Donnerstag, 4. September 2025
Syrische Parlamentswahlen: Ein autoritärer Neustart?
Die politische Dynamik der letzten Monate in Syrien ist geprägt von plötzlichen Wendungen und vielschichtigen, teils widersprüchlichen Prozessen. Während diverse Akteure ihre Interessen verfolgen, wechseln sich Eskalationen mit Momenten fragiler Stabilität ab.
Am 27. Juli 2025 setzte die Interimsregierung unter Ahmed Al-Sharaa für den Zeitraum zwischen dem 15. und 20. September Parlamentswahlen an. International rief dies gemischte Reaktionen hervor. Die Wahlen sollen zu einem Zeitpunkt stattfinden, bei dem die Konflikte zwischen den Regierungskräften mit ihren größtenteils sunnitischen Unterstützern und den alawitisch, kurdisch und drusisch dominierten Gegenspielern massiv eskaliert und diejenigen Teile aller Gruppen, die für einen echten politischen Wandel eintreten und die sektiererischen und gewaltvollen Dynamiken ablehnen, zunehmend marginalisiert sind.
Offiziell wurden die Wahlen als ein wichtiger und pragmatischer Schritt in Richtung politischer Stabilität, Erneuerung und nationaler Versöhnung proklamiert dargestellt. Ob sie zu diesem Zeitpunkt wirklich die Kräfteverhältnisse in Syrien abbilden sollen und förderlich für die sehr fragile Entwicklung hin zu einem inklusiven und pluralen System sind, ist jedoch fraglich.
Formelle Rahmenbedingungen
Die mit legislativen Rechten ausgestattete Nationalversammlung sieht 210 Parlamentssitze vor, von denen 140 indirekt gewählt und 70 vom Präsidenten Ahmad Al-Sharaa direkt ernannt werden. Als Wahlsystem wurde ein zweistufiges Modell eingeführt. Zunächst werden auf Provinzebene Unterausschüsse gebildet, bestehend aus Vertreter*innen lokaler Eliten. Diese wählen dann sogenannte Wahlausschüsse mit je 30 bis 50 Mitgliedern pro Sitz, die wiederum intern über die zukünftigen Abgeordneten abstimmen. Die Zusammensetzung der Wahlausschüsse soll aus Fachleuten und lokalen Eliten bestehen, wobei davon mindestens 20 Prozent Frauen sein sollen.
Am 23. August wurde zudem die Entscheidung verkündet, die von den kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) kontrollierten Provinzen Hasakeh und Raqqa sowie das von drusischen Selbstverwaltungsbestrebungen geprägte Suweida aufgrund von vermeintlichen Sicherheitsbedenken vorerst auszunehmen.
Der Vorsitzende der Obersten Kommission für die Parlamentswahlen ist Mohammed Taha al‑Ahmad. Al-Ahmad war als Agraringenieur beteiligt im HTS kontrollierten Idlib und übernahm nach dem Sturz Assads ab Dezember 2024 die Funktion des Ministers für Landwirtschaft und Agrarreform in der Übergangsregierung. Ab Mai 2025 wurde er zum stellvertretenden Außenminister für arabische Angelegenheiten ernannt.
In der Rolle als Vorsitzender der Obersten Kommission für die Parlamentswahlen kommt Al-Ahmad nun eine machtvolle Stellung im Prozess zu: Er ist verantwortlich für die Ausarbeitung und Umsetzung des provisorischen Wahlsystems – darunter die Erhöhung der Parlamentssitze von ursprünglichen 150 auf 210, die Festlegung indirekter Wahlmechanismen über Unterausschüsse und Wahlausschüsse sowie Einhaltung eines zeitlichen Ablaufs.
Gescheiterter Dialog und politische Spaltung
Die Wahlen sollen einen Schritt im Übergangsprozess und der politischen Transformation darstellen, eingebettet in den sogenannten Nationalen Dialog, der zu Beginn des Jahres eingeleitet wurde. Die daran geknüpften Erwartungen wurden jedoch von Anfang an nicht erfüllt. Dem Interimspräsidenten wird vorgeworfen, die Beteiligten auf die der Übergangsregierung loyalen Akteure zu beschränken und oppositionelle, kurdische Vertreter*innen, unabhängige Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Gruppen und ihre Anliegen kaum zu berücksichtigen. Ergebnisse wurden vorweggenommen und die Dokumentation von Berichten und Schlussfolgerungen blieben intransparent. Dieser Mangel an wirklicher Einbeziehung und das Fehlen eines ergebnisoffenen demokratischen Dialogs deuteten bereits zu diesem Zeitpunkt auf politischen Unwillen hin, die Diversität des Landes zu repräsentieren und einen integrativen und pluralen Prozess zuzulassen
Im Lichte der vernichtenden Geschehnisse in Suweida führten die SDF im August 2025 eine Konferenz in Hasakeh durch, mit Beteiligung jener Kräfte, die sich nicht im System Sharaa wiederfinden, unter ihnen der umstrittene Drusenführer Hikmat Al-Hijri. Hier wurde deutliche Kritik an der zentralistischen politischen Ausrichtung und Praxis der Regierung geübt und ein Raum für oppositionelle Bewegung geschaffen, was wiederum auf Seiten der Zentralregierung auf große Skepsis stieß und sogleich als massive Bedrohung und Untergrabung der nationalen Einheit gewertet wurde.
