Mittwoch, 30. Mai 2012
Googles PageRank: Diagramm des kognitiven Kapitalismus und Rentier des gemeinsamen Wissens
von Matteo Pasquinelli
Quelle: Tlaxcala
Auf Kommunisten-online am 27: Mai 2012 – Matteo Pasquinelli untersucht, wie Google aus individuellen Handlungen und general intellect Mehrwert abschöpft und in Netzwerkswert und Reichtum verwandelt. Er beschreibt diesen Vorgang anhand des Begriffs der „kognitiven Pacht“.
Der innerste Kern von [Google] ist der PageRank-Algorithmus, den Brin und Page während ihrer Studienzeit in Stanford in den 1990er-Jahren schrieben. Sie erkannten, dass jedes Verlinken zu einer anderen Seite Ausdruck eines Urteils ist. Die Person, die den Link setzt, sagt damit, dass sie die andere Seite für wichtig hält. Sie erkannten auch, dass jeder Link im Web ein klein wenig menschliche Intelligenz enthält, und dass alle Links zusammen eine riesige Menge Intelligenz enthalten – weit mehr, als der Verstand eines einzigen Menschen auch nur annähernd besitzen könnte. Die Google-Suchmaschine durchforstet diese Intelligenz Link für Link und nutzt sie, um die Wichtigkeit aller Seiten im Web zu bestimmen. Je mehr Links auf eine Seite verweisen, desto höher ist ihr Wert. Wie John Markoff erklärt, „beutet [Googles Software] das menschliche Wissen und Entscheidungen über das, was wichtig ist, systematisch aus“. Jedes Mal, wenn wir einen Link setzen oder auch nur einen bestehenden anklicken, füttern wir das Google-System mit unserer Intelligenz. Wir machen die Maschine ein wenig klüger – und Brin, Page und die Google-Aktionäre ein wenig reicher.
Nicholas Carr, The Big Switch (1)
Die Umkehr des Panoptikons: Google als maschinischer Parasit des gemeinsamen Intellekts (oder: die Produktion von Wert)
Ein Großteil der Kritik an Google konzentriert sich auf das imperiale Wesen seines Monopols: seine dominante Position, die Datenschutzprobleme, die Zensur, die globale dataveillance. Studien zur molekularen Ökonomie im Innersten dieser Vorherrschaft gibt es dagegen nur wenige. Während viele kritische Beiträge zu Google Foucaults Jargon missbrauchen und sich der Vorstellung eines digitalen Panoptikons hingeben, entspringt die Macht Googles einer ökonomischen Matrix, die von der kabbalistischen Formel des PageRank bestimmt wird – jenem ausgeklügelten Algorithmus, der die Wichtigkeit einer Webseite und die Hierarchie der Google-Suchresultate bestimmt.(2) Wie sich im Folgenden zeigen wird, lässt sich die Funktion von PageRank problemlos nachvollziehen. Eine „politische Ökonomie“ dieses Apparats ist jedoch noch ausständig.
Auch wenn die biopolitische Dimension Googles viel diskutiert wird (oft im genannten post-strukturalistischen Jargon), so fehlt immer noch eine bio-ökonomische Analyse, die erklärt, wie Google aus unserem Leben und dem gemeinsamen Intellekt Wert schöpft und in Netzwerkwert und Reichtum umformt. Auch wenn es oft missbraucht wird, macht das Foucaultsche Paradigma durchaus reale Probleme sichtbar, allerdings nur zum Teil: Die Vormachtstellung Googles ist nicht einfach etwas metaphysisch Gegebenes, sondern beruht auf einer Technologieplattform und dem Geschäftsmodell der Suchmaschine. Wie Paolo Virno meint, sollten wir in unserem Verständnis von Biopolitik vom Potenzial unseres lebenden Körpers und von der Arbeitskraft ausgehen: Die biopolitischen Strukturen folgen als Apparat, welcher der Erfassung dieses Potenzials dient.(3) Die Metapher des Panoptikons muss umgekehrt werden: Google ist nicht bloß ein Instrument der dataveillance, das von oben auf uns herabblickt, sondern ein Apparat der Wertschöpfung von unten. Im Besonderen schafft und akkumuliert Google Wert durch den PageRank-Algorithmus und durch die Vermittlung gemeinschaftlichen Wissens – dies ist das zentrale Thema. Die politische Ökonomie von Google beginnt mit der politischen Ökonomie des PageRank.
