Samstag, 31. Januar 2015
Die Sozialdemokratie und die Vereinigte Armee von Europa
IMI-Standpunkt 2015/001
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 7. Januar 2015
Ende 2014 wurde in der Presse über ein Positionspapier zur Europäisierung der Streitkräfte berichtet, das von der Arbeitsgruppe Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion verfasst wurde.[1] Dabei wurde vor allem auf die im Papier auftauchende Forderung nach einer „Vereinigten Armee von Europa“ hingewiesen. Teils wurden auch noch einzelne Elemente der im Papier aufgeführten militaristischen Wunschliste aufgezählt – kritiklos, versteht sich.[2] Überhaupt keine Erwähnung fand jedoch der problematische (Denk-)Kontext, in den das Papier eingebettet ist, da es stilsicher die Floskeln von Bundespräsident Joachim Gauck für eine ambitioniertere deutsche Weltmachtpolitik aufgreift. Fast noch schwerer wiegt die völlig unverantwortliche Weigerung, sich seriös mit den drängenden Fragen demokratischer Kontrollbefugnisse (bzw. deren Aushebelung) zu beschäftigen, die von der geforderten Europäisierung der Streitkräfte zwingend aufgeworfen werden.
Sozialdemokratischer Gauckismus
Zurecht werfen Kritiker Bundespräsident Joachim Gauck vor, in seiner seitdem vielfach aufgegriffenen Grundsatzrede bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 nicht weniger als einen grundlegenden Kurswechsel in Richtung einer militärisch gestützten deutschen Weltmachtpolitik eingefordert zu haben: „Was Gaucks Rede […] so problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie sich einfügt in den konzertierten Versuch, einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik herbeizuführen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens den Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ (Josef Joffe), und zweitens den Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen.“[3]
Da Deutschland laut dem Bundespräsidenten vor allem aber auch aus „Verantwortung“ künftig häufiger zu den Waffen greifen müsse, sind dem „Gauckismus“ auch moralisierende Elemente beigemischt, was zusammen eine überaus problematische Mixtur ergibt: „In der Tat weist der ‘Gauckismus’, dieses Amalgam aus geopolitischen Prämissen und protestantisch geprägter Moral, kaum zu verleugnende Parallelen zum Sendungsbewusstsein der neokonservativen Bush-Ära in den USA auf. [Der] Bundespräsident [bemühte] sogar die abgeschmackte Metapher einer Weltpolizei, die überall auf der Welt die eigenen Ordnungsvorstellungen durchsetzen soll. Die zunehmend chaotischen Zustände im Nahen Osten sind vor diesem Hintergrund flott mit dem Mangel der Übernahme von Verantwortung erklärt. Ein beherztes Eingreifen in Syrien zum richtigen Moment, das hätte die Katastrophen im Nahen Osten doch verhindert, so mehren sich nun die Stimmen. Aber was, wenn das nicht stimmt? Welche Art von Verantwortung ist es dann, der wir gerecht werden? Die Pathologien liberaler Hybris sind derzeit im Irak und in Afghanistan, aber auch in Libyen zu beobachten.“[4]
Solche Kritiken perlen an der SPD und ihrem besagten Positionspapier offensichtlich ab, wenn es darin heißt: „Einige Entscheidungen der letzten Bundesregierung haben dazu geführt, dass Zweifel bei den Partnern aufkamen, ob Deutschland in den entscheidenden Momenten einer Krise zu seinen Zusagen steht.“ Der Absatz bezieht sich vor allem auf die deutsche Nicht-Beteiligung am Krieg gegen Libyen, die in der SPD inzwischen augenscheinlich als Fehler bewertet wird – und das angesichts der völlig katastrophalen Situation in dem Land.[5] Weiter heißt es dann folgerichtig: „Die kontinuierliche, über alle Parteigrenzen hinweg geübte deutsche Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Machtmittel ist wichtig und richtig. Jedoch kann es Situationen geben, wo der Einsatz militärischer Gewalt notwendig und zweckmäßig ist, um größeres Unheil zu verhindern. Richtig ist aber auch, dass Deutschland durch seine Zurückhaltung nicht politisch in Europa ins Abseits geraten darf und diese nicht als deutscher Sonderweg missverstanden werden darf.“
Der Irrwitz dieser Sätze ist schon beeindruckend, schließlich scheint es aus Sicht des SPD-Positionspapiers „verantwortlich“ zu sein, einen Krieg wie etwa der gegen Libyen aus bündnis- und letztlich machtpolitischen Erwägungen selbst dann zu führen, wenn man ihn eigentlich für kompletten Unfug hält. Kein Wunder also, dass man deshalb für künftige Kriege „besser“ gerüstet sein will.
