Das unmögliche Mandat: Seenotrettung, Embargo, Statebuilding und Terrorbekämpfung
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 27. Juli 2016
Nach den eher vorsichtigen Angaben des Missing Migrants Projects der International Organization for Migration (IOM) sind im Jahr 2014 3.297, 2015 3.673 und 2016 allein bis 21. Juli 2.997 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren, umgekommen. Allein im April 2015 waren es 1.147. Daraufhin entsandte die Bundeswehr zwei Kriegsschiffe zwischen Italien und Libyen ins Mittelmeer, woraufhin die Zahl der Opfer im Mai und Juni 2015 zunächst auf insgesamt 105 fiel. Die Schiffe der Bundeswehr wurden daraufhin in die eilig eingerichtete EU-Marinemission EUNAVFOR MED („Sophia“) eingegliedert. Daraufhin stieg die Zahl der Todesopfer wieder deutlich auf 230 im Juli und 686 im August 2015. Im Mai 2016 – ein knappes Jahr nach dem Beginn der EU-Mission – erreichte die Zahl der Todesopfer in einem einzigen Monat mit 1.138 wieder fast das Rekordhoch vom April des Vorjahres.[1]
Planmäßig besteht die EU-Marinemission aus sieben Schiffen, einem U-Boot, zwei Hubschraubern und vier Seefernaufklärern. Zwar wird dieser Umfang in der Praxis meist nicht erreicht – Mitte Juli 2016 etwa waren „nur“ fünf Schiffe, mehrere Hubschrauber und zwei Aufklärungsflugzeuge beteiligt – trotzdem dürfte die „Aufklärungsdichte“ zwischen Italien und Libyen alleine durch den EU-Einsatz enorm sein und diese Region zu den am besten überwachten weltweit zählen. Hinzu kommt allerdings, dass neben dem EU-Flottenverband noch 15 Schiffe, drei Hubschrauber und vier Flugzeuge im Rahmen der Frontex-Mission Triton, zahlreiche Nichtregierungsorganisationen wie die Ärzte ohne Grenzen und Sea Watch e.V. sowie Schiffe und Flugzeuge unter nationalem Kommando aktiv sind. Außerdem findet ein enger Informationsaustausch zwischen EUNAVFOR MED und der eigentlich zur Terrorbekämpfung im Mittelmeer aktiven NATO-Marinemission Active Endeavour statt. Ende 2013 hatte das Grenzüberwachungssystem Eurosur seinen Betrieb aufgenommen, das für etwa 250 Mio. Euro eine Überwachung der Außengrenzen in Echtzeit in Aussicht stellte und für das bereits zuvor von der EU enorme Summen in Forschungsprojekte für Überwachungstechnologie und Data Fusion verausgabt wurden.[2]
Dass trotz dieses enormen Aufwands an finanziellen Mitteln, Technologie und Personal (allein der deutsche Anteil an EUNAVFOR MED umfasst bis zu 950 Kräfte) immer noch massenweise Menschen ertrinken, lässt nur einen Schluss zu, der sich auch aus den Mandaten der EU-Mission ergibt: Ziel und Hauptaufgabe von EUNAVFOR MED ist – anders als von Bundesregierung und vielen deutschen Abgeordneten gerne dargestellt – nicht die Seenotrettung, sondern die Bekämpfung der Migration oder, wie es im Mandat heißt: die „Unterbindung der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im südlichen und zentralen Mittelmeer“. Das Mandat des Bundestages für die deutsche Beteiligung enthält zwar den Hinweis, dass „die völkerrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung für in Seenot geratene Personen fort[gilt]“,[3] im Mandat auf EU-Ebene fehlt jedoch jede Bezugnahme hierauf.[4] Ein Hinweis, dass die beteiligten Schiffe andere Boote nicht nur „anhalten und durchsuchen, beschlagnahmen und umleiten“ dürfen, sondern ggf. auch Menschen an Bord nehmen könnten, ergibt sich lediglich aus den für diesen Fall vorgesehenen, quasi-polizeilichen Befugnissen: „Die EUNAVFOR MED kann in Einklang mit geltendem Recht zu Personen, die auf an der EUNAVFOR MED beteiligten Schiffen an Bord genommen werden, personenbezogene Daten erheben, wobei sich diese Daten auf Merkmale beziehen, die wahrscheinlich der Identifizierung besagter Personen dienlich sind, einschließlich Fingerabdrücke sowie folgender Angaben unter Ausschluss sonstiger personenbezogener Angaben: Name, Geburtsname, Vornamen, gegebenenfalls Aliasnamen; Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit, Geschlecht; Wohnort, Beruf und Aufenthaltsort; Führerscheine, Identitätsdokumente und Reisepassdaten. Sie kann diese Daten und Daten zu den von diesen Personen benutzten Schiffen und Ausrüstungen an die einschlägigen Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und/oder an die zuständigen Stellen der Union weiterleiten.“[5]
