Montag, 23. August 2010

Don Pablo und der Müll von Mexiko-Stadt

Die Pepenadores leben seit Generationen vom Abfall, den die Riesenstadt ungetrennt wegwirft und unter freiem Himmel lagert

In Mexiko-Stadt werden tagtäglich 12 500 Tonnen Müll ungetrennt weggeworfen. In den Abfallbergen schlummern beträchtliche Risiken und Ressourcen. Pablo Téllez und seine Pepenadores wissen das längst.

Alex Gertschen, Mexiko-Stadt

Im Osten von Mexiko-Stadt liegt eine Sperrzone. Weder die zwei einsamen Polizisten beim Schlagbaum noch der herkömmliche Gitterzaun lassen ihre hermetische Abriegelung erahnen. Das verbotene Gelände ist die städtische Mülldeponie. «Bordo poniente», westlicher Rand, wird sie genannt, weil sie an die kümmerlichen Überreste des einst weit über 1000 Quadratkilometer grossen Sees von Texcoco grenzt. Jeden Tag werden 12 500 Tonnen Müll hergekarrt, den die Bevölkerung achtlos wegwirft und der hier unter freiem Himmel gelagert wird. Mit den Abfallmassen entschwindet in der Deponie an der Peripherie auch das Bewusstsein von der ökologischen Krise und ökonomischen Verschwendung, die diese bedeuten.

Stinkende Mondlandschaft

Der Abfall bedeckt fast 700 Hektaren. Das entspricht ungefähr der gleichen Anzahl Fussballfelder. Zwischen 18 und 25 Meter hoch sind die aufgeschütteten Hügel, die in der Sonne flimmern, wo sie noch nicht mit Erde überzogen worden sind. Ein säuerlicher Gestank liegt über dieser Mondlandschaft. Weil der Müll nicht getrennt wird, besteht er dem Gewicht nach zu rund der Hälfte aus organischem Material. Dieses ist der Nährstoff anaerober Bakterien, die giftige Gase produzieren. Wissenschafter der Nationalen Autonomen Universität (Unam) gehen davon aus, dass der Bordo poniente die wichtigste Quelle von Methan-Emissionen der Stadt ist.

Laut Sergio Palacios vom Geologischen Institut der Unam ist neben dem Treibhauseffekt des Methans die Verunreinigung des Grundwassers die gravierendste Gefahr, die von der offenen Deponie ausgeht. «Regen und Abfall erzeugen am Grund einen Saft von Säuren, der versickern kann», sagt er. Jorge Sánchez vom Verband mexikanischer Sanitär-Ingenieure schätzt dieses Risiko geringer ein. Der Boden sei durch eine Membran abgedichtet worden und die Gase führten höchstens zu lokalen Explosionen, entgegnet er. Er bedauert vielmehr, dass das Biogas nicht zur Energiegewinnung genutzt wird.

Die Meinungsunterschiede mögen mit dem lückenhaften Wissen über die Deponie zu tun haben, welches wiederum deren Unzugänglichkeit für Wissenschafter und Behörden geschuldet ist. Pablo Téllez heisst der Mann, der über den Unrat der Millionenstadt verfügt, als wäre es sein eigener. Er ist der Führer der sogenannten Pepenadores, die den Müll nach Materialien durchwühlen, die sie der Organisation von «Don Pablo», wie sie ihn ehrfürchtig nennen, verkaufen können. Sein Vater entdeckte bereits vor Jahrzehnten, dass die Hauptstädter als Abfall betrachten, was sich in klingende Münze verwandeln lässt. Pablo übernahm von ihm die Leitung der auf über 1000 geschätzten Pepenadores. Bald wird der Mittsechziger sie seinem Sohn Javier vererben. Eingeweihte sagen, die Téllez seien so steinreich geworden.

«Sie sind eine verschworene, Fremden gegenüber sehr misstrauische Gemeinschaft», sagt Atenodoro Reyes über die Pepenadores, als wir auf die Barriere zufahren, an der die zwei Polizisten stehen. Zutritt haben nur die Müllwagen, ein paar Dutzend Arbeiter, die im Auftrag der Regierung die Förderbänder bedienen und unterhalten, sowie jene Pepenadores, die für zwei Firmen den Abfall durchsuchen, der bereits durch die Hände von Pablo Téllez' Leuten gegangen ist. Reyes arbeitete als Gymnasiast an den Förderbändern. Sein Vater ist seit 15 Jahren Angestellter einer der beiden erwähnten Firmen.

Rechtsfreier Raum

Einmal hätten Téllez' Mannen neugierige Journalisten verjagt und deren Kameras zertrümmert, erzählt Reyes. Ein andermal sei ein Lastwagenfahrer fast totgeprügelt worden. Er hatte unvorsichtigerweise ein brandneues Auto geschrammt, das einem von Téllez' Söhnen gehörte. «Die Behörden vermeiden es, herzukommen. Dies ist ein rechtsfreier Raum», sagt Reyes, der heute als Ingenieur für die Unam Recycling-Maschinen austüftelt. Er erklärt sich die Aggressivität der Pepenadores mit ihrer Ächtung durch die Gesellschaft und mit handfesten wirtschaftlichen Interessen.