Die erste Beschreibung von Googles PageRank und der Ausgangspunkt für das unternehmerische Abenteuer von Sergey Brin und Lawrence Page war in ihrem Paper The Anatomy of a Large-Scale Hypertextual Web Search Engine aus dem Jahr 1998 enthalten.(4) Der PageRank-Algorithmus führte einige revolutionäre Veränderungen in die Technologie der Informationsbeschaffung sowie in die Suchmaschinentechnologie der späten 1990er-Jahre ein: Der scheinbar flache Ozean des Internet wurde von Google nach Sichtbarkeit und Wichtigkeit in dynamische Hierarchien umgeformt. Das Ranking einer Webseite ist recht einfach zu verstehen – ihr Wert wird durch die Zahl und Qualität der auf sie verlinkenden Seiten bestimmt. Ein Link, der von einem Knoten mit hohem Ranking ausgeht, hat mehr Wert, als ein Link von einem Knoten mit niedrigem Ranking.
Während Suchmaschinen wie Yahoo in den 1990er-Jahren das Web noch von Hand indizierten und sie der typischen Baumstruktur des enzyklopädischen Wissens anglichen, erfand Google eine Formel, die es ermöglichte, einem semantischen Wert quer durch die Dynamik und das Chaos des Hypertexts zu folgen. PageRank begann, Webseiten aufgrund ihrer Beliebtheit zu beschreiben, und die Suchmaschine produzierte Ergebnisse, die nach diesem Kriterium hierarchisiert waren. Neben Yahoos Bäumen und Googles Rankings gibt es noch zahlreiche andere Techniken der Informationsbeschaffung.(5) Die Software des PageRank-Algorithmus ist ein höchst komplexes Konstrukt, das sich nur professionellen Mathematikern erschließt. Dieser Beitrag beschränkt sich daher auf jene allgemein verständlichen Aspekte, die für eine erste politische Ökonomie dieses Apparats notwendig sind.
Googles Auge,
von Richard and Slavomir Svitalsky
Dieses Diagramm hat keinerlei Ähnlichkeit mit der zentralisierten Struktur des Panoptikons, das von Foucault in Überwachen und Strafen beschrieben wird.(7) Das flüssige, hypertextuelle Wesen des Web (und der Noosphäre im Allgemeinen) erfordert eine andere Illustration. Ein Diagramm des kognitiven Kapitalismus lässt sich intuitiv nachvollziehen, wenn in der Struktur des Hypertexts jeder symmetrische Link von einem asymmetrischen Vektor für Energie, Daten, Aufmerksamkeit oder Wert ersetzt wird. Was PageRank sichtbar macht und misst, ist diese asymmetrische Verfasstheit jedes Hypertexts und jedes Netzwerks.
Die Inspirationsquelle für PageRank war das akademische Zitiersystem. Der „Wert“ einer akademischen Publikation wird bekanntermaßen nach einem sehr mathematischen Verfahren ermittelt, in dem die Anzahl der Zitate in anderen Artikeln ausschlaggebend ist, die auf den betreffenden Beitrag verweisen. Daher entspricht das Ranking für eine akademische Zeitschrift der Summe aller in anderen Publikationen auf sie verweisenden Zitate. Wie Brin und Page erklären:
Das akademische Zitierverfahren wurde auf das Web angewandt, indem die Zitate bzw. Links auf eine bestimmte Seite gezählt wurden. Dies vermittelt einen ungefähren Wert der Wichtigkeit oder Qualität einer Seite. PageRank führt diese Idee weiter, indem nicht alle Links aller Seiten gleich gezählt werden, und indem eine Normalisierung aufgrund der Anzahl der Links auf einer Seite vorgenommen wird. (8)
Diese im Medium Buch verwurzelte Entstehungsgeschichte von PageRank sollte nicht unterschätzt werden. In ähnlicher Weise lässt sich nämlich in der Gesellschaft des Spektakels und ihrer schillernden Marken-Ökonomie der Wert jedes kognitiven Objekts beschreiben. In den Massenmedien wird der Wert einer Ware hauptsächlich durch eine Bündelung der Aufmerksamkeit und des kollektiven Begehrens hergestellt. Von akademischen Veröffentlichungen über Handelsmarken bis zum Internet-Ranking kann überall von den gleichen Verfahren der Wertkonzentration ausgegangen werden. So wie die digitale Kolonisierung jeder beliebigen Offline-Erscheinung eine Online-Präsenz verlieh, ist die Matrix der sozialen und der Wertbeziehungen in den Cyberspace abgewandert und kann nun durch Suchmaschinen nachverfolgt und gemessen werden. Insbesondere PageRank beschreibt den Aufmerksamkeitswert jedes Objekts in einem Maß, welches ihn zur wichtigsten Quelle der Sichtbarkeit und Autorität sogar gegenüber den Massenmedien gemacht hat. PageRank enthält eine Formel der Wertakkumulation, die hegemonial ist und über mediale Grenzen hinweg angepasst werden kann: Ein nützliches Diagramm, das die Aufmerksamkeitsökonomie und die kognitive Ökonomie im Allgemeinen beschreibt.
