Freitag, 27. August 2010

Die Psychotricks der Hartz-IV-Parteien

Wie man aus Opfern Übeltäter macht und aus Übeltätern famose Menschen.
Eine Propaganda-Analyse der Agenda-2010-Politik

ein Artikel von Holdger Platta

Vorbemerkung:

Schön wär’s ja: Wenn es um Sachliches geht, spricht der rationale Mensch auf rationale Weise mit anderen rationalen Menschen. Aber schon die Werbe-Industrie setzt da auf andere Mittel. Und auch die Propagandisten der Politik haben in dieser Hinsicht längst schon von der Werbe-Industrie gelernt. Auch sie, die Politiker, wollen Ware verkaufen, und zwar, wie die Brotfett-Hersteller in Deutschland, mithilfe von Psychotricks. Der Werbechef von LINTAS wies mich schon vor vielen Jahren darauf hin: „Wir verkaufen nicht Margarine, wir verkaufen Gesundheit.“ Deshalb die entsprechenden Werbespots dazu: joggende Jungpaare etwa bei herrlichstem Morgenwetter. „Magische Metaphorik“ nennen Werber diese Mätzchen gerne. Man kann auch „faulen Zauber“ dazu sagen. Hinzufügen muß man dann allerdings: fauler Zauber, der wirkt! Und oft – auch dieses gilt für die Politiker – entwickeln die Propagandisten jedweder Couleur sogar Werbetricks, deren Botschaft im genauen Gegensatz zu dem steht, was sie da verkaufen wollen. So beabsichtigen diese „geheimen Verführer“ (Vance Packard) zumeist nur eins: die Leute mit ihren suggestiven Tricks besoffen zu machen. Und so wollen bestimmte Neoliberale den Hungertod des Staates bereits seit längerer Zeit als hochgesunde Schlankheitskur verkaufen. Doch damit konkret:

Erster Teil: zum Begriff „schlanker Staat“

Seit Jahren schon setzen die Neoliberalen aller Hartz-IV-Parteien immer wieder darauf, uns den Abbau des Sozialstaates als etwas ganz besonders Tolles anzudrehen. Sie sprechen vom „schlanken Staat“, den es endlich zu verwirklichen gälte. Und nun sehen wir uns doch zunächst einmal die psychologisch präzis durchkalkulierte Suggestionswirkung dieser Propagandaformel „schlanker Staat“ an. Denn gerade wenn wir uns gegen die verblödende Psychologisierung von Politikbegriffen wehren wollen, müssen wir uns auf die Psychologie einlassen, die solchen Tricks zugrunde liegt. Was kommt uns also ganz spontan bei einer Redewendung wie „schlanker Staat“ in den Sinn? Und: was soll uns da in den Sinn kommen? Welchen Identifizierungssog übt eine derartige Propagandaformel aus?

Ich denke, die erste Feststellung ist: das, was für die meisten Menschen bei Menschen ein Attraktivitätsmerkmal ist – Schlankheit -, das soll durch diesen Vermenschlichungstrick eines bestimmten Politikmodells mit Namen „schlanker Staat“ auch auf diese Politik als attraktives Merkmal übertragen werden. Schon für die alte Vermenschlichungs-Formel „Vater Staat“ galt das ja. Herrschaft und Obrigkeit kamen mit dem Wärmeton einer Kind-Eltern-Beziehung daher. Doch welche Assoziationen löst die Formel „schlanker Staat“ bei uns aus?

Nun, erster Einfall ist vermutlich: „schlanker Staat“, das ist ein attraktiver Staat ohne überflüssige Fettpolster. Staat ist fast so etwas wie ein hübsches Girl in der Model-Welt. „Schlanker Staat“, tatsächlich, bedient damit ein weitverbreitetes Schönheits-Ideal. Der „schlanke Staat“ kann mithalten, auch da, wo es um Ästhetik geht. Na prima!