Auf der Suche nach Téllez stossen wir im kleinen Verwaltungsgebäude auf seine Buchhalterin, die sich überraschend zugänglich zeigt. Aluminium sei mit Abstand das meistgesuchte und bestbezahlte Material, sagt Silvia Mazadiegos. Das offene Fenster ihres Büros ist mit einem Gitter versehen, damit die Fliegen draussen bleiben. Luft und Boden wimmeln nur so von ihnen. Auch für Kupfer, Eisen, Papier und Plastic gebe es einen ordentlichen Preis. Abgerechnet werde pro Kilo, sagt die zierliche Frau, die mit ihren gestrichenen Lippen, den Stöckelschuhen und ihrem Uni-Abschluss nicht recht in die schmuddelige Umgebung passt.

Laut Mazadiegos kommt «ein fauler Pepenador so auf 300 bis 350 Pesos die Woche, ein fleissiger auf bis zu 900». Atenodoro Reyes meint nach dem Gespräch, das sei glatt untertrieben. Weniger als 500 Pesos (rund 40 Franken), fast das Doppelte des Mindestlohnes, verdiene niemand. Das grosse Geld aber macht Pablo Téllez mit dem Weiterverkauf des vermeintlichen Mülls an die Industrie. Plötzlich steht er in der Tür. Er ist kleingewachsen, hat eine Knollennase, trägt T-Shirt, Jeans und eine gelbe Baseball-Mütze. Die leutselige Buchhalterin verstummt augenblicklich, als er spröde grüsst, über seinen Sohn Javier poltert, der noch immer in den Ferien weile, und ebenso unvermittelt von dannen zieht. Es dauert ein Weilchen, bis sich die Nervosität im Zimmer legt und Silvia Mazadiegos zurück zu ihrem Redefluss findet.

Ineffizient, aber mächtig

Wieso aber können die Familie Téllez und ihre hörige Schar die Deponie in eine Sperrzone verwandeln? Mexikos Alltag ruft ähnliche Fragen auch anderswo hervor. Warum darf jemand das Trottoir annektieren, sich zum Parkplatz-Einweiser ernennen und die Autos jener zerkratzen, die ihm nichts zahlen? Wieso dienen zahlreiche Strassen des historischen Zentrums als Verkaufsflächen von Strassenhändlern? Weshalb kann ein linientreues Mitglied der mächtigen Lehrergewerkschaft seine Stelle einem Verwandten vererben? Die Antwort ist immer dieselbe: Weil die Regierung nicht fähig oder willens ist, der Allgemeinheit zu sichern, was ihrer ist, und statt der Stärke des Gesetzes das Gesetz des Stärkeren gilt.

Seit Beginn des letzten Jahres sind die Bewohner von Mexiko-Stadt dazu verpflichtet, ihren Abfall zu trennen. Laut Jorge Sánchez vom Verband der Sanitär-Ingenieure hält sich bis heute niemand ans Gesetz, weil es den gut organisierten Interessen der Müllmänner und Pepenadores zuwiderlaufe. In den Camions würden 8 Prozent und in der Deponie 2 bis 4 Prozent des Abfalls wiederverwertet. «Vergleichbare Grossstädte haben eine wesentlich höhere Quote», kritisiert er. Zwischen 15 000 und 20 000 Personen profitierten von diesem informalen, über Jahrzehnte gewachsenen System, das täglich rund 60 Millionen Pesos (5 Millionen Franken) abwerfe. Gegen deren Willen vermöge die Regierung die Abfallentsorgung nicht umzukrempeln.

Das ineffiziente System ist umso resistenter, als es vonseiten der Bevölkerung kaum Druck erfährt. «Die Hausfrau ist doch dankbar dafür, muss sie den Müll nicht selber trennen», klagt der Wissenschafter Palacios. Die ökologisch katastrophalen Folgen der Wegwerf-Kultur seien den Mexikanern noch viel zu wenig bewusst. Den nötigen Einstellungswandel könnte - neben einem Projekt wie «Residual» (siehe Kasten) - der Klimawandel einleiten.

Die häufiger und intensiver werdenden Niederschläge während der Regenzeit überfordern immer wieder das Abwassersystem. Obwohl die Behörden monatlich 2400 Tonnen Abfall aus diesem fischen, spülen die Wassermassen zwischen Juni und Oktober Unmengen an Müll in die Strassen und damit ins öffentliche Bewusstsein - bevor die Trottoirs gekehrt und die Abfälle zum Bordo poniente transportiert und dort den angewiderten Blicken und gerümpften Nasen wieder entzogen werden.


«KARNEVAL DES ABFALLS»

axg. · Die Künstler und Wissenschafter, die bei «Residual» mitmachen, zielen auf die Köpfe und die Abfalleimer von Mexiko-Stadt. Das von der Nationalen Autonomen Universität (Unam) und dem hiesigen Goethe-Institut getragene Projekt (www.residual.com.mx) möchte laut dem Kurator Gonzalo Ortega aufzeigen, dass Abfall Ressourcenverschwendung ist. Im Süden der Stadt brennt auf dem Campus der Unam ein Leuchtturm, der mit Biogas betrieben wird. Im Norden, in einer der grau in grau erbauten staatlichen Wohnsiedlungen, wo ein Baum wie ein Zeuge längst vergangener Zeiten wirkt, sind Kompost-Workshops durchgeführt worden. Im historischen Zentrum ist ein «Karneval des Abfalls» veranstaltet worden, an dem ein Dinosaurier aus PET-Flaschen oder glänzende Riesenkugeln aus Tetrapaks den staunenden Passanten aufzeigten, wozu vermeintlich wertloser Abfall verwendet werden kann.

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