Der Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie ist von Nutzen, wenn man beschreiben will, wie der Wert einer Ware heute (teilweise) durch eine medial angetriebene Akkumulation sozialen Begehrens produziert wird.(9) Andere Denkschulen sprechen hier von „kulturellem Kapital“ (Pierre Bourdieu), „kollektivem symbolischen Kapital“ (David Harvey) oder „allgemeinem Intellekt“ (besonders der eher kognitiv ausgerichtete Post-Operaismus). Vor dem Internet wurde dieser Prozess als generische kollektive Kraft beschrieben; mit dem Internet können die Strukturen der Netzwerkbeziehungen um ein bestimmtes Objekt leicht nachverfolgt und gemessen werden. PageRank ist die erste mathematische Formel, die den Aufmerksamkeitswert jedes Knoten in einem komplexen Netzwerk sowie das allgemeine Aufmerksamkeitskapital im ganzen Netzwerk kalkuliert. Worin besteht der von PageRank gemessene Wert? Interessanterweise ist jeder Link und Aufmerksamkeitsvektor nicht einfach eine instinktive Geste, sondern die Konkretisierung von Intelligenz und oft ein bewusster Akt. Wenn es in Mode ist, die Netzwerkgesellschaft als Zusammenwachsen von „Wunschströmen“ zu beschreiben, dann muss berücksichtigt werden, dass diese Ströme mit Wissen besetzt sind und der Tätigkeit einer gemeinschaftlichen Intelligenz angehören.
In dem Zitat am Anfang dieses Artikels hat Nicholas Carr die Funktionsweise von Googles PageRank sehr gut beschrieben – wie er sich aus unserer kollektiven Intelligenz nährt und wie auf der Grundlage dieser gemeinschaftlichen Intelligenz Wert produziert und akkumuliert wird. PageRank schafft so seine eigene Aufmerksamkeitsökonomie, doch ein Großteil dieses Aufmerksamkeitskapitals beruht eigentlich auf intellektuellem Kapital, da jeder Link eine Verdichtung von Intelligenz darstellt. In diesem Sinne ist Google ein parasitärer Apparat, der den von der gemeinschaftlichen Intelligenz produzierten Wert abschöpft.(10)
PageRank: Ein Diagramm des kognitiven Kapitalismus (oder: der Netzwerkwert)
Kann eine Netzwerktheorie ohne einen Begriff des Netzwerkwerts auskommen, ohne eine Vorstellung des Werts, der spezifisch für das Ökosystem und Ökonomie des Netzwerks ist? PageRank sondiert die kognitive Dichte des Internet mit einem Mechanismus, der eben das tut – indem er jedem Knoten im Netz einen Ranking-Wert zuweist. Dieser Ranking-Wert Googles gilt inoffiziell als Währung der globalen Aufmerksamkeitsökonomie und ist Ausschlag gebend für die Online-Sichtbarkeit von Menschen und Firmen, und damit für ihr Prestige und ihre Geschäftsmöglichkeiten. Dieser Aufmerksamkeitswert wird dann auf verschiedene Art und Weise in Geldwert verwandelt. Wenn der PageRank-Algorithmus den inneren Kern der hegemonialen Matrix Googles darstellt, dann sind die aus der Werbe-Plattform Adwords erzielten Erträge eine Form der Ausnutzung dieser dominanten Position (nach dem Jahresbericht von 2008 stammen 99% der Einnahmen aus der Werbung).(11) Der PageRank Algorithmus und gigantische Datenzentren (die rund um die Uhr aktiv sind und laufend den Web-Index aktualisieren) sorgen für die Monopolstellung von Googles Werbekanälen.