Zweitens: der „schlanke Staat“, das ist selbstverständlich auch der rundum gesunde Staat. Der Staat mit Idealgewicht, das ein langes Leben sichert. Ein Staat, der auch auf längeren Laufstrecken in der Konkurrenz mit anderen ganz wunderbar mithalten kann. Beiläufig bedient diese Propagandaformel mit ihrer suggestiven Überzeugungskraft also auch ein Fitness-Ideal, mitten in einer Welt des sportiven Wettbewerbs. Wie schön auch dieses!

Und drittens: der „schlanke Staat“, einzig dieser, ist ein Staat, der sich auch wohlfühlen kann in seiner Haut – und mit ihm die Bürgerinnen und Bürger in ihm. Kein Übergewicht, keine Atemnot, gutes Körpergefühl, attraktive Wohlgestalt: ein solcher Staat befriedigt auch jeden Wellness-Wunsch. Kurz: dieser „schlanke Staat“ ist ein Staat der „schönen neuen Welt“ (Aldous Huxley) – ein glücklicher, oder zumindest ins Glück gedopter, Staat. Donnerwetter, ruft man da aus, und für wen, bitteschön, ist das so? Ist das tatsächlich ein glücklicher Staat für uns alle?

Nun, es dürfte nicht überraschen: dieser gutaussehende, dieser supergesunde, dieser rundum zufriedene Staat ist selbstverständlich nicht unser aller Staat. Es ist der Staat für jene, die sich eh schon alles in ihm leisten können (sofern es käuflich ist oder die eigene Macht zuläßt): Glück, Gesundheit und Beauty-Farm, Wellness-Kuren, Fitness-Kuren und Reisen rund um den Erdball. Und außerdem: jedwedes Privileg. Mit anderen Worten: es ist der Staat derer da oben, dieser „schlanke Staat“, aber nicht unser Staat. Es ist der Staat der Eliten, aber nicht der Staat der Armen und Ärmsten. Beweise? – Beweise!

Schon mehr als zehn Jahre ist es her, daß im Deutschen Bundestag ein junger – übrigens schlanker! – Sprecher der FDP ans Rednerpult trat. Wir schreiben den 14. März 1996. Der Redner heißt Guido Westerwelle, damals schon Generalsekretär der FDP. Und seine Proklamation zum „schlanken Staat“ hatte folgenden Wortlaut:

„…die eigentliche Frage bei der Debatte ‚schlanker Staat’ aus meiner Einschätzung viel grundsätzlicher. Es geht nämlich darum, wie wir eine Bewegung in Deutschland stoppen können, wo immer mehr Freiheiten und immer mehr Rechte beim einzelnen Bürger angesiedelt werden, aber immer mehr Pflichten und immer mehr Verantwortung beim Staat.“

Diesen Satz sollte man wohl zweimal lesen, um dessen Ungeheuerlichkeit ganz zu verstehen:

• ein Repräsentant dieser Demokratie stellt Bürger und Staat in Gegensatz zueinander, dies in einer Demokratie;
• ein Oberliberaler wendet sich gegen „zu viel“ Liberalität;
• ein deutscher Jurist gegen „zu viel“ Rechtsstaat in Deutschland!

Schon dieses begreift man ja kaum. Und was mit „Pflichten“ und „Verantwortung“ des Staates gemeint war, die angeblich überhand genommen hätten, das war von diesem Herrn der FDP schon vorher aufs deutlichste auf den Punkt gebracht worden: der Sozialstaat war gemeint, den es abzuschaffen gälte, die Absicherung der Menschen vor Armut und Not. In den Worten des FDP-Hoffnungsträgers gesagt: Sozialstaat führe zur „Unfinanzierbarkeit“ unseres Gemeinwesens, Sozialstaat, das sei „Vollkasko-Gesellschaft mit Rundumbetreuung“. Schon damals also, 1996: „schlanker Staat“, das bedeutete Aufruf zu einer Politik nach der Maxime: „Regieren wir doch bitte die Menschen unten konsequent in den Hunger hinein!“ In der Tat: fraglos ein „schlanker Staat“, fraglos eine tolle „Schlankheitskur“. Nur mit dem einen kleinen Schönheitsfehler: Schlankheitskur ausschließlich für die Habenichtse!

