Mittwoch, 23. Mai 2012
NATO-Gipfel in Chicago
IMI-Analyse 2012/008
Weder „Smart“ noch „Defense“, sondern ein Wunschkonzert als Strategie
Zur Erklärung des NATO-Gipfels in Chicago
http://www.imi-online.de/2012/05/23/nato-weder-smart-noch-defense/
23. Mai 2012, Christoph Marischka
Zu den konkretesten Forderungen der Zehntausenden, die in Chicago gegen
den NATO-Gipfel protestierten, gehörte der Abzug der NATO aus
Afghanistan. Dieser Krieg war 2001 von den USA mit unklarer Zielsetzung
begonnen worden und unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September
folgten ihnen die NATO-Verbündeten in diesen Krieg. Nach über zehn
Jahren Krieg sind die strategischen Ziele und Aussichten der NATO in
Afghanistan unklarer denn je und immer mehr Mitgliedsstaaten ziehen sich
bereits zurück oder kündigen dies an. Nach der Wahl Hollandes zum
französischen Präsidenten wird sich dieser Prozess absehbar
beschleunigen. In diesem Kontext hatte die NATO im vergangenen Jahr auf
britische und französische Initiative gegen Libyen einen weiteren Krieg
begonnen, der von Anfang an nicht auf der Zustimmung aller
Mitgliedsstaaten fußte. Deutschland hatte der zugrunde liegenden
UN-Resolution sogar seine Zustimmung verweigert, später aber doch
Soldaten in die NATO-Führungsstäbe entsandt. Das Ergebnis dieses Krieges
ist ein weiterer „gescheiterter Staat“ und eine Destabilisierung der
gesamten Großregion. Die Niederlage in Afghanistan und der Scheinerfolg
in Libyen hätten ein Anlass sein können, auf dem NATO-Gipfel klare
strategische Prioritäten festzulegen und sich über zukünftige
Entscheidungsprozesse Gedanken zu machen. Dazu aber scheint die NATO
nicht in der Lage und heraus kam das genaue Gegenteil.
Strategische Unbestimmtheit
Die zu behandelnden Themen und zu verhandelnden Positionen waren bereits
lange bekannt und trotzdem lässt das gemeinsame Abschlussdokument zum
Treffen des Nortatlantikrates die sonst für Strategiedokumente und
Gipfelerklärungen charakteristische klare Struktur vermissen.
Stattdessen ließt es sich eher wie ein Wunschkonzert, in dem man alle
Bedürfnisse befriedigen und auf nichts verzichten will.
Tatsächlich will die NATO alles: Sie begrüßt die Ausweitung der
NATO-Operation Ocean Shield zur Bekämpfung der Piraterie, will ihre
logistische Unterstützung für die AMISOM in Somalia ausweiten und neue
Optionen für die Anti-Terror-Mission Active Endeavour prüfen. Sie betont
die sicherheitspolitische Relevanz der Ressourcenknappheit, der
Gesundheit und des Klimawandels und will mehr Gewicht auf die
Energiesicherheit und Cyber-Security legen. Sie will am Krieg gegen den
Terror festhalten und ihre Zusammenarbeit mit der UNO ausbauen. Sie will
sparen und trotzdem ihre Kapazitäten ausbauen, aus Afghanistan abziehen
und trotzdem vor Ort bleiben, eine bessere Zusammenarbeit mit Russland
und trotzdem an ihrer Erweiterungspolitik und dem Ausbau des
Raketenschildes festhalten. Sie will ein Bündnis der Demokratien sein
und ihre Zusammenarbeit mit den Monarchien am Golf und Libyen ausbauen.