Die Art, wie Google Wert erzeugt, verdient eine nähere Analyse, da Google, anders als die traditionellen Massenmedien, selbst keinen Content produziert. Google erfasst mit seinem Werbe-Syndikationsprogramm AdSense Millionen von Webseiten und Nutzern. AdSense schafft eine leichte Infrastruktur für Werbung, die in jede Nische im Web einen unauffälligen, eindimensionalen Parasiten einschleust, ohne selbst irgendeinen Content zu produzieren. Das Geld tritt über AdWords in den Zyklus ein und wird dann über AdSense an die einzelnen Blogger und Web-Firmen verteilt. Innerhalb der Internet-Ökonomie wird sowohl der Verkehr auf einer Webseite als auch die Verteilung des Werts weitgehend durch PageRank kontrolliert. Der PageRank ist der Kern der Aufmerksamkeitsökonomie im Internet, aber auch einer allgemeinen Prestige-Ökonomie, die sich auf andere Bereiche auswirkt (z.B. akademische Reputation, die Musikindustrie usw.; besonders viele Symbiose-Fälle gibt es zwischen dem Internet und der Unterhaltungsbranche).
Was PageRank identifiziert und misst, ist der Netzwerkwert, und zwar in sehr numerischer Form. Wenn eine Ware für gewöhnlich anhand ihres Gebrauchswerts bzw. Tauschwerts beschrieben wird, dann bildet der Netzwerkwert eine weitere, diese beiden Werte überlagernde Schicht und beschreibt die „sozialen“ Beziehungen der Ware. Der Begriff ist etwas unklar, denn er könnte auch auf den „Wert von Netzwerken“ verweisen (wie in Benklers viel gelobtem Buch Wealth of Networks).(12) Genau genommen wäre also von einem Netzwerk-Mehrwert zu sprechen.(13) PageRank produziert nämlich das, was Deleuze und Guattari als maschinischen Mehrwert bezeichnen – jenen Mehrwert, der im Cyberspace durch die Umwandlung des Mehrwerts des Codes in einen fließenden Mehrwert entsteht.(14) Durch PageRank hat Google nicht nur eine dominante Position in der Speicherung von Web-Indexen erreicht, sondern auch ein Monopol in der Produktion dieses Netzwerk-Werts.
ivo chadžiev
Das Diagramm von PageRank unterstreicht einen wichtigen Aspekt der Beziehungen zwischen zwei Knoten eines Netzwerks. Diese Beziehungen sind niemals rein symmetrisch: Jeder Link geht wie ein Pfeil in eine Richtung und steht für einen Austausch von Verlangen, Aufmerksamkeit und Wissen, der nie symmetrisch ist. Diese Beziehungen sind auch niemals binär und ausgewogen, sondern in Wahrheit ternär, da es immer einen dritten Knoten gibt, der sie beeinflusst, aber eine Akkumulation von Wert, der in eine andere Richtung abgezogen wird. Ein Netzwerk ist nie flach und horizontal. Die digitale Ontologie wird immer von externen Werten und materiellen Netzwerken beeinflusst, durch die analoge Welt der Arbeit und des Lebens (also durch Biopolitik und Bioökonomie). Ein Netzwerk ist niemals symmetrisch oder homogen, es ist eine topologische Oberfläche, die von molekularen Wirbeln durchzogen ist. Zwischen den vertikalen Hierarchien des tradierten Wissens und den bejubelten horizontalen Netzwerken der heutigen Wissensproduktion zeigt diese Dimension der Wirbel, dass diese beiden Achsen stets miteinander verbunden sind, und dass uns dynamische Hierarchien immer in die digitale Umgebung folgen. Googles PageRank hat genau an dieser Bewegung angesetzt, die der kollektiven Wissenssphäre und dem Internet die Gestalt von molekularen Werte-Wirbeln gibt. Wenn die semantische Topologie des PageRank, die wirbelartige Akkumulation von Wert in Netzwerken, und der Begriff des maschinischen Mehrwerts zusammengeführt wird, dann ist das ein Anfang, ein neues Diagramm der Wissensökonomie, oder, genauer gesprochen, des kognitiven Kapitalismus (die kapitalistische Dimension Googles ist ja offensichtlich) zu entwerfen.