Und an dieser Fettbekämpfungsfront führen die Propagandisten des „schlanken Staates“ auch heute noch ihren Krieg. Mag der Begriff selber noch so viel Schönes & Gesundes & Glückliches suggerieren. Die Menschen ganz unten sollen bitteschön das ganze Elend, die ganze Krankheit, die ganze Häßlichkeit dieser Staats-Verschlankungs-Idee zu spüren bekommen! Und an dieser Stelle ist – leider – auch unser aller Ex-Bundesverfassungsrichter und Ex-Bundespräsident Roman Herzog zu zitieren. Der nämlich kanzelte, vor gar nicht langer Zeit, in einer Propagandabroschüre der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ den heutigen Staat folgendermaßen ab (Titel dieser Traktätchensammlung: „Mehr Freiheit für Eigeninitiative. Moderner Staat. Schlanker Staat. Chancen für alle“):

„Wir haben <…> so viel Sozialstaat aufgebaut, daß er unsozial geworden ist. Der Staat soll aufhören, die Menschen zu entmündigen. Der übertriebene Staat gründet auf einer Lüge: Angeblich hilft er den Menschen. Aber in Wirklichkeit macht er sie abhängig von staatlicher Versorgung und erstickt so ihre Antriebskräfte. Wir brauchen einen schlanken Staat…“

Schutz der Menschen vor einem Leben weit unterhalb des Existenzminimums nichts anderes als „Entmündigung“? Versorgung der Menschen mit ausreichenden Lebensmitteln nichts anderes als drohende „Erstickungsgefahr“?! – Darauf muß man erst einmal kommen. Ich weiß nicht, was an derartigen Äußerungen verheerender ist: deren furchtbare Dummheit oder deren entsetzliche Inhumanität. Jedenfalls gilt:

Egal, wer in Deutschland das Ideal des „schlanken Staates“ beschwört, in der Konsequenz will er nur eines: die Abschaffung der Sozialstaatsgarantie. Der will, noch deutlicher gesagt, gleich eine ganze Reihe von Grundrechtsartikeln aus unserem Verfassungswerk beseitigen: Artikel 1 (Würde des Menschen) sowie Artikel 20 und 28 (in denen das Sozialstaatsprinzip unserer Demokratie ausdrücklich festgeschrieben worden ist), außerdem die Artikel 14 und 15 (in denen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, auf jeweils verschiedene Weise, unveränderbare Verfassungsforderung ist).

„Schlanker Staat“, dieser Betörungsbegriff ist ein Begriff der Torheit, sonst nichts. Sein Menschlichkeits-Sound, seine humane Bildlichkeit, soll verdummen, nichts sonst. Und die Analyse dieses Begriffs zeigt: Oberliberale entlarven sich mit diesem Begriff als Gegner der Liberalität, und ein Ex-Bundesverfassungsrichter mit ihm als Gegner unserer Verfassung. Was unten schon längst Armenhaus ist, dieser „schlanke Staat“, das ist oben längst schon Tollhaus. Mit Rationalität – ich erwähnte es anfangs schon – hat diese Staatsverschlankungsidelogie jedenfalls gar nichts mehr zu tun. Sie ist ein Werbefeldzug für Spaltung und Entmenschlichung unseres Landes: trotz und wegen seines „menschelnden“ Psychotricks in der Propagandaformel „schlanker Staat“.