Besonders widersprüchlich wird es beim Thema Atomwaffen: Bezieht sich
das Abschlussdokument gegenüber dem Iran und Korea noch auf die Vision
einer „Welt ohne Atomwaffen“,1 heißt es nur wenige Absätze später, dass
man zur Verteidigung und Abschreckung an einem „angemessenen Mix aus
nuklearen und konventionellen Kapazitäten und der Raketenabwehr“
festhalten wolle. An anderer Stelle wird noch einmal unterstrichen:
„Raketenabwehr kann die Rolle nuklearer Waffen bei der Abschreckung
ergänzen, sie aber nicht ersetzen“. Wer hingegen deutliche Ansagen dazu
erwartet, auf welche Entwicklungen im Iran, in Syrien und Korea die NATO
mit welchen Mittel zu reagieren erwägt, bleibt enttäuscht. Zu Syrien
findet sich ein einziger Satz in der Erklärung, wonach die NATO die
Bemühungen der UN und der Arabischen Liga sowie die vollständige
Umsetzung des Annan-Plans unterstützt. Eine Evaluation der
Entscheidungsfindung vor und der Folgen des Libyen-Krieges bleibt aus,
über das Dokument verteilt finden sich lediglich vereinzelte
Schlussfolgerungen, die man aus dieser „erfolgreichen Operation“ lernen
könne, bei der „die Allianz eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat,
die Zivilbevölkerung zu schützen und tausende von Leben zu retten“:
Insbesondere hätte sich die enge Zusammenarbeit mit der UN und die
„flexible“ Kooperation mit regionalen Partnern bewährt.
Flexible Partnerschaften
Überhaupt erscheint „Flexibilität“ als einer der zentralen Begriffe des
Dokuments. Besonders gilt das für die Partnerschaften. Mehrfach wird
betont, wie viele Nicht-Nato Staaten am Gipfel teilgenommen hätten und
sich an gemeinsamen Operationen beteiligten. Begrüßt wurde auch die im
April 2011 in Berlin beschlossene „effizientere und flexiblere
Partnerschaftspolitik“. Dabei wird an der Beitrittsperspektive für
Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und – strategisch am
bedeutendsten und gefährlichsten – Georgiens festgehalten, während
weiteren „europäischen Demokratien, welche die Werte der Allianz teilen“
ebenfalls eine Mitgliedschaft angeboten wird. Begrüßt wird auch die
bessere Zusammenarbeit der Ukraine und Serbiens mit der NATO sowie die
Partnerschaft mit Russland und den zentralasiatischen Staaten in Bezug
auf Afghanistan. Daneben sollen insbesondere der Mittelmeerdialog (MD)
mit den nordafrikanischen Staaten, Mauretanien, Jordanien und Israel und
die Istanbuler Kooperationsinitiative (ICI) in ihrer Scharnierfunktion
zum Golfkooperationsrat gestärkt werden. Bei beiden handelt es sich um
hochgradig „flexible“ Mechanismen, die keinerlei Sicherheitsgarantien
oder ähnliches umfassen, in deren Rahmen jedoch die Gipfelerklärung vor
dem Hintergrund des gemeinsamen Vorgehens in Libyen und des
„präzendenzlosen Wandels“ in der Region „individualisierte Programme“
etwa zur Modernisierung der Streitkräfte und beim Aufbau neuer
militärischer Fähigkeiten anbietet. Entsprechende Angebote werden darin
auch Libyen unterbreitet, dessen „Interesse an einer Vertiefung der
Beziehungen zur Allianz“ ausdrücklich begrüßt wird.
Kosovo und Afghanistan
Mehr Flexibilität wünscht sich die NATO auch gegenüber den „Partnern“,
die sie bislang noch durch die Präsenz von Bodentruppen „unterstützt“,
den Kosovo und Afghanistan. So hält die Erklärung fest, dass man im
Kosovo das Ziel einer „kleineren und flexibleren abschreckende Präsenz“
verfolgt, unterstreicht jedoch zugleich, dass die augenblickliche
Sicherheitssituation dies noch nicht erlaube. Vor diesem Hintergrund
erscheint die im Dokument mehrfach aufgestellte und vor dem Hintergrund
seiner sonstigen Unbestimmtheit auffallende Behauptung, wonach es sich
beim (westlichen) Balkan um eine „strategisch wichtige“ Region handle,
eher wie eine Durchhalteparole.