Google-Liebe, von comictan
Politische Ökonomie im Google-Zeitalter:
Der Begriff der kognitiven Rent
Das Anliegen der voran gegangenen Absätze war es zu zeigen, wie Wert kollektiv im Netzwerk produziert und von der immateriellen Fabrik Googles absorbiert wird. Nach der Wert-Produktion ist es wichtig, die Stufen und Verfahren der Akkumulation zu klären. Die Fallstudie Google veranschaulicht dabei die allgemeinere Frage, wie der kognitive Kapitalismus Mehrwert abschöpft und „Geld macht“. Um die Wissensökonomie und Kulturindustrien der Gegenwart zu verstehen, ist es wichtig, zu einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Geschäftsmodellen zu kommen und möglicherweise zu einer Veranschaulichung der maschinischen Sammlung verschiedener Akkumulations-Regimes, und nicht einfach einer Topologie.
Im Grunde gelten in der Beschreibung der Wissensökonomie zwei verschiedene Paradigmen: Auf der einen Seite das geistige Eigentum, auf der anderen das kulturelle Kapital. Die Definition der Kreativindustrien betont zum Beispiel die „Ausbeutung geistigen Eigentums“(15), während der gefeierte Begriff der „Kreativökonomie“ von Richard Florida auf der Ausbeutung des allgemeinen Humankapitals einer Stadt beruht.(16) Ähnlich betont der italienische Post-Operaismus die Produktivkraft des allgemeinen Intellekts der früheren industriellen Arbeiterschaft und der post-fordistischen Multituden unserer Tage.(17) Aus dieser Sicht wird die kollektive Produktion von Wissen ständig von den Unternehmen des kognitiven Kapitalismus abgeschöpft, ähnlich wie einst Fabriken der Mehrwert aus der lebenden Arbeitskraft der Arbeiter abzogen. Ansätze wie Benklers „soziale Kooperation“ oder Lessigs „freie Kultur“ löschen die Dimension des Mehrwerts dagegen vollkommen aus. All diese Denkrichtungen sollten mit der gleichen Frage konfrontiert werden: wie wird Mehrwert in der Wissensökonomie akkumuliert und abgeschöpft?
Der kritische Diskurs wird indessen von einer Fixierung auf das geistige Eigentum und den Konflikt zwischen den globalen Copyright-Regimes und den Anti-Copyright-Bewegungen monopolisiert. Google ist dagegen ein klares Beispiel eines technischen Imperiums, das ohne ein strenges Copyright-Regime auskommt. Google ist sogar ein Befürworter des kostenlosen Content, der im Internet von der kostenlosen Arbeitskraft der Nutzer produziert wird. Der Fokus muss sich vom geistigen Eigentum auf die Frage der kognitiven Miete verlagern, damit ein Verständnis der Mehrwertabschöpfung und -akkumulation im Bereich der digitalen Wirtschaft möglich wird.
Die Monopole des geistigen Eigentums liegen heute offen zutage. Die Musikindustrie verteidigt dieses Regime vor den Gefahren der digitalen Kultur. Dieses Regime kann als Miete von geistigem Eigentum oder kognitive Miete verstanden werden, da die Medienunternehmen einfach nur das Copyright auf ein Werk ausbeuten, das von Künstlern geschaffen wurde und praktisch keine Reproduktionskosten hat. Auch Google funktioniert auf der Grundlage der kognitiven Miete, obwohl hier kein geistiges Eigentum beteiligt ist. Welche Form der kognitiven Miete ist also in Google verkörpert? Nach dem Modell des Panoptikons ist es nun auch nötig, einige der Grundannahmen zur Netzwerk- und Wissensökonomie umzukehren, damit wir verstehen können, wie Google zum Googlepol wurde.
Oğuz Gürel
Ein neues Verständnis der Miete, das kürzlich vom Post-Operaismus ausgegangen ist, macht die parasitäre Dimension des kognitiven Kapitalismus deutlich. In einem 2007 in der Zeitschrift Posse erschienenen Artikel führen Antonio Negri und Carlo Vercellone die Miete als zentralen Mechanismus des Übergangs vom industriellen zum kognitiven Kapitalismus ein.(18) In der klassischen Wirtschaftstheorie wird die Miete vom Gewinn unterschieden. Miete wäre demnach ein parasitärer Ertrag, den ein Eigentümer durch den bloßen Besitz eines Gutes erzielen kann; für gewöhnlich ist dabei Landbesitz gemeint. Andererseits gilt der Gewinn als produktiv und wird mit der Fähigkeit des Kapitals verbunden, Mehrwert (vom Warenwert und der Arbeitskraft) zu generieren und abzuschöpfen.
