Sonntag, 16. Februar 2020

Irland nach der Wahl: Sinn Féin erstarkt vor dem Hintergrund großer Nöte und deutlich anwachsender sozialer Kämpfe


Erneut Zehntausende in irischen Städten gegen Wasserprivatisierung„… Irland wird weiter seinen – immer wichtigeren – Platz in der EU einnehmen, Ausguck gen Brexitland sein, es wird seine nicht geringen infrastrukturellen und sozio-ökonomischen Probleme angehen müssen. Es wird da anecken, dort sich durchmogeln – das ist halt politischer Alltag im Europa des 21. Jahrhunderts. Aber was da am Samstag in den Wahlkabinen zwischen Donegal und Cork, Dublin und Galway geschah, hat das Zeug zum politisch-philosophischen Erdbeben bis an Europas Grenzen – vielleicht sogar bis London. Eine Partei, die mal als ziviles Feigenblatt der IRA-Terroristen (dies im übrigen ein arg überstrapaziertes Polit-Klischee) verschrien war, wandelt sich zum Reformverein, der die im Neoliberalismus unter die Räder Gekommenen oder Vergessenen sammelt, ernst nimmt, ihre Nöte zum Programm macht. Der zeigt, dass demokratische Politik soziale Verantwortung bedeutet. Nicht ist zeitgemäßer als das. Sinn Féin ist die Partei, die aus der Kälte kam…“ – aus dem Kommentar „Der Erfolg der Sinn Féin könnte zum Vorbild für Europa werden“ von Peter Rutkowski am 10. Februar 2020 in der FR online externer Link über die Kernkompetenz der heutigen Sinn Féin: Den Kampf gegen die extremsten Übel, die der Neoliberalismus in Irland angerichtet hat. Das ausgelagerte Jobwunder bietet keine Infrastruktur – und keine Wohnung. Siehe zu Hintergründen und Bedeutung dieses Wahlergebnisses zwei weitere Stellungnahmen und fünf kurze Beiträge, die verschiedene Aspekte der bestehenden sozialen Probleme vieler Menschen in Irland skizzieren:
„Historischer Linksruck“ von Uschi Grandel am 10. Februar 2020 in der jungen welt externer Link hebt hervor: „… Die Vorherrschaft der beiden großen konservativen Parteien in der Republik Irland, dem politischen »Süden« der Insel, ist damit durchbrochen. Dabei hatten rechte Medien im Vorfeld der Wahl versucht, dies durch eine Schlammschlacht zu verhindern. Als sich in den Umfragen bereits ein Erfolg von SF abzeichnete, bestand der staatliche Fernsehsender RTÉ trotzdem auf einem exklusiven Fernsehduell der Parteichefs von Fine Gael und Fianna Fáil. Erst die Empörung in der Bevölkerung verhalf der Präsidentin von Sinn Féin, Mary Lou McDonald, zur Teilnahme an der Sendung. Im Wahlkreis Dublin Central erreichte sie mit 36,65 Prozent der Stimmen ein Spitzenergebnis.Historisch ist der Sieg jedoch nicht nur deshalb, weil eine linke Partei ein gutes Ergebnis erzielt hat. Historisch ist das Ergebnis, weil mit Sinn Féin nun eine Kraft stark geworden ist, die sich dem irischen Freiheitskampf verpflichtet fühlt und die in ihrer langfristigen Strategie nicht nur ein vereinigtes Irland anstrebt, sondern eine neue Gesellschaft, eine irische Republik, die »Menschen und nicht Wirtschaftsinteressen« in den Mittelpunkt stellt, wie es McDonald in ihrer Neujahrsansprache formuliert hatte. Das neue Gewicht der gesamtirischen Partei im Süden hat das Potential, Irland zu verändern. Denn Sinn Féin sieht das Parlament und auch eine Regierungsbeteiligung nicht als das, sondern nur als ein Mittel, Veränderung zu bewirken. Die Partei ist bekannt für ihre Kampagnenfähigkeit und kämpft im Bündnis mit anderen linken Kräften und Gewerkschaften auf der Straße für Menschen- und Bürgerrechte. Massenproteste der letzten Jahre erzwangen im Süden einige Gesetzesänderungen. Beispiele sind das Recht auf Abtreibung, Gleich­berechtigung der LGBT-Community oder auch die Verhinderung der Privatisierung der Wasserversorgung…“
