IMI-Standpunkt 2009/056, in: WOZ, 8.10.2009
Die EU wird gefährlich
Die irische Zustimmung zum Lissabon-Vertrag hat den Weg frei gemacht für
eine neue EU. Aber kann das Projekt gelingen?
http://www.imi-online.de/2009.php?id=2029
8.10.2009, Tobias Pflüger
Nun haben sich die Iren und Irinnen also doch besonnen -- und halb
Europa atmet auf. Ein entschiedenes Ja sei das gewesen, lobten die
Regierungen der anderen EU-Staaten, immerhin hatten am letzten Freitag
67 Prozent der Stimmenden für die Annahme des Lissabon-Vertrags votiert.
Mit dem einzigen demokratischen Votum -- in allen anderen EU-Staaten
wurden Referenden entweder abgesetzt oder gar nicht erst erwogen -- ist
die Ratifizierung des Vertrags sehr viel wahrscheinlicher geworden. Dem
wachsenden Druck dürfte auch der tschechische Staatschef Vaclav Klaus
nicht lange standhalten.
Mit der Pistole
Aber haben die IrInnen tatsächlich über den Lissaboner Vertrag
abgestimmt? Die BefürworterInnen, die mit viel EU-Prominenz und noch
mehr Geld hantieren konnten, sprachen die Inhalte des Vertrags
vorsichtshalber gar nicht erst an. So entschied die irische Bevölkerung
eher über ihre Mitgliedschaft in der EU und über das Versprechen von
Arbeitsplätzen und Wirtschaftsaufschwung. [...] Selbst die Neutralität
des Staates, ein für die meisten IrInnen zentraler Punkt, spielte im
Wahlkampf kaum eine Rolle. Und wenn, dann wurde mit unhaltbaren
Behauptungen argumentiert. Die Neutralität würde durch den Vertrag nicht
berührt, hiess es. Dabei ist die Zusammenarbeit der EU mit der Nato ein
wesentliches Element des Vertragswerks.
Nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht Ende Juni zwar das
deutsche Begleitgesetz zum EU-Vertrag kassierte (mit ihm hatte die
deutsche Regierung die Entscheidungsbefugnis des Bundestags über
Kriegseinsätze deutscher SoldatInnen auszuhebeln versucht), den Vertrag
selber aber nicht für verfassungswidrig erklärte, scheint der Weg frei
für die Etablierung der Militärmacht EU. Denn der Vertrag verpflichtet
die EU-Mitgliedsstaaten nicht nur zur Aufrüstung (Artikel 42), sondern
im Konfliktfall auch zum gegenseitigen Beistand. Die militärische
Solidaritätsklausel (Artikel 222) ist noch strikter formuliert als die
Bündnisverpflichtung der Nato. Sie ermöglicht auch einen Einsatz des
Militärs im Innern der EU -- eine Massnahme, die etwa das deutsche
Grundgesetz ausdrücklich untersagt.
Die «ständige strukturierte Zusammenarbeit» (so das Vertragswerk) läuft
auf die Bildung eines militärischen Kerneuropas hinaus. Denn über den
Verlauf der beschlossenen Einsätze dürfen nur jene Staaten entscheiden,
die daran teilnehmen. Zudem erlaubt ein «Anschubfonds» die Nutzung von
EU-Haushaltsmitteln für militärische Zwecke. Die bisherigen EU-Verträge
verbieten das. Fest verankert im neuen Vertrag sind auch die
EU-Battlegroups (militärische Sondereinsatzkommandos) und die
EU-Rüstungsagentur, die die Aufrüstung koordiniert und -- wie von
grossen Rüstungsfirmen seit langem gefordert -- einen EU-weiten
Rüstungsmarkt etablieren will. «Fest verankert» heisst: Sie können nicht
mehr durch eine Entscheidung im EU-Rat abgeschafft werden, sondern nur
durch einen neuen Vertrag.
Auch die Machtverhältnisse werden sich ändern. Die auf 27
Mitgliedsstaaten angewachsene EU brauche schlankere Strukturen, sagen
die VertragsbefürworterInnen seit langem. Herausgekommen ist aber eine
Zentralisierung, die vor allem den Einfluss der Regierungen von
Deutschland, Frankreich und Britannien stärkt. Die kleineren Staaten
werden an den Rand gedrängt; daran ändert auch das Zugeständnis an
Irland nichts, das nun einen festen Sitz in der EU-Kommission
beanspruchen darf. «Schlankere Strukturen» heisst somit: Die Kommandos
werden oben gegeben. Der geringfügige Kompetenzzuwachs für das
EU-Parlament gleicht das nicht aus. Noch immer sind nicht die
EU-Abgeordneten die Legislative. Das nach wie vor politisch
entscheidende Gremium ist und bleibt der Ministerrat, der aus
Regierungsmitgliedern der einzelnen Staaten besteht. Ob die kleinen
Staaten auf Dauer die Dominanz der Grossen hinnehmen werden, ist nicht
ausgemacht.