Zweiter Teil: zum Begriff „Leistungsträger“

Auch diese Propagandavokabel der Neoliberalen macht sich immer auffälliger in den öffentlichen Debatten breit – und hat sich fast schon durchgesetzt: „Leistungsträger“ nennen sich die Reichen und die Superreichen, die Mächtigen und Pfründeninhaber seit einiger Zeit mit besonderer Vorliebe. Eine einzige Unverschämtheit! Dieser Begriff suggeriert – und das soll er ja auch -, daß alle anderen in diesem Lande nur noch Faulpelze oder Nichtskönner sind. Die Wahrheit ist aber:

Zum Erfolg eines Unternehmens – wie zur Wohlfahrt des Staates insgesamt – tragen immer noch alle mit bei – die arbeitenden Menschen „ganz unten“ auf jeden Fall und vielleicht auch hin und wieder die Spitzen „ganz oben“. Punkt eins. Und Punkt zwei:

Was die Oberen leisten, ist oft nur die Frechheit, daß sie sich vieles leisten: Massenentlassungen, Firmen an die Wand fahren oder ins Ausland verlegen, Steuern hinterziehen oder Schmiergelder zahlen – und eben Unverschämtheiten wie den Begriff „Leistungsträger“, eine anmaßende Selbstbeweihräucherungsvokabel, die vor Eigenlob zum Himmel stinkt. Und des weiteren: was die Oberen leisten, ist oft nur der arrogante Snobismus, sich – dank überfüllter Bankkonten – allzu vieles leisten zu können: von der Luxusjacht über Lustreisen bis zur überflüssigen Vielfliegerei, die unsere Umwelt versaut und von uns Steuerzahlern und Konsumenten auch noch bezahlt wird – allzu bereitwillig oft und kritiklos. Kurz:

Wer weiß, was Begriffe „leisten“ können, weiß auch, was dieser Begriff „Leistungsträger“ leisten soll: ideologisierend und beschönigend und verfälschend das Bewußtsein der Öffentlichkeit manipulieren – im Interesse der Herrschenden. Und übrigens: bis weit in die großen Massenmedien hinein.

Antonio Gramsci, der große italienische Marxist, sprach in diesem Zusammenhang einmal von der „Hegemonie in den Köpfen“ – von der Vorherrschaft, die man durch solche Sprachtricks auch über das Denken der Menschen erringt. Ausschließlich zu dem Zweck, die eigene – auch ganz reale – Vorherrschaft sicherzustellen. Das bedeutet: wenn nunmehr ein Begriff wie „Leistungsträger“ zunehmend in der Öffentlichkeit durchgepaukt wird, dann ist das mehr als nur Durchsetzung eines Begriffs. Das ist auch Kampf um Absicherung weiterer politisch- wirtschaftlicher Vorherrschaft der sogenannten „Eliten“. Und: das ist auch reinste Verdummungsstrategie. Aus Privilegien und Vorherrschaft macht dieses Verblödungswort Leistung und Last.

Dieser Verdummungsstrategie sollte aufgeklärte und aufklärende Wissenschaft ihre Analysen entgegensetzen. Sonst droht, was schon Immanuel Kant, der Königsberger Philosoph der Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert, als Folge solcher Nichtaufklärung konstatiert hat: Fortbestand der Unmündigkeit.

Und abschließend aufgespießt: neuerdings bedienen sich die sogenannten „Leistungsträger“ – die Mächtigen und Superreichen – noch eines zusätzlichen Tricks. Sie gemeinden in ihren Begriff von „Leistungsträgerschaft“ (sofern es ihnen in den Kram paßt) durchaus auch noch andere Bevölkerungskreise mit ein – die FDP vor allem die Angehörigen des „Mittelstands“. Der Begriff der „Leistungsträger“ soll dadurch dem Begriff der „Leistungsbezieher“ gegenübergestellt werden. Und dadurch alle arbeitenden Menschen aufgehetzt werden gegen die Arbeitslosen und alle sonstigen angeblich „lästigen“, „überflüssigen“, „parasitären“ „Kostgänger“ des Staates: gegen ALG-II-BezieherInnen also, gegen Niedriglöhner, Aufstocker, Rentner, Kranke undsoweiter. Abschließend noch mehr dazu.
Kein Wunder daher, daß der Bundesvorsitzende des RCDS (Gottfried Ludewig, Jg. 1982, wohnhaft Berlin) allen Ernstes vorgeschlagen hat – einige Monate ist das her, bei Anne Will vor einem Millionenpublikum -, daß „Leistungsbeziehern“ nur noch ein halbes Wahlrecht zustehen solle, den „Leistungsträgern“ aber ein doppeltes! – Damit wären wir wo gelandet?