„Sinn Féin auf der Überholspur“ von Katharina Millar am 06. Februar 2020 in neues deutschland online externer Link hob noch vor dem Wahltag zur republikanischen Positionierung hervor: „… Trotzdem sah es bis Anfang dieser Woche nach dem üblichen Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Hauptparteien aus, Fine Gael (im Europaparlament mit der Fraktion der Europäischen Volkspartei verbunden) und Micheál Martins Fianna Fáil (im Europaparlament mit Renew Europe alliiert). Beide regieren das Land abwechselnd seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, seit den vergangenen Wahlen 2016 hat Fianna Fáil als größte Oppositionspartei Fine Gael mit einem Abkommen über Vertrauensfragen und Haushaltsabstimmungen unterstützt. Beide Parteien waren in den Aufstieg und Fall des keltischen Tigers und die Bankenkrise verstrickt, beide Kandidaten amtierten innerhalb der vergangenen 20 Jahren als Gesundheitsminister. Den Umfragewerten nach will nun allerdings ein guter Teil der Bevölkerung den üblichen Wahlversprechen von Wandel und stabiler Zukunft keinen rechten Glauben mehr schenken und setzt auf eine Partei, die im Süden der irischen Insel parlamentarisch bisher eine eher kleine Rolle spielte – die republikanische Sinn Féin. Die Partei stieg in Umfragen von bisherigen 13 auf 25 Prozent und liegt damit noch vor den zuvor vorausgesagten Wahlsiegern Fianna Fáil. (…) Mit der Wiedereinberufung des nordirischen Parlaments in Stormont Anfang dieses Jahres bildet Sinn Féin auf Grundlage des Karfreitagsabkommens die Hälfte der Regierung im Norden. Ein Erfolg im Süden brächte den republikanischen Wunsch nach Wiedervereinigung des Landes natürlich wieder in den Fokus – nach Aussage von McDonald allerdings erst einmal keine rote Linie für eventuell anstehende Koalitionsverhandlungen...“
„Armut in der Steueroase“ von Ralf Sotscheck am 07. Februar 2020 in der taz online externer Link zu einem wichtigen Aspekt der sozialen Situation: „… Nach ihrem Abschluss 2009 arbeitete sie vier Jahre bei der Simon Community, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich um Obdachlose kümmert. Später arbeitete sie in London in einem Zentrum für Drogensüchtige. Nach ihrer Rückkehr nach Dublin war sie anderthalb Jahre lang bei Vincent de Paul tätig, der größten Wohlfahrtsorganisation Irlands, bis sie als klinische Oberschwester zur Organisation Safetynet stieß. Safetynet wurde 2007 gegründet, um sich um die Gesundheit von Obdachlosen zu kümmern. Die Organisation wird zum Teil vom staatlichen Gesundheitsdienst finanziert. Das restliche Geld stammt von Lottogeldern und Spenden. (…) Neun Familien teilen sich eine Küche mit einem Herd und einem Gefrierschrank, der aber nur drei Fächer hat. „Die Lebensmittel werden öfter geklaut, und manchmal lässt jemand die Tür des Gefrierschranks offen, sodass die Ware verdirbt“, sagt O’Connor. „Deshalb gibt es jetzt Kameras zur Überwachung.“ Lambes Freund darf nicht bei ihr übernachten. Besuch ist nur von 8 bis 20 Uhr erlaubt, und man muss die Besucher wie bei einer Behörde in eine Liste an der Rezeption ein- und austragen. „Es ist manchmal wie in einem Gefängnis. Die Aufseher klopfen um 10 Uhr an die Tür, um zu kontrollieren, ob noch Besuch da ist“, sagt sie. „Die Kinder wachen davon auf. Man darf nur zwei Nächte im Monat wegbleiben, und man kann sich zwei Wochen im Jahr abmelden.“…“
 „€500 for a bunk bed, anyone? Five of the most outrageous rental adverts on the housing market right now“ von Gabija Gataveckaite am 13. Mai 2019 im Independent online externer Link war einer von – sehr zahlreichen – Beiträgen über Wohnungsprobleme, die in den letzten Jahren immer mächtiger wurden. Anhand von 5 Anzeigen mit Mietangeboten wird hier die Situation ausgesprochen deutlich gemacht. 500 Euro für einen Schlafplatz, beispielsweise – sonst nichts…
„A ban on zero-hours contracts – a victory for Irish unions“ am 06. März 2019 beim britischen Gewerkschaftsbund TUC externer Link meldete damals einen bedeutenden Erfolg der irischen Gewerkschaften, die gerade die Nullstunden-Verträge aus der irischen Arbeitswelt hinaus gekämpft hatten.
„SIPTU rejects Fine Gael claim on cost of demand to stop the increase in pension age“ am 17. Januar 2020 bei der SIPTU externer Link ist eine Pressemitteilung, die sich gegen den Versuch der konservativen Partei wendet, die Erhöhung des Renten-Eintrittsalters doch noch durchzuziehen, obwohl die gesellschaftliche Ablehnung dafür groß ist – und die Gewerkschaft (mit anderen zusammen) vor und nach der Wahl eine Kampagne organisierte und organisiert, diese Erhöhung zu verhindern.
„Q&A: Why are Northern Ireland’s health workers taking industrial action?“ am 02. Dezember 2019 bei der BBC externer Link war eine kurze Annäherung für britische StaatsbürgerInnen zum Verständnis des Streiks im irischen Gesundheitswesen
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=162744

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