es darum, den Heiden in Afrika, Asien und Lateinamerika das Christentum zu bringen. Später wurde daraus die »zivilisatorische Mission« des weißen Mannes, the white man’s burden à la Rudyard Kipling. Jetzt soll am EU-Wesen die Welt genesen. Das hat mit linker Politik nichts zu tun. Vielmehr wäre an die Ursprünge der europäischen Idee anzuknüpfen. Sie entstand im 17. Jahrhundert aus der Erfahrung der vielen Kriege. Victor Hugo formulierte 1849 beim Pariser Friedenskongress: »Der Tag wird kommen, an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd scheinen und unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich sein und absurd scheinen würde.«

Die EU schließt Petersburg aus ihrem Teil-Europa aus. Stattdessen wird emsig am Feindbild vom Fürsten der Finsternis im Kreml gestrickt und die Militarisierung der EU vorangetrieben. In Zeiten dramatischer Umbrüche der Weltordnung, eines gordischen Knotens aus Krisen und Konflikten, muss das ganze Europa Zone des Friedens und der Kooperation werden. Alles andere ist eine Karikatur der europäischen Idee.

Peter Wahl ist Vorstandsmitglied der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED) und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.

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