Wo es um Afghanistan geht, zeigt sich die NATO v.a. begrifflich
flexibel. Die ISAF ist sowohl vom Namen, als auch vom Mandat des
UN-Sicherheitsrates her formal eine Mission zur
„Sicherheitsunterstützung“ und wurde etwa vor zwei Jahren noch in der
Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Lissabon2 und in dem dort
unterzeichneten Abkommen zwischen der NATO und Afghanistan lediglich als
solche bezeichnet. Von einem Kampfeinsatz war in beiden Dokumenten keine
Rede. Ganz anders verhält es sich in der Erklärung von Chicago: Dort
wird in Aussicht gestellt, dass die ISAF ab Mitte 2013, wenn die
Sicherheitsverantwortung in den letzten Provinzen formal an die
afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wird, „vom primären Fokus auf
den Kampfeinsatz zunehmend zur Bereitstellung von Training, Beratung und
Unterstützung übergehen wird“. 2014 dann soll der „NATO-geführte
Kampfeinsatz enden“ und durch einen neuen NATO-Einsatz abgelöst werden,
dessen Planung das Abschlussdokument von Chicago gleich in Auftrag gibt.
Dabei soll es sich jedoch um eine „Mission anderer Natur“ handeln, „um
die ANSF [Afghanischen Sicherheitskräfte], einschließlich der
Afghanischen Spezialkräfte, zu trainieren, zu beraten und zu
unterstützen. Dies wird kein Kampfeinsatz sein.“ Wie gesagt: Bevor die
USA und den anderen NATO-Staaten u.a. von den protestierenden und auch
wählenden Massen dazu gezwungen wurden, den ISAF-Einsatz zu beenden und
sie stattdessen einen Einsatz „anderer Natur“ propagieren mussten, hat
es sich auch bei ISAF nie um einen Kampfeinsatz, sondern um eine Mission
zur Sicherheitsunterstützung gehandelt.
Und dennoch wird sich etwas ändern: die großen Kontingente werden
abgezogen, die Präsenz der Besatzungssoldaten in der Fläche wird
reduziert. Das internationale „Engagement“ in Afghanistan wird sich weg
von parlamentarisch halbwegs kontrollierten großen
Truppenstationierungen weiter in den eher geheimdienstlichen Bereich der
Drohnenangriffe, Kommandoaktionen und dubioser Haushaltsposten
verlagern. Die Präsenz in der Fläche soll durch die von der NATO und
ihren Partnern ausgebildeten und ausgerüsteten Sicherheitskräfte
gewährleistet werden, die zwar nicht die Verantwortung im Sinne der
Entscheidungsfindung, wohl aber den Unmut der Bevölkerung auf sich
ziehen sollen. Gründe für diesen Strategiewechsel sind nicht nur der
Druck der Straße und der Wähler, sondern auch die Kosten. Gegenüber der
Stuttgarter Zeitung räumte NATO-Generalsekretär Rasmussen in diesem
Kontext unverblümt ein: „Natürlich ist es billiger, afghanische Kräfte
zu finanzieren, als eigene Truppen zu entsenden.“3 350.000 afghanische
Soldaten und Polizisten sollen 2014 die Aufgaben der ISAF übernehmen.
Umsonst ist das auch nicht, die Kosten für ihren Unterhalt übersteigen
den afghanischen Gesamthaushalt. Deshalb enthält das Abschlussdokument
von Chicago auch die eindringliche Aufforderung an die „internationale
Gemeinschaft, sich dem langfristigen Unterhalt der ANSF zu verpflichten“.