Auch was das eigentliche Mandat, die Bekämpfung mutmaßlicher Schleuser, angeht, kann die Mission eigentlich nur als Misserfolg angesehen werden. Dem von Wikileaks veröffentlichten ersten Halbjahresbericht des Missionskommandanten Enrico Credendino ließ sich bereits Anfang 2016 entnehmen, dass allenfalls eine Verlagerung stattgefunden habe: Während die Migrationen im Einsatzgebiet um 9% gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen seien, hätten 16 Mal mehr Menschen die wesentlich kürzere Route über das östliche Mittelmeer genutzt.[6] Die Schlepper in Libyen haben auf die Präsenz der EU-Schiffe und die Zerstörung der von ihnen benutzten Boote u.a. dadurch reagiert, dass sie statt Holz- zunehmend Gummiboote einsetzen und diese nicht mehr so weit oder gar nicht mehr begleiten, was die Überfahrt natürlich gefährlicher macht. Nachdem die Route im östlichen Mittelmeer ab März 2016 durch den sog. Türkei-Deal und den Einsatz der NATO-Flotte zwischen Türkei und Griechenland wieder geschlossen wurde, erreichte die Zahl der Migrationen – und auch der Toten – zwischen Italien und Libyen neue Höchststände. Allein von April auf Mai 2016 stieg die Zahl der erfolgreichen Migrationen im zentralen Mittelmeer um 25% sodass die Halbjahresbilanz trotz Militäreinsatz etwa auf den Wert des Vorjahres kommt.[7] Frontex stellte gar in Aussicht, dass in den nächsten Monaten mehr Menschen als je zuvor die Überfahrt nach Italien wagen könnten. Die Nachfrage und damit die Preise für die Schlepper und ihre Hintermänner, die von See aus ohnehin nicht bekämpft werden können, sind damit besser als vor Beginn der Mission.
Widersprüchliche Ausweitung: Embargo und Ausbildung
Bundesregierung und EU haben sich in dieser Situation des Scheiterns – die in den kommenden Monaten absehbar trotz professioneller PR der Bundeswehr mit Bildern „Geretteter“ noch offensichtlicher werden wird – für die Flucht nach Vorne entschieden. Bereits im Mai 2016 – in dem Monat, in dem über 1.000 Menschen im Einsatzgebiet ertranken (s.o.) – einigte sich der Rat für Auswärtige Angelegenheiten darauf, künftig gänzlich neue und anders gelagerte Aufgaben in das Mandat der Marinemission zu integrieren: die Ausbildung libyscher „Kämpfer“ und die Durchsetzung des Waffenambargos gegenüber Libyen. Die völkerrechtliche Legitimation zur Durchsetzung des Embargos erging dann am 14. Juni 2016 durch den UN-Sicherheitsrat in Form der Resolution 2292. Schon eine Woche später legte die Bundesregierung ihren Antrag auf Erweiterung des Mandates dem Bundestag vor,[8] der es am 7. Juli mit 457 zu 111 Stimmen bei einer Enthaltung absegnete,[9] noch bevor der formale Beschluss zum erweiterten Mandat auf EU-Ebene überhaupt vorlag – was er bis heute nicht tut. In der Zwischenzeit, im Juni 2016, sind weitere 389 Menschen ertrunken. Die Bundeswehr agiert aktuell auf einem nationalen, bereits erweiterten Mandat im Rahmen eines EU-Einsatzes, für den noch kein erweitertes Mandat und damit entsprechende Operationspläne verabschiedet sind.
Dass deren Ausarbeitung eine Weile dauert, sollte angesichts der vielen unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Aufgaben keinesfalls verwundern. Zwar sind bereits jetzt Feldjäger, Teile des Seebataillons und damit der „Infanterie der Marine“ sowie Boardingteams an Bord der beteiligten deutschen Kriegsschiffe, um der Schleuserei verdächtige Schiffe anhalten und entern sowie Personen festnehmen und befragen zu können. Jedoch gibt die Option, möglicherweise auch größere Schiffe mit Waffenlieferungen gegen ihren Willen anhalten, durchsuchen und beschlagnahmen zu müssen, dem Einsatz ein noch deutlich militärischeres Gepräge. Zukünftig sollen dann noch libysche Milizionäre an Bord genommen und zu Soldaten ausgebildet werden, was nicht nur Ausbilder verschiedener Truppengattungen, sondern auch ganz andere Sicherheitsmaßnahmen erfordert. Die Kapazitäten zur Seenotrettung werden dadurch jedenfalls sicherlich nicht erhöht.