Vercellone kritisiert die Idee eines „guten, produktiven Kapitalismus“, indem er hervorhebt, dass die Umwandlung von Miete in Gewinn ein charakteristischer Zug der gegenwärtigen Ökonomie ist.(19) Dem entspricht sein Slogan für den kognitiven Kapitalismus: „Miete ist der neue Profit“. Aus dieser Sicht lässt sich Google als globaler Vermieter verstehen, der den Boden des Internet ausbeutet, ohne dass Umzäunungen oder die Produktion von Content nötig wären. Die Miete als Form taucht also im postindustriellen Zeitalter erneut auf – als parasitärer Apparat in neuen materiellen und immateriellen Umgebungen.
Für Negri und Vercellone besteht die zentrale Achse der gegenwärtigen Valorisierung in der „Enteignung der Allmende durch Miete“. Dies erklärt den ständigen Druck für ein stärkeres Regime des geistigen Eigentums: Copyright ist eine der Strategien der Miete, die Allmende zu enteignen und künstliche Knappheit einzuführen. Nach Negri und Vercellone und zahlreichen anderen Autoren ist das geistige Eigentum ein Gegenstand der Spekulation, wodurch kognitive Güter, die praktisch kostenlos reproduziert werden können, mit künstlichen Kosten belastet werden. Die Frage des geistigen Eigentums als Ganzes muss jedoch noch näher behandelt werden, da die Miete nicht notwendigerweise auf neuen Wissens-Einschlüssen beruht, sondern auch auf der Ausbeutung eines gemeinsamen kognitiven Raums, so wie das bei Google und der ganzen Sphäre des Web der Fall ist. Das PageRank-Diagramm scheint auf eine Art Differentialmiete für dynamische Räume hinauszulaufen, die eine eigene Untersuchung rechtfertigen würde. (20)
Schluss: „Verlange deinen PageRank zurück“
(oder: die Wiederaneignung des Werts)
Die einzige politische Antwort auf Google wäre ein alternatives Ranking-System, das in der Lage wäre, das Monopol der Aufmerksamkeitsökonomie und die Wertakkumulation durch Google zu unterlaufen. Aber kann eine derartige monopolistische Produktion von Netzwerkwert überhaupt umgekehrt werden? Eine erste Möglichkeit könnte ein kollektiv von Hand erstellter Web-Index sein, der auf einem offenen Protokoll beruht (eine Art Wikipedia der Netzbeziehungen mit FOAF-Ontologie).(21) Google kann natürlich in seiner Rechenkapazität nicht herausgefordert werden: Ein solcher Versuch wäre dumm und primitiv. Andererseits würde die Idee eines Open Source-Page Ranks die Frage der Wertakkumulation und des Monopols außer Acht lassen. Die Idee eines OpenRank-Algorithmus wurde übrigens schnell wieder verworfen.(22) Die fatale Anziehungskraft, die Google auf die Massen ausübt, scheint mehr von seiner mystischen Macht auszugehen, alles und alle mit einem spektakulären Wert auszustatten, als von der Genauigkeit seiner Resultate. Gerüchten zufolge soll PageRank bald von TrustRank ersetzt werden, einem anderen von Stanford und Yahoo-Forschern entwickelten Algorithmus, der nützliche Webseiten von Spam trennt und eine Vertrauensgemeinschaft im Internet etabliert.(23)
Der Kampf gegen die Akkumulation von PageRank-Daten ist dem Kampf gegen die Akkumulation von Kapital und Monopolen ähnlich. PageRank ist für das Internet das, was primitive Akkumulation und Miete für den Kapitalismus sind. Eine Kritik des gegenwärtigen Modus des Networking kann nicht einfach auf einer Erzählung „gutes Netzwerk gegen böses Monopol“ aufbauen. Eine politische Antwort wird nur vorstellbar, wenn das Wesen des molekularen Dispositivs verstanden wird, welches den Netzwerkwert produziert. Der PageRank kann nicht einfach neutralisiert werden. Alle derzeit in Mode befindlichen Denkrichtungen der Peer-to-Peer-Kooperation und der „sozialen Produktion“ durch das Internet werden freilich nie zu einem brauchbaren politischen Vorschlag werden, solange sie sich nicht der Frage der Produktion und Akkumulation von Netzwerkmehrwert stellen.