Wettlauf der Dumpinglöhne
Zentral in der neuen EU, die da heranwächst, sind auch die repressiven
Elemente. Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an
den Aussengrenzen (Frontex) zum Beispiel, die sich derzeit vor allem
durch die Abwehr von Flüchtlingen im Mittelmeer und im Atlantik
hervortut, ist im Lissaboner Vertrag festzementiert. Aufgelöst werden
kann diese Agentur ebenfalls nur durch einen neuen Vertrag.
Unmittelbare Auswirkungen wird auch das Binnenmarktprinzip haben, das
den Vertrag wie ein roter Faden durchzieht und dem alles untergeordnet
ist. Was das bedeutet, ist derzeit am Beispiel der
Dienstleistungsrichtlinie zu beobachten, die früher
Bolkestein-Richtlinie genannt wurde. Diese EU-Weisung organisiert den
Wettlauf der Dumpinglöhne. Nach breitem Widerstand hatte die
EU-Kommission den Bolkestein-Hammer zurückgezogen, ein paar wenige
Ausnahmen hineingeschrieben und die Weisung den Mitgliedsstaaten wieder
vorgelegt. Nun muss sie in nationales Recht umgesetzt werden. Konkret
bedeutet das beispielsweise, dass Gemeinden künftig alle Aufträge
europaweit ausschreiben müssen, wenn sich auch nur ein einziges privates
Unternehmen daran beteiligen soll. Auflagen (wie etwa Lohnhöhe oder
Arbeitsbedingungen) dürfen keine gemacht werden; in der Regel gilt auch
weiterhin das Herkunftslandsprinzip. Damit schreibt die EU
gewissermassen die Urteile des Europäischen Gerichtshofs fest, der in
vier Fällen das EU-Recht und das Binnenmarktprinzip über
einzelstaatliche Lohn- und Tarifbestimmungen gestellt und
gewerkschaftlichen Widerstand verboten hatte (siehe WOZ Nr. 28/08).
Der Lissaboner Vertrag gibt dem Binnenmarktprinzip Verfassungsrang. Auch
wer die Finanzmärkte regulieren will, muss sich übrigens beeilen. Viele
der derzeit diskutierten Regeln werden durch den Vertrag verboten.
IMI-Standpunkt 2009/055 - in: AUSDURCK (Oktober 2009)
Das erpresste "Ja"
Schrankenlose EU-Militärpolitik nach dem Referendum in Irland?
http://www.imi-online.de/2009.php?id=2028
6.10.2009, Claudia Haydt
Am Freitag, den 2. Oktober 2009 fand in Irland die zweite Abstimmung
über den Lissabon-Vertrag statt. 67 Prozent sprachen sich für den
Lissabon-Vertrag aus, 33 Prozent dagegen. Von fairen und freien Wahlen
konnte dabei jedoch kaum die Rede sein. Besonders das Ja-Lager
argumentierte kaum mit den Inhalten des Vertrages. Die Debatte spitzte
sich zu auf die Frage der möglichen Isolation Irlands bei einem "Nein"
und auf die erhoffte Wirtschaftshilfe "aus Brüssel" zur Überwindung der
irischen Krise und zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Nach
Einschätzung von Michael Youlton, einer der Sprecher des progressiven
Nein-Lagers, war das "Nein" in den Medien im Vergleich zur "Ja-Seite" im
Verhältnis eins zu fünf unterrepräsentiert und im Verhältnis eins zu
zwanzig unterfinanziert bei der Durchführung ihrer Kampagnen im Vorfeld
der Referendums. Die Brüsseler Kommission und die europäischen
Schwesterparteien der großen irischen Parteien beließen es nicht nur bei
verbaler Unterstützung des Lissabon-Vertrags, sie finanzierten die
Ja-Kampagne massiv. Zusammen mit der Finanzierung des "Ja" durch
Privatunternehmen wie Intel und Ryanair entstand so ein massiver Druck
auf die Bevölkerung. "Die Iren stimmten mit der Pistole an der Schläfe
ab", kommentierte die konservative polnische Zeitung "Rzeczpospolita"
treffend.
Risikofaktor Tschechien
Nun muss der Lissabon-Vertrag noch in zwei weiteren Staaten ratifiziert
werden. Was oberflächlich wie ein großer Erfolg aussieht, birgt jedoch
immer noch jede Menge Risiken in sich. Der polnische Staatspräsident
kündigte zwar an, den Vertrag zu ratifizieren, nachdem Irland zugestimmt
hat, aber der tschechische Präsident Vaclav Klaus möchte mit seiner
Unterschrift warten, bis der tschechische oberste Gerichtshof über eine
zweite Klage von tschechischen Senatsabgeordneten, die am 29. September
eingereicht wurde, entschieden hat. Dadurch könnte sich die tschechische
Unterschrift bis ins Jahr 2010 verzögern. Im Frühjahr nächsten Jahres
wiederum finden in Großbritannien Wahlen statt. Die britischen
Konservativen kündigen bereits jetzt an, dass sie ein Referendum
durchführen und gegebenenfalls die britische Unterschrift zurückziehen
würden, wenn der Lissabon-Vertrag im nächsten Jahr noch nicht
abschließend ratifiziert ist. Solange noch nicht alle Unterschriften
hinterlegt und der Vertrag damit gültig ist, kann ein Land jederzeit
seine Unterschrift wieder zurücknehmen.