Richtig: in den Zeiten vor der Demokratie, im Kaiserreich von Wilhelm zwo. Denn da gab es schon einmal ein derartiges Mehrklassenwahlrecht und ergo derartiges Unrecht. Und wo sind eigentlich unsere Massenmedien gelandet, hier die ARD, wenn sie solchen Figuren der bundesdeutschen Jungchristen sogar noch eine öffentliche Plattform für deren verfassungsfeindlichen Unfug zur Verfügung stellen?

Ganz sicher nicht in einer „Leistungsgesellschaft“, sondern in einer Gesellschaft des reaktionär-intellektuellen Niedergangs! –

Noch einmal: die wahren Leistungsträger unserer Gesellschaft, die rackerten sich immer schon unten in unserer Gesellschaft ab. Oben hingegen laufen oft nur noch Imitate von „Leistungsträgern“ herum: Hohlköpfe, bei denen die Gehirne leer sind – wie es ihre Schrottpapiere, die Derivate waren – und nur die Bankkonten noch voll.

Dritter Teil und Schluß: zum Begriff der „sozialen Hängematte“

Früher wurde es einmal „soziales Netz“ genannt, offenbar in Anlehnung an die Sicherheitsnetze, die für Zirkus-Artisten unten über der Manege aufgehängt wurden: gemeint war das System der Gesellschaft, Menschen vor dem Absturz ins soziale Nichts zu bewahren – im Falle der Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Und die Erarbeiter des Grundgesetzes haben noch gewußt, wieso sie den Sozialstaat derart zentral in unserer Verfassung abgesichert haben. Sie erinnerten sich noch, daß die Weimarer Republik nicht zuletzt an diesem Mangel an sozialem Rechtsstaat zerbrochen war. Sie hatten begriffen – bis weit in die Reihen der CDU hinein, damals jedenfalls -, daß Menschen der Demokratie verloren gehen und die Demokratie den Menschen, wenn die Demokratie den Einzelnen vor dem völligen Absturz nicht mehr zu bewahren weiß. Aber: lang, lang ist’s her! Und für die Neoliberalen von heute scheint dies alles nur noch kalter Kaffee von gestern zu sein! Hier die abschließenden Beispiele:

Immer häufiger tauschen die Neoliberalen in ihrer Propaganda den Begriff des „sozialen Netzes“ gegen den hämischen Begriff der „sozialen Hängematte“ aus. Und die Neoliberalen wissen sehr genau, weshalb. Wir auch? – Nun, werfen wir ein letztes Mal einen Blick auf diese Propagandasprache! Welche Spontan-Assoziationen kommen uns da in den Sinn – noch bei jedem von uns, so denke ich -, wenn wir den Begriff „Hängematte“ vernehmen?

Erstens: Ich vermute, die erste Assoziation, die sich bei den meisten einstellen dürfte, wenn sie das Wort „Hängematte“ zu hören bekommen, dürfte das der entspannten Untätigkeit sein. Wer in der „Hängematte“ liegt, arbeitet nicht. Er faulenzt herum, ruht, schläft vielleicht sogar (schließlich: er liegt, er sitzt nichtmal!). Kurz: eine durch und durch beneidenswerte Situation!