Ahmed Al-Sharaa nahm unter anderem die Teilnahme Al-Hijris zum Anlass, die in Paris angesetzten Gespräche mit den SDF abzusagen. Diese waren Teil der im März geschlossenen Vereinbarung zwischen SDF und Übergangsregierung, die unter anderem die institutionelle Eingliederung aller zivilen und militärischen Einrichtungen im Nordosten in den syrischen Staat sowie die gleichberechtigte politische Teilhabe und offizielle Anerkennung von syrischen Kurd*innen vorsahen. Die Einigung schien von Beginn an auf wackligen Füßen zu stehen und war angesichts der gleichzeitig und bis dato engen Kooperation von Al-Sharaa mit der Türkei mit Vorsicht zu genießen. Dennoch gab es nichtsdestotrotz Anlass für vorsichtigen Optimismus und Hoffnung auf eine echte Öffnung von Damaskus für kurdische Interessen.
Die drastische Reaktion Sharaas in Form der Absage der Folgegespräche in Paris löste wiederum weitreichende Konsequenzen für die ursprünglichen Ziele des März‑Abkommens aus und sorgte für erneute Eskalation zwischen SDF und Zentralregierung.
Die Rolle der Diaspora
Neben einer breiten Unterstützerszene für Al-Sharaa gibt es in Deutschland relevanter werdende syrische, darunter kurdische Stimmen, die entweder von Beginn an kritisch und ablehnend waren oder sich zunehmend von den zentralistischen Motiven und fragwürdigen Praktiken der Übergangsregierung und ihrer Unterstützer distanzieren. Sie wünschen sich einen pluralen demokratischen Prozess und versuchen, zu einer progressiven Transformation Syriens beizutragen. Ihre Perspektiven und alternativen Forderungen zu stärken und einzubinden, wäre für die derzeitige Dynamik elementar. Viele von ihnen riskierten einst ihr Leben für eine freie syrische Gesellschaft. Die scheinbare Instrumentalisierung demokratischer Prozesse durch eine Regierung, die nicht bereit ist, die Prinzipien von Inklusion und Pluralismus zu garantieren, stellt eine bittere Enttäuschung für sie dar.
Gleichzeitig trifft die Nachricht der Parlamentswahlen bei vielen Syrer*innen in Deutschland auf eine Gemengelage, die bestimmt ist durch die diversen Herausforderungen, die ihre Situation in Deutschland ausmacht.
Nach einem in weiten Teilen extrem rassistisch geführten Wahlkampf, den Wahlerfolgen von AFD und CDU bei den Bundestagswahlen und einer Aussetzung des Familiennachzugs stehen sie einer zunehmend feindseligen bis bedrohlichen deutschen Gesellschaft gegenüber sowie einer Bundesregierung, die ihnen permanent Unsicherheit vermittelt und kaum Handlungsspielräume für Selbstbestimmung und politische Teilhabe gewähren will.
Trotz einer hohen Zahl an Einbürgerungen hat die große Mehrheit der Syrer*innen in Deutschland bisher keine deutsche Staatsbürgerschaft erlangt und lebt in einer Zwangslage, die ihre gleichberechtigte Teilnahme an politischen Prozessen sowohl in Deutschland als auch in Syrien nahezu unmöglich macht. Immer noch werden ihnen Reisen nach Syrien – etwa um Angehörige nach Jahren des Kriegs wiedersehen zu können, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen oder Dokumente zu erneuern – von deutscher Seite verwehrt. Viele schrecken davor zurück, da sie um ihren Aufenthalt in Deutschland nicht riskieren wollen.
Gleichzeitig war bisher auch seitens des syrischen Präsident Al-Sharaa zumindest öffentlich nicht zu vernehmen, dass er sich bei den mehrfachen Treffen mit Vertreter*innen der Bundesregierung für die Interessen der syrischen Community stark gemacht hätte.
Eine hypothetische Teilnahme am ohnehin sehr selektiven syrischen Wahlprozess wäre für Individuen in der deutschen Diaspora also sehr voraussetzungsvoll und bliebe zu diesem Zeitpunkt jenen vorbehalten, denen die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft gelungen ist und die damit reisefähig sind und zudem über gültige syrische Papiere verfügen.
Die schnelle Verkündung: Ein planloser Versuch zum Machterhalt?