Weder „Smart“, noch „Defense“
Das rüstungspolitische Pendant zu solchen „Sparanstrengungen“ ist die so
genannte „Smart Defense“, die in der Berichterstattung über den
NATO-Gipfel viel Raum einnimmt, im Abschlussdokument jedoch eine
bemerkenswert kleine Rolle spielt. Das ist durchaus nachvollziehbar,
denn tatsächlich handelt es sich bei der Smart Defense (ebenso wie beim
Raketenschild) um ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm in Zeiten knapper
Kassen. Als konkretes Beispiel wird im Abschlussdokument lediglich die
NATO-Mission zur Luftraumüberwachung im Baltikum genannt, die es den
Staaten dort ermöglicht, auf eigene Abfangjäger zu verzichten und
stattdessen in andere Kapazitäten zu investieren, welche in gemeinsamen
NATO-Einsätzen gebraucht werden. Bernd Riegert von der Deutschen Welle
zitiert in diesem Zusammenhang einen Staatssekretär des lettischen
Verteidigungsministerium, der vorrechnet, „dass der Verzicht auf die
eigenen Jäger das Geld für Spezialkräfte freisetzt“: „Wir erhöhen unsere
Kooperationsfähigkeit und haben gleichzeitig Kräfte frei, die wir für
die NATO-Operationen einsetzen können…“.4 Neben der Luftraumüberwachung
taucht der Begriff „Smart Defense“ lediglich im Kontext der
euro-atlantischen Partnerschaft auf. Demnach sei er komplementär zum
EU-Konzept des „Pooling & Sharing“. Entsprechend heißt es dazu in der
Erklärung: „wir begrüßen die Anstrengungen der EU, besonders in den
Bereichen der Luftbetankung, der medizinischen Unterstützung [im
Einsatz], der Seeraumüberwachung und der Ausbildung“. Der Presse ist zu
jedoch zu entnehmen, dass insgesamt über 20 Rüstungsprojekte im Rahmen
der „Smart Defense“ abgesegnet wurden.5 Um welche Projekte es sich dabei
handelt, hat die NATO bislang nicht veröffentlicht, Abgeordneten des
Bundestages wurde auf Nachfrage eine entsprechende Liste vorgelegt,
diese jedoch als Verschlussache deklariert. Neben den genannten
EU-Projekten konzentriert sich die Berichterstattung auf das Projekt
„Alliance Ground Surveillance“ (AGS) „zur Überwachung von
Truppenbewegungen auf feindlichem Gebiet“, wie Bernd Riegert berichtet
und ergänzt: „Die Kosten von fünf Milliarden Euro [die sicherlich noch
steigen werden] kann sich kein NATO-Staat alleine leisten.“6 Worum es
sich bei den übrigen beschlossenen Projekten handelt, ist wie gesagt
noch nicht vollständig bekannt, Bernd Riegert jedoch berichtet u.a., die
NATO wolle „[f]erngesteuerte Roboter zur Bekämpfung von Sprengfallen und
Bomben … gemeinsam kaufen“,7 an anderer Stelle ist auch von
Marschflugkörpern die Rede.
Dass die NATO in ihrer offiziellen Erklärung die Anschaffung so
genannter „Wirkmittel“ eher unterschlägt und stattdessen Aufklärung,
Luftbetankung und medizinische Unterstützung thematisiert, ist nicht
ungewöhnlich, täuscht jedoch nur vordergründig über die offensive
Ausrichtung dieser Kapazitäten hinweg. So ist etwa die Luftbetankung
eine Fähigkeit, auf die eine defensiv ausgerichtete Armee getrost
verzichten kann, da sie v.a. bei out-of-area-Einsätzen von Relevanz ist,
bei denen nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft des
Einsatzgebietes Verbündete ausreichende Luftwaffenstützpunkte zur
Verfügung stellen (etwa im Falle eines israelischen Angriffs auf den
Iran). Ähnliches gilt bei genauerer Betrachtung für die genannten
Projekte zur maritimen Aufklärung, die AGS und die medizinische
Einsatzunterstützung. Es ist keineswegs zufällig, dass das „Pooling &
Sharing“ der EU bislang mit dem strategischen Lufttransport
(Europäisches Lufttransportkommando)8 am weitesten entwickelt und sich
auch die „Smart Defense“ der NATO auf offensive Kapazitäten
konzentriert. Militärische Kapazitäten, die für die „nationale
Verteidigung“ als notwendig erachtet werden, werden auf absehbare Zeit
weiterhin unter nationaler Verantwortung und – soweit möglich – mit der
nationalen Rüstungsindustrie verwirklicht werden. Das Beispiel der
baltischen Staaten ist dabei irreführend: Mit ihren Einwohnerzahlen
zwischen einer und drei Millionen Menschen und einem
Bruttoinlandsprodukt von jeweils deutlich unter 50 Mrd. US$ wäre keiner
dieser Staaten im Stande, eine eigene nennenswerte Luftwaffe oder