Jenseits der praktischen Probleme ergeben sich aber auch diplomatische, völkerrechtliche und theoretische Schwierigkeiten mit dem neuen, unüberschaubaren Mandat. Die Widersprüchlichkeit zwischen den beiden neuen Aufgabenbereichen – Durchsetzung des Waffenambargos und Ausbildung libyscher Soldaten – findet sich ebenso in der Resolution des UN-Sicherheitsrates. Während diese alle Staaten ermächtigt, Waffenlieferungen nach Libyen auch mit militärischen Maßnahmen nach Kapitel VII zu unterbinden, erkennt sie zugleich die Notwendigkeit an, die im Dezember 2015 durch ein internationales Abkommen zur einzigen legitimen Regierung Libyens erklärte GNA sowie die ihr unterstehenden Kräfte zu unterstützen. Hierfür sieht die Resolution Ausnahmen vor: Für Waffen im engeren Sinne kann die GNA bei der UN Genehmigungen beantragen; nicht-tödliche Ausrüstung, technische und finanzielle Unterstützung sowie Ausbildung dürfen und sollen der GNA unterstehenden Kräften auch ohne Ankündigung bei und Genehmigung durch die UN geliefert werden. Zugleich stellt die Resolution aber fest, dass die Koordination zwischen den „legitimen libyschen Militär- und Polizeikräften“ noch verbessert und eine einheitliche Befehlskette erst noch geschaffen werden müsse.[10]
Wie chaotisch die Situation auch unter jenen bewaffneten Gruppen ist, die sich zur GNA bekannt haben, verdeutlichte zuletzt ein Hubschrauberabsturz mit drei toten französischen Soldaten im Juni 2016. Nachdem der französische Präsident daraufhin die Präsenz von Spezialkräften in Libyen einräumte, sah die GNA ihre Souveränität verletzt und protestierte lautstark: Man begrüße Unterstützung, aber die müsse in Koordination mit der Regierung erfolgen.[11] Zumindest offiziell wusste die GNA nichts davon, dass französische Soldaten mit Milizionären kämpfen, die nach französischer Auffassung die GNA unterstützen, aber offensichtlich nicht „unter Kontrolle der GNA stehen“, wie es die UN-Resolution formuliert. Zumindest Frankreich steht somit bereits im Verdacht, gegen jenes Embargo zu verstoßen, das die EU-Mission, die durch einen französischen Seefernaufklärer unterstützt wird, durchsetzen soll. Darüber, wer in Libyen worin ausgebildet werden und welche Waffen erhalten soll, herrscht unter den EU-Staaten keine Einigkeit und die Einzelstaaten führen diesbezüglich auch bilaterale Maßnahmen durch. Wenn jedoch schon innerhalb der EU unklar ist, wer die GNA unterstützt, zu ihr gehört oder unter deren Kontrolle steht und damit nicht unter das Embargo fällt, lässt sich erahnen, wie sehr die Auffassungen hierüber zwischen der EU-Mission, Ägypten, den Golfstaaten und etwa auch Russland auseinandergehen können. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die UN-Resolution alle Staaten ermächtigt, das Embargo durchzusetzen. Theoretisch können also ab jetzt alle Staaten Militärschiffe ins zentrale Mittelmeer entsenden und andere Schiffe auch mit Waffengewalt anhalten und durchsuchen, die für sie unter Verdacht stehen, militärische Ausrüstung für die falschen bewaffneten Gruppen zu liefern. Zugleich sind alle Staaten aufgefordert, der instabilen Regierung unter der GNA sowie den ihr angeblich unterstehenden Sicherheitskräften technische und Ausbildungsunterstützung zu leisten. Das birgt zumindest die Gefahr, den libyschen Bürgerkrieg (weiter) zu internationalisieren und ins Mittelmeer auszuweiten. Zwar besteht die Hoffnung, dass die interessierten Drittstaaten von den neuen Befugnissen nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen, also etwa nur bei sehr ernsten Verdachtsmomenten gegen sehr eklatante Verletzungen des Embargos und dass sie – wozu sie in der UN-Resolution angehalten, aber nicht verpflichtet sind – überdies zunächst die Zustimmung des