Erstveröffentlichung in Konrad Becker, Felix Stalder (Hrsgb.), Deep Search: Politik des Suchens jenseits von Google, Wien: Studien Verlag, 2009
Anmerkungen
(1) Nicholas Carr, The Big Switch: Rewiring the World, from Edison to Google (New York: W.W. Norton, 2008).
(2) „PageRank“ (ohne Leerzeichen) ist eine Handelsmarke und ein Patent von Google.
(3) Paolo Virno, A Grammar of the Multitude (New York: Semiotexte 2004), S. 81–84: „Meiner Meinung nach sollten wir, um den rationalen Kern des Begriffs 'Biopolitik' zu verstehen, von einem anderen Begriff ausgehen, der aus philosophischer Sicht viel komplizierter ist: Der Begriff der Arbeitskraft. [...] Was bedeutet 'Arbeitskraft'? Das Potenzial, etwas zu produzieren. Potenzial heißt: Fähigkeit, Kraft, dynamis. Generisches, unbestimmtes Potenzial: Wo keine bestimmte Art der Arbeit bestimmt worden ist, sondern jede Art der Arbeit stattfindet, sei es die Herstellung einer Autotür, das Abernten von Birnen, das Gelaber von jemandem, der eine 'Party-Line' anruft, oder die Arbeit eines Lektors. [...] Dennoch bleibt eine Frage übrig: Warum wird das Leben als solches verwaltet und kontrolliert? Die Antwort ist absolut klar: Weil es das Substrat der bloßen Fähigkeit ist, der Arbeitskraft, die die Beschaffenheit einer Ware angenommen hat. [...] Man sollte daher nicht glauben, dass die Biopolitik selbst die Verwaltung der Arbeitskraft als eigenständige Artikulation beinhaltet. Im Gegenteil: die Biopolitik ist ein bloßer Effekt, ein Echo, eine – sowohl historische als auch philosophische – Artikulation dieser primären Tatsache, die aus dem Handel mit Potenzialen als Potenziale besteht.“
(4) Sergey Brin und Lawrence Page. „The Anatomy of a Large-Scale Hypertextual Web Search Engine“, 1998. http://infolab.stanford.edu/~backrub/google.html
(5) Vgl. Amy N. Langville und Carl D. Meyer, Google's PageRank and Beyond: The Science of Search Engine Rankings, Princeton University Press, 2006. Und: Michael W. Berry and Murray Browne, Understanding Search Engines: Mathematical Modeling and Text Retrieval (Philadelphia: Society for Industrial and Applied Mathematics, 1999). (6) Wikipedia kommentiert dieses Bild wie folgt: „Mathematische PageRanks (von 100) für ein einfaches Netzwerk (PageRanks von Google werden logarithmisch angeglichen). Seite C hat einen höheren PageRank als Seite E, obwohl sie weniger auf sie verweisende Links hat: Der Link, den sie hat, ist viel höher bewertet. Ein Web-Surfer, der einen zufälligen Link auf jeder Seite auswählt (aber mit 15 Prozent Wahrscheinlichkeit eine zufällige Seite im ganzen Web erreicht) surft 8,1 Prozent der Zeit Seite E an. (Die 15-prozentige Wahrscheinlichkeit, eine beliebige Seite anzusurfen entspricht dem Dämpfungsfaktor von 85 Prozent). Ohne Dämpfung würden alle Websurfer früher oder später bei den Seiten A, B, oder C landen, und alle anderen Seiten hätten den PageRank null. Bei Seite A wird davon ausgegangen, dass sie mit allen Seiten im Web verlinkt ist, da sie keine nach außen gehenden Links aufweist.“ Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/PageRank, 12. März 2009.
(7) Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison (Paris, Gallimard, 1975); dt.: Überwachen und Strafen (Frankfurt: Suhrkamp 1977).
(8) Sergey Brin und Lawrence Page. „The Anatomy of a Large-Scale Hypertextual Web Search Engine“, 1998. http://infolab.stanford.edu/~backrub/google.html
(9) Herbert Simon, „Designing Organizations for an Information-Rich World“, in M. Greenberger (Hg.), Computers, Communication, and the Public Interest, Baltimore: Johns Hopkins Press, 1971. Vgl. auch: T. Davenport und J. Beck, The Attention Economy: Understanding the New Currency of Business, Harvard Business School Press, 2001.