Zweitens: zumeist ist diese Assoziation behaglicher Freizeit und Untätigkeit aber noch mit einem weiteren Einfall verknüpft: „Hängematte“, das klingt irgendwie nach Ferien, nach Reise. Fast zwangsläufig scheint diese Hängematte in unseren Köpfen ausgespannt zu sein zwischen zwei Palmen, irgendwie klingt „Hängematte“ nach Tropen-Urlaub – jedenfalls die Assoziation südlicher Länder drängt sich auf. Ist ja auch klar: Hängematten pflegt man nicht in seiner Wohnung zu installieren, zumindest in aller Regel nicht, sondern draußen. Und das lohnt sich nur, wenn es das Klima erlaubt. Nicht zuletzt aber: kam eine solche Hängematte nicht schon bei Robinson Crusoe vor, auf seiner fernen Insel im Pazifik? Werben nicht Reiseprospekte, wenn es um Malediven oder Seychellen geht, gern mit dieser Erholungsme-tapher?

Womit drittens unvermeidbar bei diesem Begriff der „Hängematte“ sogar die Bedeutung der Fern- oder Weltreise mitschwingt – und damit sogar etwas wie Luxus. Wer in der Hängematte liegt, irgendwo weit weg, draußen in der Welt, dem geht es in jederlei Hinsicht gut, also auch in finanzieller. Ist schon interessant, wo man landet, wenn man den Suggestionen dieses Begriffes folgt. Bereits jetzt kann man sagen: beim genauen Gegenteil von Wirklichkeit!

Denn: es handelt sich ja bei den Menschen in der sogenannten „sozialen Hängematte“ um Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die mittlerweile unter elendsten Bedingungen dahinvegetieren müssen, nicht aber um Fernreisende und Nichtstuer aus der Jetset-Welt. Und in Verbindung mit dem Beiwort „sozial“ wird damit aus der elenden Zwangsuntätigkeit der Arbeitslosen geradezu ein asozialer Tatbestand. Die „soziale Hängematte“ deutet die Zwangsuntätigkeit der Arbeitslosen in Faulenzerei um. Diese Propaganda soll einer uninformierten und unbetroffenen Bevölkerung vorgaukeln, den Ärmsten der Armen in der Bundesrepublik gehe es bestens. Und das heißt natürlich: viel zu gut!

Übertreibe ich? Halten die hier wiedergegebenen Assoziationen zum Begriff der „sozialen Hängematte“ einer empirischen Überprüfung Stand? Faulenzertum, Luxus – ist das, im Zusammenhang mit Arbeitslosen und „sozialer Hängematte“, nicht arg weit hergeholt?

Nun, Dirk Niebel, FDP-Generalsekretär, begründete seine Ablehnung der „sozialen Hängematte“ zum Beispiel unter anderem damit (vergessen wir nicht: es geht um das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik, das mittlerweile nichtmal mehr das Existenzminimum der Menschen und Restformen eines menschenwürdigen Lebens zu garantieren vermag!): „Der Fleißige darf nicht dem Faulen helfen!“: deshalb Abschaffung der „sozialen Hängematte“! Da finden wir, aufs klarste ausgesprochen, das angebliche Faulenzertum von SozialhilfebezieherInnen und arbeitslosen Menschen auf den Punkt gebracht! Der Rauswurf aus der Arbeitswelt wird zum Charaktermangel der betroffenen Menschen. Und die richtige Konsequenz aus diesem Charaktermangel Faulheit ist, so Niebel, daß diesen Ärmsten der Armen keinerlei Hilfe mehr zusteht, weil es damit doch an die Geldbörsen der „Fleißigen“ geht. Dies also zu Humanität und Sozialstaatsverständnis der FDP! Und was ist mit der von mir angesprochenen Luxus-Suggestion, die mit dem Slogan der „sozialen Hängematte“ verknüpft ist?