Offensivkapazitäten zu unterhalten. Auf der anderen Seite zeugt die
Reform der deutschen Streitkräfte mit ihrem Ziel der „konsequenten
Ausrichtung auf den [Auslands-]Einsatz“9 davon, wie wenig heute noch mit
einer tatsächlichen militärischen Bedrohung gerechnet wird. Daraus
ergeben sich theoretisch beträchtliche Einsparungspotentiale bis hin zur
vollständigen Abrüstung. Die langfristig und offensiv ausgerichteten
Projekte im Rahmen des „Pooling & Sharing“ bzw. der „Smart Defense“
zielen gerade darauf ab, selbst unter wachsendem Druck der unter
Sozialabbau leidenden Bevölkerungen diese Einsparpotentiale nicht zu
realisieren, sondern in die (gemeinsame) Entwicklung von
Offensivkapazitäten umzulenken. In der Rede des EU-Ratspräsidenten van
Rompuy zum NATO-Gipfel formulierte er das so: „Europa gibt nach wie vor
200 Mrd. Euro jährlich für Verteidigung aus. Das ist eine bemerkenswerte
Summe, aber sie muss effektiver eingesetzt werden und bessere Ergebnisse
erzielen“.(10)
Demokratieabbau
So, wie im Zuge der „Pooling & Sharing“-Debatte innerhalb der EU die
Idee einer EUropäischen Armee eine neue Konjunktur erlebt, wird auch in
der Abschlusserklärung von Chicago das „Ziel einer NATO Force 2020“
erneut unterstrichen. Bei beiden soll es sich um flexibel kombinierbare
Interventionstruppen handeln, in deren strategischer Ausrichtung die
„Verteidigung“ keine nennenswerte Rolle spielt. Doch wie funktioniert
eine Armee, deren Einsatz an 28 (NATO) bzw. 27 (EU) Parlamenten
scheitern kann? Eine solche Armee funktioniert gar nicht und erst recht
nicht so, wie es sich die NATO vorstellt: schnell, effektiv und komplex.
Die flexiblen Partnerschaften (gerade mit weniger demokratischen
Staaten), die neue Strategie in Afghanistan und die Modelle Libyen und
Somalia stellen eine Reaktion auf dieses Problem dar: Natürlich ist es
nicht nur „billiger, afghanische Kräfte zu finanzieren, als eigene
Truppen zu entsenden“ (Rasmussen, s.o.), man kann somit auch die
parlamentarische Kontrolle umgehen und vermeidet (offizielle) Opfer auf
der eigenen Seite. Neben der Unterstützung für die Rebellen (unter denen
sich Kindersoldaten befanden) in Libyen ist hierfür die angestrebte
Ausweitung des strategischen Luft- und Seetransportes für die AMISOM in
Verbindung mit der Ankündigung, „weitere Anfragen der AU [Afrikanischen
Union] zur Ausbildungsunterstützung der NATO zu erörtern“ in der
Abschlusserklärung von Chicago von Belang.
Um aber zumindest Ansatzweise eine Kontrolle über solche
Konfliktszenarien zu behalten, in denen die Masse an Soldaten von
„Partnern“ verschiedenster Art gestellt werden, sind mehrere
Voraussetzungen zu schaffen. Das betrifft v.a. Spezialkräfte und
operative geheimdienstliche Fähigkeiten (wie etwa gezielte Tötungen
durch von der CIA gesteuerte Drohnen) und entsprechende dubiose
Haushaltsposten (in Deutschland etwa: „Leistungen im Rahmen des
Stabilitätspaktes Afghanistan und Südosteuropa“ und „Allgemeine
Finanzverwaltung“). Insbesondere betrifft dies aber kostenintensive
Kapazitäten zur Führung, Aufklärung und Logistik, wie sie im Rahmen des
„Pooling & Sharing“ (EU) bzw. der „Smart Defense“ entwickelt werden
sollen. Der personelle Beitrag einzelner Staaten hierzu ist oft gering.
Ein altes Vorbild etwa für diese Modelle sind die in Gailenkirchen
stationierten Aufklärungsflugzeuge AWACS, die eine zentrale Rolle bei
der vernetzten Operationsführung und allen Luftkriegen der NATO
spielten. Die Flugzeuge selbst gehören dem Bündnis, ihre Besatzung ist
multinational. Gerade deshalb wurde die Beteiligung deutscher Soldaten
an AWACS-Einsätzen bereits mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht
verhandelt und letztlich beruht die heutige Fassung und Anwendungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes, das die Befugnisse des Parlaments in
Fragen der Auslandseinsätze der Bundeswehr regelt, im Wesentlichen auf
den entsprechenden Urteilen und Gutachten. Das führte u.a. dazu, dass
Deutschland während des Libyen-Krieges seine Beteiligung an den
AWACS-Überwachungsflügen über dem Mittelmeer einstellte und stattdessen
seine Partner, die das übernahmen, anbot, sie durch einen AWACS-Einsatz
in Afghanistan zu „entlasten“.