(10) Dieses Modell der Aneignung des Netzwerkkapitals jedes Knotens und jedes Users kann auf das ganze Internet angewendet werden, aber zum Beispiel auch auf soziale Netzwerke (wie Facebook und MySpace, wo die wichtigste Zahl eben die Zahl der „Freunde“ ist, die auf der jeweiligen persönlichen Seite aufscheint).
(11) „AdWords ist Googles wichtigstes Werbeprodukt und bedeutendste Einnahmenquelle (16.4 Mrd. USD im Jahr 2007). AdWords bietet Pay-per-click (PPC) –Werbung und Seiten-spezifische Werbung sowohl in Form von Text als auch Bannern. Das AdWords-Programm beinhaltet lokalen, nationalen und internationalen Vertrieb. Googles Text-Anzeigen sind kurz und bestehen aus einer Titelzeile und zwei Content-Textzeilen.“ [Quelle: Wikipedia EN-Eintrag „AdWords“ 11. März 2009]
(12) Yochai Benkler, The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom (New Haven: Yale University Press, 2006).
(13) Dieser Netzwerkwert sollte von der herkömmlichen Definition unterschieden werden: nach dem Metcalfschen Gesetz ist der Wert eines Kommunikationsnetzwerks proportional zum Quadrat der im System verbundenen Nutzer (n2).
(14) Gilles Deleuze und Félix Guattari, L‘Anti-Oedipe. Capitalisme et schizophrénie (Paris: Minuit, 1972). Dt.: Anti-Oedipus: Kapitalismus und Schizophrenie (Frankfurt: Suhrkamp 1974)
(15) Die genaue Definition der 1998 von Tony Blair ins Leben gerufenen Creative Industries Taskforce lautete: „Jene Wirtschaftszweige, die ihren Ursprung in der Kreativität, den Fertigkeiten und den Begabungen des Individuums haben, und die ein Potenzial zur Schaffung von Wohlstand und Arbeitsplätzen durch die Ausbeutung geistigen Eigentums aufweisen.“
(16) Siehe Richard Florida, The Rise of the Creative Class: And How It´s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life (New York: Basic Books, 2002)
(17) Siehe Paolo Virno, A Grammar of the Multitude. For an Analysis of Contemporary Forms of Life (New York: Semiotexte, 2004).
(18) Antonio Negri, Carlo Vercellone, „Il rapporto capitale/lavoro nel capitalismo cognitivo“, in Posse, „La classe a venire“, Nov. 2007. Web: www.posseweb.net/spip.php?article17
(19) In einer früheren Studie schreibt Vercellone: „Nach einer weit verbreiteten Meinung in der marxistischen Theorie, die auf Ricardos politische Ökonomie zurückgeht, ist die Miete ein Erbe aus vorkapitalistischer Zeit und ein Hindernis für die fortschreitende Kapital-Akkumulation. Aus dieser Sicht ist ein wirklicher, reiner und wirksamer Kapitalismus ein Kapitalismus ohne Miete.“ In: Carlo Vercellone, „La nuova articolazione salario, rendita, profitto nel capitalismo cognitivo“, in Posse, „Potere Precario“, 2006; Übers. von Arianna Bove, „The new articulation of wages, rent and profit in cognitive capitalism“, Web: www.generation-online.org/c/fc_rent2.htm
(20) Vgl. dazu meine Taxonomie der Miete in Matteo Pasquinelli, Animal Spirits: A Bestiary of the Commons (Rotterdam: NAi Publishers / Institute of Network Cultures, 2008).
(21) FOAF (Abkürzung für Friend of a Friend) ist eine maschinenlesbare Ontologie, die Menschen, ihre Tätigkeit und ihre Beziehungen zu anderen Menschen und Objekten beschreibt. FOAF ermöglicht es Gruppen, soziale Netzwerke zu beschreiben, ohne dass eine zentrale Datenbank erforderlich wäre. Siehe: www.foaf-project.org
(22) Vgl. www.openrank.org
Danke Matteo Pasquinelli
Quelle: http://matteopasquinelli.com/docs/Pasquinelli_PageRank.pdf
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 13/11/2009
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=7335
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