Militaristische Wunschliste
Ausführlich wird in dem SPD-Positionspapier darüber geklagt, dass der Ausbau der militärischen Schlagkraft der Europäischen Union in den letzten Jahren nicht wirklich „gut“ vorangekommen sei. Um diesen „Missstand“ zu beheben, werden eine ganze Reihe von Maßnahmen gefordert:
— „Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee sollte ein ‚echter‘ Verteidigungsministerrat gebildet werden.“
— „[Die] Vorbereitung eines gemeinsamen europäischen Weißbuchs zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“
— „Die Einrichtung eines ständigen militärischen Hauptquartiers der EU mit allen Führungsgrundgebieten.“
— „Um die Zusammenarbeit der verschiedenen Streitkräfte weiter zu verbessern, sollte die Zahl gemeinsamer europäischer Manöver und Übungen weiter erhöht werden.“
— „[Die] Schaffung einer Europäischen Militärakademie oder -universität.“
— „[Der] Ausbau der Europäischen Gendarmerie (Hauptquartier: Vicenza, einsatzfähig seit Anfang 2006). Für Deutschland, das sich aufgrund der strikten Trennung von Militär und Polizei nicht beteiligt, sollten wir eine Lösung finden…“
Dies alles seien wesentliche Teile einer „Europäisierung der Streitkräfte“, die mit einem festen Endpunkt in Gang betrieben werden soll: „Wir als Sozialdemokraten wollen in Europa die treibende Kraft auf dem Weg zu einer parlamentarisch kontrollierten europäischen Armee sein und diesen konsequent beschreiten. […] Wir sind bereit, in einen Prozess einzutreten, an dessen Ende wir unsere nationale Armee in eine neue, bessere, supranationale Armee – eine europäische Armee – einfügen.“
Verlässliche Kriegsführung außer (parlamentarischer) Kontrolle
Über die zuvor beschriebenen Vorschläge hinaus gilt die gemeinsame Anschaffung und Nutzung von Militärgerät („Pooling & Sharing“) als eigentlicher Königsweg hin zur „Vereinigten Armee Europa“ und der Steigerung der militärischen Schlagkraft, die man sich hiervon verspricht. Gebündelte Kräfte sollen eine weniger zersplitterte Rüstungslandschaft, höhere Stückzahlen und damit einhergehend deutliche Kostensenkungen in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts nach sich ziehen.
Die Sache hat jedoch laut P&S-Befürwortern einen gewaltigen Haken: Denn über Einsätze deutscher Soldaten (und deutschen Militärgeräts) muss hierzulande – bislang zumindest noch – der Bundestag entscheiden. Somit ist es zumindest theoretisch denkbar, dass der Bundestag die Verwendung von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät für einen Kriegseinsatz ablehnt. Dieser Mangel an „Verlässlichkeit“, heißt es nun u.a. in dem SPD-Positionspapier, sei ein wesentliches Hemmnis, P&S weiter vorantreiben zu können: „Wer eine europäische Armee anstrebt, muss für seine Partner berechenbar und verlässlich sein. […] Einige Fähigkeiten sind redundant in den Streitkräften der EU vorhanden, andere sind interdependent, d.h. diese sind in der EU/NATO nur einmal vorhanden und die beteiligten Nationen sind aufeinander angewiesen, um sie zur Wirkung bringen zu können. Für solche Fähigkeiten könnte der Ausstieg nur eines beteiligten Partners den Einsatz unmöglich machen. Es sind jedoch Prozesse mit einem Höchstmaß an Verlässlichkeit notwendig.“
In Wahrheit ist es wohl nur unter absoluten Ausnahmesituationen vorstellbar, dass der Bundestag einen Kabinettsbeschluss zur Teilnahme an einem Kriegseinsatz ablehnen würde. Anders sieht es natürlich bei der Bundesregierung selbst aus, die in der Vergangenheit ja etwa im Falle von AWACS gezeigt hat, dem Einsatz „gepoolten“ Materials nicht zuzustimmen, sollte dies nicht im eigenen Interessenkalkül liegen. Da es ebenso schwer vorstellbar ist, dass die Bundesregierung die letzte Entscheidung hierüber in absehbarer Zeit aus der Hand gegen wird, dürfte es hier vor allem um eines gehen: Auch wenn der Bundestag stets mehrheitlich willfährig vom Kabinett beschlossene Militäreinsätze abgenickt hat, ging damit immer eine – durchaus unangenehme – öffentliche Debatte um den Sinn bzw. Unsinn des jeweiligen Einsatzes einher. Aus diesem Grund ist der Parlamentsvorbehalt vielen Militärpolitikern schon lange ein Dorn im Auge und es deutet alles darauf hin, dass die Gunst der Stunde genutzt werden soll, um sich ihn mit Verweis auf die „Verlässlichkeit“ beim Einsatz „gepoolten“ Materials so weit wie möglich vom Hals zu schaffen.