Leere Versprechungen
Die irische Regierung hatte im Juni diesen Jahres eine Reihe von
"Garantien" mit der Europäischen Union ausgehandelt, die die Bedenken in
der irischen Bevölkerung zerstreuen sollten. So soll Irland auch in
einer verkleinerten Kommission einen Kommissar stellen dürfen, die
irische Neutralität und Steuer- sowie Abtreibungsgesetzgebung sollen
geachtet werden. Bei der Abtreibungsfrage ging es vor allem um die
Befriedung der katholischen Kirche Irlands. Doch Analysen der Motivation
des Nein-Lagers beim letzten Referendum kamen klar zum Ergebnis, dass
das Nein vor allem bei jungen Menschen und bei Frauen favorisiert wurde.
Beide Gruppen sprechen sich mehrheitlich für liberalere
Abtreibungsgesetze aus. Wichtiger ist die Frage der Neutralität, da die
NATO-Gegnerschaft in der Bevölkerung weit verbreitet ist und eine
militarisierte Europäische Union wenige Freunde in Irland hat. Auch
Fragen der Privatisierung, der Arbeiterrechte, der Gesundheitsversorgung
und der Regulierung der Landwirtschaft spielten eine wichtige Rolle bei
der Ablehnung. Nur einem Teil dieser Bedenken wurde in den verhandelten
"Garantien" überhaupt Rechnung getragen. Doch auch sie sollen nicht Teil
des Vertragstextes des Lissabon-Vertrags werden. Damit sind sie nicht
verbindlich und haben den Charakter bloßer Absichtserklärungen.
Verfasste Militarisierung
Der irische Regierungschef Brian Cowen erklärte nach dem Referendum
"Heute ist ein guter Tag für Irland und ein guter Tag für Europa." Ganz
Europa kann er damit nicht gemeint haben, denn besonders für die ärmeren
Teile der Bevölkerung ist bei einer, durch den Lissabon-Vertrag
gestärkten neoliberalen EU-Wirtschaftspolitik, mit einer weiteren
Verschlechterung ihrer rechtlichen und ökonomischen Situation zu
rechnen. Besonders freuen über den Ausgang des Referendums dürften sich
jedoch die europäischen Militärs und Rüstungslobbyisten. Der
Lissabon-Vertrag macht die EU endgültig zu einem Militärblock. Dazu
trägt nicht zuletzt die Solidaritätsklausel (Titel VII, Art. 222) bei,
die festlegt, dass die Union im Kriegs- und Krisenfall "alle ihr zur
Verfügung stehenden Mittel (mobilisiert), einschließlich der ihr von den
Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel". Durch die
Einführung eines europäischen Außenministers (Hoher Repräsentant) mit
einem eigenen diplomatischen Corps wird die EU wahrscheinlich wirklich
handlungsfähiger in der Außenpolitik, da sie aber gleichzeitig nicht
demokratischer wird (das Parlament wird nur "informiert"), ist damit zu
rechnen, dass es vor allem darum geht, schneller Kriege beginnen und
durchführen zu können.
Dazu wird auch der neu eingerichtete Anschubfonds (Art. 41,3) beitragen,
eine Art "schwarzer Kriegskasse", in die die Mitglieder einzahlen, um
jederzeit mit einer militärischen Mission beginnen zu können. Darüber
hinaus soll sich die militärische Außenpolitik aber künftig auch aus dem
allgemeinen EU-Haushalt bedienen können, indem Regelungen erlassen
werden, die "den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu
gewährleisten". Das war unter den bisher gültigen Nizza-Gesetzen nicht
möglich. Profitieren wird von diesem Zugriff auf EU-Finanzen auch die
Rüstungsagentur, die nun Verfassungsrang erhält und nicht nur die
EU-Aufrüstung koordiniert, sondern auch die EU-Rüstungsproduktion und
Rüstungsforschung stärken soll. Ebenfalls neu ist die Möglichkeit ein
militärisches Kerneuropa im Rahmen der "Ständigen Strukturierten
Zusammenarbeit" (SSZ) zu etablierten. Mitgliedstaaten, die im
Militärbereich besonders hohe Zielvorgaben für Rüstungsausgaben und die
Bereitstellung von Truppen erfüllen, können sich zur SSZ
zusammenschließen. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Außenpolitik
wird hier nicht einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit
entschieden. So wird strukturell die Wahrscheinlichkeit für
EU-Kriegseinsätze noch höher als sie es bereits ist, verstärkt wird dies
dadurch, dass der Lissabon-Vertrag auch den Katalog der Militäreinsätze,
die in Frage kommen, noch deutlich über die so genannten
Petersbergaufgaben hinaus erweitert hat (Art. 43,1). Das "Ja" im
irischen Referendum war somit sicher kein schöner Tag für die Idee eines
friedlichen Europa.
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Informationsstelle Militarisierung
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Freitag, 9. Oktober 2009
Zwei Texte zum irischen Referendum über den Vertrag von Lissabon
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