Solche Taschenspielertricks dürfen und können jedoch keine Grundlage
einer funktionierenden EU-Interventionsarmee oder einer „Global NATO“
sein. Der deutsche Verteidigungsminister etwa durfte das Abkommen zur
AGS nur unter Vorbehalt unterzeichnen.(11) Die wachsenden Kosten und
undurchsichtigen Vertragsbestimmungen hatten dazu geführt, dass der
Haushaltsausschuss seine Zustimmung zu dem Projekt vertagte. Angela
Merkel reagierte darauf mit einer Regierungserklärung, in der sie
ankündigte, dass „wir … noch intensiv diskutieren“ müssen, wie „[wir]
die Erwartungen auch an deutsche Beiträge zu gemeinsam bereitgestellten
NATO-Fähigkeiten für den Fall eines Einsatzes mit den Bestimmungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes in Einklang bringen können“.(12)
Diese Forderung war keineswegs neu. Bereits in der Sommerausgabe der
Europe’s World forderte der deutsche Diplomat und Leiter der
NATO-Sicherheitskonferenz eine „Reform parlamentarischer Veto-Praxis
hinsichtlich [deutscher] militärischer Beiträge im Rahmen
multinationaler Militärmissionen“. Nationale Beiträge sollten, „so sie
von der NATO oder der EU angefragt werden, von nationalen Vetos
ausgenommen sein“.(13) Seit dem zwitschert es die „Strategische
Gemeinschaft“ von allen Dächern und Kommandohügeln, jede relevante
Stiftung lädt ein zur Debatte um das „Spannungsverhältnis zwischen
Souveränität und ‘Smart Defense’“ – mit dem einen Ergebnis, die
parlamentarische Kontrolle zur Disposition zu stellen. Christian Mölling
etwa von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) warnte im November
2011 vor einem „Europa …, das nicht imstande ist, seine strategischen
Interessen außerhalb seiner Grenzen zu verteidigen“, weil „[d]ie Staaten
… nach wie vor darauf [bestehen], selbst über Ausrüstung und Aufbau von
Streitkräften zu entscheiden.“ Stattdessen seien die Mitgliedsstaaten
gezwungen, „das Wechselverhältnis zwischen politischer Souveränität,
militärischer Effektivität und ökonomischer Effizienz radikal neu zu
bewerten“.(14)
Unbestimmt, unkontrolliert und aggressiv
Sowohl Ischinger, als auch Mölling nehmen den Libyenkrieg zum
Ausgangspunkt ihrer Vorstöße. Während Ischinger v.a. die Enthaltung der
Bundesregierung zur Libyen-Resolution 1973 im Sicherheitsrat kritisiert,
mit der Deutschland aus dem „strategischen Mainstream“(15) ausgetreten
sei, bezieht sich Mölling v.a. auf die Tatsache, dass Italien aus
Kostengründen einen Flugzeugträger aus dem laufenden Einsatz zurückzog –
angeblich „das erste Mal, dass ein Staat Kriegsgerät wegen Geldmangels
aus einer laufenden Operation abzog“.(16) Anstatt jedoch zu fragen,
warum ein Krieg geführt wurde, obwohl weder politische Einigkeit
bestand, noch ausreichende Kapazitäten vorhanden waren und die Ziele der
beiden Haupttriebkräfte – Frankreich und Großbritannien – unklar
blieben, steht die Frage im Mittelpunkt, wie solche Kriege künftig
besser führbar werden und nationale Vetos und eine parlamentarische
Kontrolle weiter eingeschränkt werden können. Damit wächst die Gefahr,
dass die NATO noch mehr zu einer militärischen Infrastruktur wird, die
es einzelnen Mitgliedern erlaubt, etwa aus wahltaktischen Gründen Kriege
zu beginnen und auch die auf der eigenen Seite enstehenden Kosten auf
die Gesellschaften der „Partnerstaaten“ abzuwälzen. Die strategische
Unbestimmtheit, die im Abschlussdokument von Chicago zum Ausdruck kommt,