Wohin die Richtung präferentiell gehen soll, beschrieben Roderich Kiesewetter und der kürzlich verstorbene Andreas Schockenhoff vor einiger Zeit folgendermaßen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ‚geteilt‘ werden, verlässlich zugreifen können. […] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Maße zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten. […] Dieser Souveränitätsverzicht betrifft gerade den Bundestag mit seiner im europäischen Vergleich eher starken Mitspracherolle und müsste sich in einer Reform des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr niederschlagen. Der Bundestag muss weiterhin das letzte Wort in Form eines Rückrufvorbehalts bei solchen Entscheidungen behalten.“[6]
Mit anderen Worten: Wenn eine EU-Armee auf gemeinsame Rüstungsgüter zurückgreift (und ggf. auch auf Soldaten in gemeinsamen Stäben, Einheiten, etc.), dann kann es nicht angehen, dass nationale Parlamente wie der Bundestag künftig weiter die Möglichkeit haben, EU-Einsätze zu verhindern. Um genau in diesem Zusammenhang Vorschläge zu machen, wie der Parlamentsvorbehalt künftig faktisch ausgehebelt werden kann, wurde vor einiger Zeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe ins Leben gerufen.[7] Und auch das SPD-Positionspapier sieht im Parlamentsvorbehalt keinen Hinderungsgrund für den Aufbau einer EU-Armee und bezieht sich positiv auf besagte Kommission: „Wir stehen klar und unmissverständlich zu unseren Bündnisverpflichtungen und werden auch versuchen, auf andere Nationen hinzuwirken, keine Sonderwege zu gehen. […] Der deutsche Parlamentsvorbehalt hat sich bewährt, er ist kein Hinderungsgrund für eine vertiefte europäische Integration. Der Deutsche Bundestag hat eine Kommission beauftragt, zu prüfen, wie auch auf dem Weg fortschreitender Bündnisintegration die Parlamentsrechte gesichert werden können.”[8]
In vielen anderen EU-Ländern haben die Parlamente schon heute keine Befugnisse in der Kriegsfrage mitzuentscheiden und auch in Deutschland soll hier augenscheinlich eine „Normalisierung“ eintreten. Gleichzeitig hat auch das Europäische Parlament hier nahezu keine Mitspracherechte, es sind allein die Staats- und Regierungschefs, die auf EU-Ebene über Militäreinsätze entscheiden, die Gewaltenteilung ist dort faktisch aufgelöst.[9] Man bekennt sich im SPD-Positionspapier zwar dazu, das Ziel müsse eine „parlamentarisch kontrollierte europäische Armee“ sein und will eine „Stärkung der parlamentarischen Verantwortung auf europäischer Ebene“, bleibt aber außerhalb dessen vollkommen vage, was dies konkret bedeuten soll. Während minutiös Details für die weitere Militarisierung der Europäischen Union ausgebreitet werden, streift man gleichzeitig die zentrale Frage demokratischer Kontrollbefugnisse lediglich en passant, was leider Bände über die militärpolitischen Präferenzen der Sozialdemokratie spricht.
Anmerkungen
[1] Positionspapier zur Europäisierung der Streitkräfte, Arbeitsgruppe Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion.
[2] SPD wirbt für „Vereinigte Armee von Europa“, Handelsblatt.com, 4.12.2014; SPD für europäische Armee, taz.de, 5.12.2014.
[3] Lucke, Albrecht von: Der nützliche Herr Gauck, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2014, S. 5-8, S. 6.
[4] Kilian Spandler, Kilian/Pfeifer, Hanna: Komplexität aufbauen statt abbauen – Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung, Auswärtiges Amt, Review 2014.
[5] Vgl. Hager, Marius: Milizenkrieg in Libyen. Wie ein Staat mit internationaler Unterstützung zerfällt, in: AUSDRUCK (Oktober 2014).
[6] Schockenhoff, Andreas/Kiesewetter, Roderich: Impulse für Europas Sicherheitspolitik. Die Zeit zum Handeln ist gekommen, in: Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 88-97, S. 96.
[7] Vgl. Haid, Michael: Die Rühe-Kommission. Parlamentsrechte bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr bald eine Karikatur? in: AUSDRUCK (Juni 2014).
[8] Freilich sind derlei Positionen aus Reihen der SPD nicht gänzlich neu. So hieß es bereits in einem früheren Antrag der SPD-Bundestagsfraktion: „Angesichts zurückgehender Mittel für die Verteidigungshaushalte wird auch der Effizienzgedanke in Zukunft eine weit stärkere Rolle spielen müssen. ‚Pooling‘, ‚Sharing‘ und die Arbeitsteilung bei den militärischen Fähigkeiten unter Partnern sind zwar kein neuer, aber ein noch viel zu selten beschrittener Weg, den die EU-Partner gehen sollten. Allerdings zeigt auch gerade das deutsche Verhalten im Hinblick auf die NATO-AWACS-Einsätze das auch das ‚Sharing‘ militärischer Fähigkeiten einen erfolgreichen Einsatz im Interesse einer GSVP behindern oder sogar verhindern kann. In einer funktionierenden GSVP müssen sich die Partner aufeinander verlassen können.“ SPD-Antrag: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten, Drucksache 17/7360. Eigene Hervorhebung.
[9] Vgl. Wagner, Jürgen: EUropa außer Kontrolle. Die EU-Außen- und Sicherheitspolitik im parlamentarischen Niemandsland, in: Informationen zu Politik und Gesellschaft, Nr. 6/2011.
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