Flaggenstaates einholen werden. Dass nun aber die (vermeintlich) zur Migrationsbekämpfung ohnehin vor den Küsten Libyens präsente EU-Marinemission die Umsetzung des vagen UN-Mandates offiziell in ihr Aufgabenspektrum aufnehmen will, lässt annehmen, dass sie letztlich die Praxis der Umsetzung bestimmen will und wird. Ob andere Akteure das dulden oder die Bereitschaft der EU zu robustem Vorgehen zumindest austesten werden, wird sich zeigen. Der russische Botschafter jedenfalls vermutete bereits bei der Verabschiedung der Resolution eine „hidden Agenda“ einiger Staaten, die u.a. darin bestehe, „die Operation Sophia auszuweiten, koste es, was es wolle“ und einen „Persilschein zu erhalten, die Ströme von Waffen so zu kontrollieren, wie es [NATO und EU] passt“. Die Präsenz ausländischer Kämpfer – hiermit waren in diesem Fall wohl Kämpfer aus NATO-Staaten oder deren Verbündete gemeint – seien ein Beleg hierfür; außerdem sei die Verletzung der UN-Resolution 1973, die eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung, nicht aber einen Regime-Change in Libyen autorisierte, noch nicht aufgearbeitet.[12]
Neu im Boot: NATO und Terrorbekämpfung
Bereits von Anfang an war vorgesehen, dass EUNAVFOR MED auch mit den EU-Ausbildungsmissionen in Nordafrika und dem Sahel kooperiert, die in wechselnder Gewichtung die Ziele Staatsaufbau, Bekämpfung des Terrorismus und der Migration verfolgen.[13] Damit war von vornherein an eine Verknüpfung der Mission, die in deutschen Medien gerne als Seenotrettung portraitiert wird, mit dem Krieg gegen den Terror gegeben und dessen Verdichtung absehbar. Die Bezugnahme auf die UN-Resolution 2292 intensiviert diese Verbindung, denn sie erneuert das gegen Libyen ohnehin bestehende Embargo primär mit Verweis auf den Waffentransfer an den IS „und andere terroristische Gruppen in Libyen“ und fordert unter Kapitel VII die Mitgliedstaaten auf, „Bedrohungen des internationalen Friedens und der Sicherheit durch terroristische Handlungen … mit allen Mitteln … zu bekämpfen“.[14] Das ist zwar kein Mandat für Luftangriffe oder Bodentruppen in Libyen, kommt aber der Formulierung sehr nahe, auf die sich die „Allianz gegen den IS“, insbesondere die Bundesregierung, bei ihren Lufteinsätzen in Syrien als völkerrechtliche Grundlage bezieht.[15] Einen Einsatz von Bodentruppen in Libyen sieht das Mandat von EUNAVFOR MED bereits jetzt in einer dritten Phase vor – bislang allerdings nur zur „Unterbindung der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke“.
Eine entsprechende Ausweitung der EU-Marinemission auf den Einsatz von Bodentruppen gegen Terroristen ist zwar theoretisch denkbar, aber kaum wahrscheinlich: Zu wenig Erfahrung hat die EU bislang mit robusten und seegestützten Einsätzen. Umso bemerkenswerter ist ein Beschluss des NATO-Gipfels Anfang Juni 2016 in Warschau: Die ebenfalls im Mittelmeer agierende NATO-Mission Active Endeavour soll ersetzt bzw. in „Sea Guard“ umbenannt werden. Bislang basierte sie noch auf der Erklärung des NATO-Bündnisfalls nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit einem Mandat zur Bekämpfung des Terrorismus im Mittelmeer. Schon länger hatten sich die Bundesregierung für ein neues Mandat der NATO Mission und die italienische Regierung für eine engere Kooperation mit EUNAVFOR MED stark gemacht. Tatsächlich war der Schutz der zivilen Schiffahrt im Mittelmeer gegen Terroranschläge auf Grundlage des NATO-Bündnisfalls längst zur Farce und zum allzu offensichtlichen Vorwand einer ständigen und rechtssetzenden maritimen Präsenz der NATO im Mittelmeer geworden. Die neue NATO-Mission soll demgegenüber ein „breites Aufgabenspektrum, einschließlich Lageaufklärung, Terrorismusbekämpfung und Kapazitätsaufbau haben“, so NATO-Generalsekretär Stoltenberg, und weiter: „Wir beabsichtigen, eng mit der EU-Operation Sophia im zentralen Mittelmeer zusammenzuarbeiten“.[16]