Nun, werfen wir einen Blick auf die Publikationen des Springer-Konzerns! Haben wir da nicht alle noch – aus der „Bild-Zeitung“ – „Florida-Rolf“ in Erinnerung, der aufs genaueste, als Fernurlauber bei Miami sowie als Sozialhilfeempfänger, dem geschilderten Bild des Gesellschaftsausbeuters von unten zu entsprechen schien? Doch schauen wir auch in den Online-Dienst der Springer-Zeitung „Die Welt“ hinein. Da faselt der anonyme Verfasser tatsächlich davon, daß die Sozialhilfe in der Bundesrepublik „allzu üppig“ bemessen sei. „Üppig“, „allzu üppig“? – Da haben wir durchaus die Luxus-Unterstellung. Womit auch dieser Online-Dienst eines angeblich seriöseren Blatts aus dem Springer-Konzern aufs genaueste das Klischee vom Sozialhilfeempfänger als übermäßig verwöhnten Faulpelz bedient.

Wieso all diese Schmähungen?

Nun, ich sehe für diese menschenverachtende Propaganda, die den Menschen in ihrem Elend auch noch Schuld gibt an ihrem Elend, vor allem drei Motive am Werk:

Es liegt zum einen im ökonomischen Interesse dieser neoliberalen Sprücheklopfer, sich den Sozialstaat vom Halse zu schaffen. So oder so: Sozialstaat kostet Geld. Allein dieses wollen diese Herrschaften nicht mehr.

Es dient zum zweiten der moralischen Selbstentlastung. Wenn Charakterfehler der Armen und Arbeitslosen Schuld sind an deren Schicksal, kann es eigener Fehler oder Fehler der eigenen Wirtschafts- und Politik-Eliten nicht mehr sein. Und wenn es im Grunde asoziale Strolche sind, diese Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen, haben die auch keinen menschlichen Anspruch auf Hilfe mehr. Bestens kann man mit diesen Propaganda-Suggestionen also eigenes Versagen verschleiern.

Und zum dritten soll mit diesem suggestiven Gequatsche von der „sozialen Hängematte“ nicht zuletzt die arbeitende Bevölkerung aufgehetzt werden gegen dieses angeblich unverschämt faulenzende Arbeitslosenheer. Wobei nicht zu übersehen ist: je schlechter es die arbeitenden Menschen haben, desto größer die Chance, daß bei den Arbeitenden diese Propaganda auch verfängt. Wem es an seinem Arbeitsplatz nicht gut geht, der glaubt leicht, daß es der Arbeitslose in Wahrheit doch viel besser hat. Schnell wird da aus der „sozialen Hängematte“ in den Köpfen derjenigen Menschen, die sich bis zum Zusammenbruch abrackern müssen in den Betrieben ihrer Konzernherren, die besonnte Hängematte der Sozialhilfeempfänger am tropischen Badestrand!

Fazit mithin: diese Metaphorik von der „sozialen Hängematte“ macht aus der Zwangsuntätigkeit der Arbeitslosen so etwas wie einen ewigen Urlaub, aus ihrem Elend ein Luxus-Leben. Und auf die Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz oft bei spärlichster Bezahlung und unter menschenunwürdigsten Bedingungen zu schuften haben, wirkt das fast wie Unverschämtheit und Provokation. Die wahren Ausbeuter der Gesellschaft scheinen, aus dieser Perspektive betrachtet, die Ärmsten der Armen in unserer Gesellschaft zu sein, nicht aber die sogenannten Eliten in Wirtschaft und Politik. Verkehrte Welt! Psychotricks! Aber so funktionieren die Slogans. Und: so sollen sie funktionieren!

Das bedeutet aber:

Man bleibt wehrlos, wenn man in dieser Hinsicht ahnungslos bleibt. Man muß bei öffentlichen Debatten auch diese untergründigen Psychotricks analysieren. Man kann den Kampf um das Bewußtsein der Menschen nicht gewinnen, wenn man permanent den Kampf um deren Unterbewußtsein verliert. Wir benötigen deshalb dringend eine aufklärerische Psychologie, die sich dieser manipulativen Psychologie unnachgiebig in den Weg stellt, beharrlich und konsequent, mit Einfühlung und Verstand.

Holdger Platta

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