„Wir wehren uns seit 1979“
Knut Henkel interviewt Gabriel López Chiñas (56, ist Mitglied der Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación (CNTE). Er unterrichtet Chemie- und Naturkunde in Oaxaca de Juárez).
taz: Herr López Chiñas, Mexiko ist aufgrund der Lehrerproteste, der neun Toten von Nochixtlán vom 19. Juni und der Straßenblockaden weltweit in den Schlagzeilen. Warum sind die Auseinandersetzungen so vehement?
Gabriel López Chiñas: Die Regierung verfolgt einen Konfrontationskurs. Wir haben wiederholt Verhandlungen angeregt, um zu Kompromissen zu kommen, aber die Regierung in Mexiko-Stadt hat erst nach dem Tod der neun Menschen aus Nochixtlán grünes Licht für Verhandlungen gegeben. Das bedeutet aber leider nicht, dass wir über die Ursache des Konflikts, die Bildungsreform, diskutieren können, um sie zu modifizieren. Das hat Innenminister Miguel Osorio Chong von vornherein ausgeschlossen.
Worüber soll denn dann verhandelt werden?
Über Dinge wie die Lohnauszahlung, Maßnahmen zur Vermeidung von Eskalation. Wir haben die Zahl der Straßenblockaden in Oaxaca von 37 auf 10 reduziert, um den von der Regierung angedrohten Einsatz des Militärs abzuwenden.
Immer wieder heißt es in den Medien, dass die Proteste der Lehrer für eine Versorgungskrise in Oaxaca verantwortlich sind. Gibt es Engpässe?
Unsere Straßenblockaden sind durchlässig. Lebensmitteltransporte können passieren, und ich ärgere mich über die Falschinformationen in den Medien. Ein Ei in Oaxaca kostet einigen Berichten zufolge umgerechnet 2 Euro. Das ist eine Lüge, eine manipulative Darstellung, die dazu beitragen soll, dass die Regierung die Armee zur Räumung von Straßensperren einsetzt.
Was sind die zentralen Forderungen der Gewerkschaft?
Wir fordern die Rücknahme der Bildungsreform. Diejenigen, um die es in der Reform geht, Schüler wie Lehrer, sind bei der Ausarbeitung der Reformvorlage im Jahre 2013 nie gefragt und nie beteiligt worden. Die Reform wurde im September 2013 durch das Parlament gepeitscht. Die Abgeordneten haben 3 Millionen Peso für ihre Stimme aus dem Parteietat der PRI, der Partei der institutionalisierten Revolution von Präsident Enrique Peña Nieto, erhalten. Diese Reform verletzt die Arbeitsrechte der Lehrer massiv, hebt Gewerkschaftsrechte, die in den letzten vierzig Jahren erkämpft wurden, auf und setzt den Sparkurs im Bildungssystem fort.
Mexiko steht am Ende des OECD-Pisa-Rankings. Warum wird nicht an einer umfassenden Reform des Bildungssystems gearbeitet – unter Beteiligung aller Betroffenen?
Gute Frage, denn wir brauchen eine umfassende Reform, die der Bildungsrealität in Mexiko gerecht wird. Man kann Bundesstaaten wie Puebla oder Jalisco, die über eine ganz andere Bildungsinfrastruktur verfügen, nicht mit Oaxaca, Chiapas oder Michoacán vergleichen, die von Armut geprägt sind. Wir brauchen eine differenzierte Analyse, denn in den Schulen von Oaxaca oder Chiapas gibt es oft kein Internet, manchmal keinen Wasseranschluss und auch die Gebäude sind oft in einem schlechten Zustand.
Gibt es Alternativen zur Reform der Regierung?
Ja, Oaxaca hat einen alternativen Reformverschlag ausgearbeitet, der auf dem Tisch liegt und die Bedingungen in den marginalisierten Gemeinden des Südens Mexikos berücksichtigt und Evaluierungen der Lehrer beinhaltet. Doch in den vergangenen drei Jahren, seit der Verabschiedung der Reform im September 2013, hat es keine Verhandlungen über unseren Alternativvorschlag gegeben. Das ist ein Grund für die derzeitigen Proteste – wir wollen partizipieren und ein Referendum über die Bildungsreform wäre eine Alternative.
Darauf will sich die Regierung nicht einlassen, warum nicht?
Präsident Enrique Peña Nieto hat mit der OECD schon vor Amtsantritt die Eckdaten der Bildungsreform in Mexiko ausgehandelt. Die orientieren sich an den Bildungsparametern von Finnland und öffnen privaten Bildungsträgern die Türen. Die Bildungsreform der Regierung steht im direkten Zusammenhang zu den elf anderen neoliberalen Megareformen der Regierung, darunter die des Energiesektors. Das ist ein Grund, weshalb wir von sozialen Organisationen, Dorfgemeinschaften und Eltern unterstützt werden.
Die andere Lehrergewerkschaft SNTE gilt als korrupt – ihr wird immer wieder Vetternwirtschaft vorgeworfen. Gilt das auch für Ihre CNTE?
Lehrer, die durch die Evaluierung fallen, dürfen nicht mehr unterrichten
Korruption ist eine Geißel der mexikanischen Gesellschaft. Präsident Peña Nieto verfügt über einen Luxusjet, der selbst Barack Obama vor Neid erblassen lassen dürfte, sein Privathaus wurde mit Vergünstigungen errichtet und in der politischen Bürokratie Mexikos bleiben jedes Jahr Milliarden Peso hängen. Auch die nationale Lehrergewerkschaft SNTE ist Teil dieses Patronagesystems, es haben sich Funktionäre kaufen lassen, die für die Regierungspartei PRI agieren. Auch unsere CNTE ist nicht frei von Korruption, aber wir orientieren uns basisdemokratisch und lehnen eine Vereinnahmung durch die PRI ab.
Im Zentrum des Konflikts steht die Evaluierung der Lehrer – warum wehrt sich die CNTE gegen die Überprüfung der Leistung der Lehrer und ihrer Klassen?
Wir wehren uns gegen die Parameter der Evaluierung, denn die soll mit standardisierten Fragebögen durchgeführt werden, die in Finnland genauso wie in Monterrey (einem der besser ausgestatteten Bundesstaaten Mexikos) zum Einsatz kommen. In Chiapas, in Oaxaca oder Guerrero unterrichten die Lehrer jedoch an Schulen, wo die Kinder ohne Frühstück zum Unterricht kommen, oft eine indigene Muttersprache haben und gefördert werden müssen. Hier brauchen wir andere Parameter, um die Leistung der Lehrer zu evaluieren, und Entlassungen sind keine Lösung. Wir müssen das gesamte Bildungskonzept, Inhalte, Didaktik und Zielperspektiven auf den Prüfstand stellen und gemeinsam modernisieren – nicht den Lehrern den schwarzen Peter zuschieben.
Lehrern, die durch die Evaluierung fallen, droht die Entlassung, oft der Verlust der Pensionsrechte – warum?
Es geht darum, die politische Kontrolle über die Gewerkschaften, die früher von der Regierungspartei PRI ausgeübt wurde, wiederherzustellen und Kosten zu sparen. Dagegen wehrt sich die CNTE seit ihrer Gründung im Jahr 1979.
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