Mission Creep oder: Kanonenbootdiplomatie des scheiternden Imperiums
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Bundeswehr auf ihrer Hompage zu den Einsätzen im Mittelmeer gegenwärtig noch einführend schreibt: „Die Bundeswehr nimmt im Mittelmeer drei sehr unterschiedliche Aufgaben wahr. Dies geschieht im Rahmen der Marineeinsätze zur Schleuserbekämpfung (EUNAVFOR MED), der Operation Active Endeavour (OAE) und bei UNIFIL“.[17] Ergänzt man, dass es bei UNIFIL um die Unterbindung des Waffenschmuggels und tw. die Ausbildung libanesischer Soldaten geht und bei Active Endeavour um die Terrorismusbekämpfung, so wird sehr deutlich, dass das neue Mandat der in ihrer ursprünglichen Mission gescheiterten EU-Marinemission alle diese „sehr unterschiedliche[n] Aufgaben“ – und weitere – vereint. Die beständige Ausweitung des Mandates einer Mission auf letztlich ganz unterschiedliche Aufgaben ist typisch für ein Phänomen, das seit dem spektakulären Scheitern des US-Einsatzes in Somalia 1993 als „Mission Creep“ bezeichnet wird. Die Gründe für dieses Phänomen sind so vielfältig wie fatal. Einerseits gibt es, wenn das Militär einmal mobilisiert und vor Ort ist, eine Tendenz der Politik, die Lösung jedes ausgemachten Problems an die Streitkräfte zu delegieren. So umfassen heute viele UN-Mandate z.B. auch die Korruptionsbekämpfung, Maßnahmen zur Versöhnung oder die Bekämpfung sexueller Gewalt. Andererseits gibt es gerade bei erfolglosen Missionen verschiedene Anreize, das Mandat auszuweiten, um das Scheitern zu kaschieren oder den Einsatz trotzdem aufrechterhalten zu können. Eine Folge solch ausgreifender Mandate besteht in unklaren Einsatzregeln und für die eingesetzten Kräfte gar nicht umsetzbaren Einsatzregeln. Die Vielfalt der Aufgaben führt dazu, dass letztlich für keinen Aspekt der Mission ausreichende bzw. die richtigen Mittel zur Verfügung stehen. Was im Einzelnen gilt, gilt in der Summe für das Ganze: Die Mission ist insgesamt unerfüllbar, die Kriterien für einen erfolgreichen Abschluss können gar nicht erreicht werden, die Mission wird sich immer länger hinziehen (wie zahlreiche UN-Missionen) oder im Desaster enden (wie die „Schlacht von Mogadischu“ 1993).
Nicht das Desaster, wohl aber die dauerhafte Präsenz im zentralen Mittelmeer vor der nordafrikanischen Küste dürfte durchaus auch im Interesse der EU-Strategen liegen und der eigentliche Grund für die Vielfalt rechtlicher Grundlagen und (vermeintlicher) Aufgaben sein, die – von der Seenotrettung bis zur Terrorbekämpfung – zugleich unterschiedliche Teile der Öffentlichkeit von der Notwendigkeit des Einsatzes überzeugen sollen. Die Forderung nach einer Einzelfallprüfung einzelner Komponenten des Mandates von EUNAVFOR MED – wie von einigen Abgeordneten der Linkspartei gefordert – fällt auf diese Strategie herein oder spielt ihr bewusst in die Hände. Wer an den eigentlichen Absichten des Einsatzes zweifeln sollte, dem sei wiederum der Blick nach Somalia – diesmal dem Somalia der Gegenwart – empfohlen: Erst im April 2016 wurde vom Bundestag das Mandat für die deutsche Beteiligung am EU-Marineeinsatz am Horn von Afrika verlängert, der offiziell das Ziel verfolgt, die Piraterie zu bekämpfen – obwohl der letzte versuchte Piratenangriff schon damals über zwei Jahre zurücklag. Ziel ist es, an diesem Nadelöhr des Welthandels tatsächlich eine dauerhafte Marinepräsenz zu etablieren und Djibouti damit de facto zu einer EU-Marinebasis zu machen. Damit verbunden ist und war die Absicht, in klassischer Kanonenbootdiplomatie die Geschicke Somalias zu kontrollieren. Auch dort wurde 2008 eine nie gewählte, überwiegend im Exil tätige Regierung international anerkannt, die NATO und EU im Gegenzug die Kontrolle ihrer Küstengewässer ermöglichte. Seither sichert allein die EU zumindest den formalen Fortbestand dieser Regierung mit etwa 700 Mio. Euro für die Truppen der AMISOM und durch den Aufbau und die Ausbildung einer somalischen Armee mit mehreren tausend Soldaten.[18]
Ähnliches ist auch die Absicht der Mission EUNAVFOR MED im Mittelmeer gegenüber Libyen und vermutlich auch anderen nordafrikanischen Staaten. Hinzu kommt im Falle des Mittelmeers durch die Übernahme polizeilicher Funktionen die Durchsetzung eines Souveränitätsanspruchs jenseits des Hoheitsgebietes der Mitgliedstaaten. Die Freiheit der Meere und der Schifffahrt kann von der EU-Marine sowohl mit Verweis auf illegalisierte Migration als auch auf das Waffenembargo gegenüber Libyen militärisch aufgehoben werden. Tatsächlich ist die EU längst dabei, im Mittelmeer eine eigene völkerrechtliche Raumordnung zu etablieren – wie sie im Übrigen typisch für scheiternde Imperien ist. Mit der exterritorialen Übernahme polizeilicher Aufgaben durch geheimdienstlich gestützte militärische Dauereinsätze geht sowohl theoretisch wie auch praktisch eine Erosion des Rechtsstaatsprinzips einher. An die Stelle klarer Grenzen und damit verbundener Rechtsordnungen treten undefinierte Grenzräume und Peripherien, in denen Recht und Willkür verschwimmen. Der sich perpetuierende Marineeinsatz EUNAVFOR MED mit ausuferndem Mandat und mit Unterstützung durch Spezialkräfte, unbemannte Systeme und Geheimdienste steht sinnbildlich für diese Form des Ausnahmezustands, der den kontinuierlichen Aufstand und das Unterlaufen der gewaltsam militärisch errichteten Ordnung selbst hervorbringt – zum Beispiel in Form der spezifischen, lebensgefährlichen Form der Migration über das zentrale Mittelmeer.
Anmerkungen
[1] http://missingmigrants.iom.int/mediterranean.
[2] Eine Aufschlüsselung der Kosten des Migrationsregimes findet sich u.a. hier: http://www.themigrantsfiles.com/, außerdem empfehlenswert die Studie Border Wars des Transnational Institute und der Kampagne Stop Wapenhandel.
[3] Bundestags-Drucksachen 18/6013 (Sept. 2015) und 18/8878 (Juni 2016).
[4] Beschluss (GASP) 2015/778 des Rates der EU.
[5] Ebd.
[6] EUNAVFOR MED Op SOPHIA – Six Monthly Report 22 June – 31 December 2015, EEAS(2016) 126, URL: www.wikileaks.org/eu- military-refugees/EEAS/EEAS-2016-126.pdf.
[7] http://frontex.europa.eu/news/italy-sees-high-level-of-migratory-pressure-in-june-YbsNJn, die Vergleichszahlen der Vorjahre finden sich unter: http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/central-mediterranean-route/.
[8] Bundestags-Drucksache 18/8878.
[9] Bundestags-Plenarprotokoll 18/183.
[10] Resolution 2292 (2016) des UN-Sicherheitsrates, angenommen am 14. Juni 2016.
[11] „Libya unity govt blasts French military presence“, Middle East Online, Meldung vom 21.7.2016.
[12] „Security Council Authorizes Inspection of Suspected Embargo-Breaking Vessels off Libya’s Coast, Unanimously Adopting Resolution 2292 (2016)“, Pressemeldung der UN vom 14. Juni 2016.
[13] Vgl.: Christoph Marischka: Seenotrettung, Lagebilderstellung oder Anti-Terror-Krieg?, IMI-Analyse 2015/031 – in: CILIP, Nr. 109 (September 2015).
[14] Resolution 2292 (2016) des UN-Sicherheitsrates.
[15] Gemeint sind hier die Bezugnahmen auf die Resolution 2249 (2015) in BT-Drucksache 18/6866 (Mandat für Syrieneinsatz der Bundeswehr).
[16] Zitiert nach Thomas Wiegold: „Gipfelbeobachtung: ‘Sea Guardian’ statt ‘Active Endeavour’ im Mittelmeer“.
[17] Bundeswehr.de: Startseite > Einsätze > Mittelmeer, Stand: 23.7.2016.
[18] EEAS: Factsheet on EUTM Somalia, Stand April 2016.
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