Die kurzfristige und unvermittelte Ankündigung der Wahlen nach den brutalen Auseinandersetzungen in Suweida, bei dem vor allem Regierungsgruppen für massive Menschenrechtsverbrechen verantwortlich gemacht werden, wirft die Frage auf, was die Übergangsregierung mit diesem abrupten Schritt beabsichtigt. Es scheint, als sei sie eher einem Impuls als einer Strategie folgend darum bemüht, die Macht zu sichern und politische Interessen in einem zunehmend fragilen Kontext zu bündeln.
Präsident Ahmad al-Sharaa versucht zwar sowohl international als auch innerhalb des Landes sich als Vermittler darzustellen, ist aber mit massiven internen Spannungen und dem Verlust von staatlicher Kontrolle konfrontiert, während er jenseits der eigenen Klientel immer mehr an Glaubwürdigkeit einbüßt. In dieser Situation Wahlen anzusetzen, legt das Motiv nahe, den schwindenden Einfluss des Zentralstaats in einer zunehmend sektiererisch geprägten Gesellschaft festigen zu wollen.
Die unterschiedlichen Interessen und tiefen Konflikte zwischen den Akteuren der verschiedenen syrischen Gruppen (Alawit*innen, Sunnit*innen, Kurd*innen, Drus*innen und andere) sollen durch symbolische Wahlen eingehegt werden, ohne einen echten demokratischen Prozess zu ermöglichen, noch die nötigen Bedingungen für eine tatsächliche nationale Einigung schaffen.
Der Vorsitzende der Obersten Kommission für die Parlamentswahlen Taha Al-Ahmad steht dabei für eine vermeintlich technokratische Verwaltungsstruktur, die jedoch stark mit dem Übergangsregime unter Präsident al-Sharaa verflochten ist. Al-Ahmads Aufgabe, Wahlsysteme zu gestalten und administrative Strukturen zu etablieren, zeigt den nahezu plumpen Versuch, autoritär gefärbte Legitimität über formale Verfahren zu forcieren. Im Lichte der Gesamtsituation erscheint dies als ein autoritäres taktisches Manöver, das nationale Einheit erzwingen und Fakten für den weiteren Übergangsprozess schaffen soll und damit die verheerende und gewaltvolle sektiererische Dynamik zementiert.
Autoritäres Manöver statt Pluralismus und echte Verständigung
Für Syrer*innen, im Inland und außerhalb, die große Hoffnungen auf Veränderung hatten, sind die letzten Monate geprägt von massiver Gewalt und Angst vor der Zukunft. Fassungslos müssen sie mit ansehen, wie Syrer*innen einander umbringen und der Albtraum von Sektierertum und Blutrache Wirklichkeit wird. Das Gebot der Stunde für Al-Sharaa wäre es, Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit für alle in Syrien lebenden Gruppen und Menschen herstellen und sie vor brutaler Selbstjustiz und Menschenrechtsverbrechen schützen. Danach sieht es derzeit nicht aus, im Gegenteil. Die Demonstration von Seriosität, dem nahezu als Drohgebärde dienende Anspruch nationaler Einheit und selbst die Strafverfolgung von Tätern und das Gedenken an Verbrechen des Assad-Regimes wirken im Gesamtbild performativ. Offenbar zielen sie darauf ab, westliche Regierungen von der politischen Erneuerung Syriens zu überzeugen, und dies durchaus mit Erfolg.
Mit Blick auf die Wahlen wird sich bemüht, Legitimität aufzubauen, etwa durch die Einladung internationaler Beobachter*innen. Zentrale Forderungen wie Transparenz, inklusive Partizipation und Berücksichtigung der Diaspora bleiben dennoch weitgehend unberücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund macht der beschleunigte und kaum vorbereitete Ablauf der Wahlen unter Ausschluss von drei Regionen den Eindruck einer gezielten Machtdemonstration, die eine plurale und diverse politische parlamentarische Repräsentation untergraben soll. So werden weiterhin undemokratische Strukturen reproduziert, Regionen mit selbstverwalteten Strukturen oder separatistischen Tendenzen bleiben politisch marginalisiert, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung wird verstärkt. Das Agieren der Zentralregierung gleicht einem autoritären Neustart und verhöhnt damit die einstigen Ziele der syrischen Revolution, die für Würde, Freiheit und Gerechtigkeit eintrat.
Dabei bräuchte der politische Übergang in Syrien demokratische Wahlen als Rahmen- und Erfolgsbedingung für eine tiefgreifende Transformation, die auf der Anerkennung und Beteiligung aller politischen, ethnischen und religiösen Gruppen basiert. Ohne eine echte politische Öffnung, die die Souveränität des Staates mit den Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten vereinbart, werden die Parlamentswahlen jedoch einen Schritt in Richtung autoritärer Herrschaft markieren, der weitere sektiererische Gewalt und politische Fragmentierung nach sich zieht.
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