öffnet hierfür Tür und Tor. Die wenigen Uneindeutigkeiten hingegen
offenbaren einen aggressiven Charakter und sind gegen Russland
gerichtet: Es wird an der territorialen Integrität Georgiens
festgehalten wie an derjenigen des Kosovo. Von der Ukraine wird
Souveränität und Unabhängigkeit erwartet, von Serbien auch, zum Kosovo
sucht man diese Begriffe vergeblich. Kritisiert wird auch der
(angeblich) geplante russische Truppenaufmarsch „nahe den Grenzen der
Allianz“, während der Raketenschild nicht nur eine Aufklärung bis tief
in den russischen Raum hinein beinhaltet, sondern auch eine dauerhafte
Marine-Präsenz vor den europäischen Küsten. Während die atomar gestützte
Abschreckungspolitik geeignet ist, die Frontlinien des Kalten Krieges
wieder zu vertiefen, hat die NATO jede ansatzweise Beschränkung auf die
Bündnisverteidigung oder definierte Einflusszonen aufgegeben und
beansprucht eine globale Interventionsfähigkeit. Zugleich verzichtet sie
auf jegliche Kriterien für eine Intervention und versuchen ihre
Protagonisten sich jeglicher Kontrolle und Einhegung zu entledigen.
Anmerkungen
(1) Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen: Chicago Summit
Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating
in the meeting of the North Atlantic Council in Chicago on 20 May 2012,
Presseerklärung 062 (2012) vom 20.5.2012.
(2) Lisbon Summit Declaration, Issued by the Heads of State and
Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in
Lisbon, Pressemitteilung 155 (2010) vom 20.5.2010, sowie: Declaration by
the North Atlantic Treaty Organisation (NATO) and the Government of the
Islamic Republic of Afghanistan on an Enduring Partnership signed at the
NATO Summit in Lisbon, Portugal, vom 20.5.2010, www.nato.int.
(3) „Russland wird nicht vom Westen bedroht“ – Interview mit Anders Fogh
Rasmussen, in: Stuttgarter Zeitung, 12.05.2012.
(4) Bernd Riegert: Wie schlau ist Rasmussens “Smart Defense”?,
www.tagesschau.de vom 20.5.2012.
(5) Bernd Riegert: Weniger Geld, aber große Projekte, www.tagesschau.de
vom 21.5.2012.
(6) s. Anm. 4.
(7) s. Anm. 5.
(8) Mehr hierzu: Claudia Haydt: Das kriegerische Kerneuropa verleiht
sich Flügel – Zur Rolle des „Europäischen strategischen
Lufttransportkommandos“, IMI-Standpunkt 2012/014 – in: AUSDRUCK (April
2012).
(9) BMVg (2010): Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr, 30.6.2010.
(10) „Statement of the President of the European Council, Herman Van
Rompuy, at the Chicago NATO Summit“, 20.5.2012,
http://www.consilium.europa.eu/.
(11) Ausführlich hierzu: Michael Haid: Das Überwachungsprojekt »Alliance
Ground Surveillance« der NATO – Abschied von der Verantwortlichkeit des
Bundestages für militärische Angelegenheiten?, IMI-Analyse 2012/007.
(12) Bundesregierung: Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zum
G 8-Gipfel am 18./19. Mai 2012 in Camp David und NATO-Gipfel am 20./21.
Mai 2012 in Chicago, www.bundesregierung.de.
(13) Wolfgang Ischinger / Timo Noetzel: Libya could be a catalyst for
Europe’s security policy, Europe’s World, Summer 2011.
(14) Christian Mölling: Europa ohne Verteidigung – Die Staaten Europas
müssen das Wechselverhältnis zwischen politischer Souveränität,
militärischer Effektivität und ökonomischer Effizienz neu bewerten,
SWP-Aktuell 2011/A 56, November 2011.
(15) Ischinger, a.a.O.
(16) Mölling, a.a.O.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen