Montag, 8. September 2014
Die Bekämpfung des sogenannten „Islamischen Staates“ liegt allein in der Hand der betroffenen Staaten
Quelle: nachdenkseiten.de vom 29. August 2014
von Mohssen Massarrat
Die bisher schwerste Krise im Mittleren Osten, die militärische Eroberung des sogenannten „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien ist in eine äußerst absurde Phase eingetreten. Die europäischen Staaten sind im Begriff, den Vereinigten Staaten von Amerika zu folgen und die autonome Kurdenregion, die unter der Kontrolle von Mustafa Barzani steht, mit umfangreichen Waffenlieferungen zu stärken. Als Begründung wird „humanitäre Hilfe“ angeführt. Sie wollen angeblich helfen, einen Völkermord an den Yeziden zu verhindern. Um die öffentliche Meinung in Deutschland für eine angebliche Ausnahmereglung für Waffenexporte in eine Krisenregion umzustimmen, besuchte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier demonstrativ und mit starker Medienbegleitung vor Ort eine sichtlich vom Leid geprägte yezidische Opferfamilie. Jedem sollte so die Dringlichkeit deutscher Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak ans Herz gelegt werden. Die deutsche Bundesregierung, die übrigen Regierungen des Westens und ihre Medien erwecken mit Nachdruck den Eindruck, dass die Waffenlieferung an die irakischen Kurden die einzige Möglichkeit darstellt, der drohenden Katastrophe vorzubeugen. Alle anderen kurz- und langfristigen Alternativen werden nicht einmal in Erwägung gezogen. Auch alle Hinweise der Experten auf dramatische Folgen einer militärischen Unterstützung der irakischen Kurden werden systematisch ignoriert. Schon deshalb setzen sich die westlichen Regierungen aus meiner Sicht dem Verdacht aus, mit humanitären Motiven zum Schutze der Yeziden einen neuen Vorwand zu konstruieren, um ausschließlich eigene Interessen durchzusetzen:
Die USA nutzen die unbestreitbar bestehende Bedrohung der brutalen „IS“-Kämpfer dazu, um ihr im Mittleren Osten massiv beschädigtes Image aufzupolieren und gleichzeitig zu unterstreichen, warum ihre weitere militärische Präsenz in der Region unabdingbar ist. Dabei ist die eigentliche Erfinderin der „IS“ keine geringere als die ehemalige US-Außenministerin Condoleeza Rice, die 2006, auf dem Höhepunkt der us-iranischen Konflikteskalation, in der saudiarabischen Hauptstadt Riad, mit Verweis auf den durch den Iran gegen die arabische Sunniten angeblich aufgebauten schiitischen Gürtel, alle sunnitische Staaten aufgefordert hat, möglichst rasch ihren eigenen sunnitischen Gürtel ins Leben zu rufen. Fortan erhielt die libanesische Regierung Militärhilfe mit dem ausdrücklichen Zweck der Eindämmung der schiitischen Hisbollah im Libanon. Fortan machte sich auch der saudische Geheimdienstchef, der berüchtigte Prinz Bandar, an die Arbeit. Das Ergebnis sind die wie Pilze aus dem Boden gestampften brutalen Gruppen wie Al-Nusra und „ISIS“ gegen die Assad-Regierung in Syrien. Und das Ergebnis des Condoleeza-Rice-Plans von 2006 ist letztlich auch die barbarische „IS“-Gruppe, die in der gesamten Geschichte des Islams ihresgleichen sucht.
Die deutsche politische Elite macht sich ganz besonders seit dem Beginn dieses Jahres stark für „mehr Verantwortung“ in der Weltpolitik. Dazu sollen sowohl Restriktionen bei den Waffenexporten in Krisenregionen aufgeweicht, wie aber auch die parlamentarischen Hürden für die sogenannten humanitären Interventionen beiseite geschoben werden. Seitdem werden auch massive Versuche unternommen, die moralischen Bedenken aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen auszuradieren, damit sich Deutschland in Zukunft hemmungsloser als bisher an den internationalen Kriegseinsätzen beteiligen kann. Der drohende Völkermord an der yezidischen Minderheit im Nordirak wurde deshalb geschickt von einflussreichen Medien zum innenpolitischen Thema Nr. 1 hochstilisiert. Die Glaubwürdigkeit der humanitären Motive der deutschen Bundesregierung kann daran gemessen werden, dass dieselbe Regierung zu Israels Gräueltaten in Gaza, die zur gleichen Zeit vonstatten gehen, kein einziges Wort verschwendet. Zum Leid der Palästinenser wird geschwiegen und das Leid der Yeziden wird für die eigene Politik missbraucht. Das ist eine erschreckende Heuchelei.
Die vier betroffenen Staaten: Irak, Syrien, Türkei und Iran wären gut beraten, eine erneute Intervention der USA und anderer westlicher Staaten in den Mittleren Osten nicht zuzulassen. Der Westen wird das Übel von „IS“, das dieser selbst geschaffen hat, nicht beseitigen. Er wird vielmehr das Chaos in der Region weiter verstärken. Die US-Neokonservativen sprechen seit langem von einer Politik des „kreativen Chaos“ für den Mittleren Osten. Das „Kreative“ an diesem Chaos ist die Festigung der US-Hegemonie in der Region, indem hier weitere „failed states entstehen und indem sie dadurch zu einer Region dauerhafter und flächendeckender Instabilität gemacht wird. Ethnische und religiöse Kriege, Bürger- und zwischenstaatliche Kriege würden den Mittleren Osten tatsächlich in diese Richtung treiben. Die Gründe für eine solche Rückwärtsentwicklung dürften auf der Hand liegen:
Die irakischen Kurden werden durch die westlichen Waffenlieferungen einen kurdischen Staat in Nordirak ausrufen und so den Irak endgültig in mehrere Teile spalten. Dass Israel bereits vor Wochen bekannt gab, einen kurdischen Staat im Nordirak sofort anzuerkennen, sollte zu denken geben. Der Alleinvertretungsanspruch eines kurdischen Staates unter Führung von Barzani, der dem Konzept des kurdischen Nationalismus folgt, beschwört unweigerlich Reaktionen der Kurden in der Türkei und in Syrien herauf, die unter dem Einfluss der kurdischen Arbeiterpartei PKK stehen, weil diese inzwischen aus guten Gründen einen kurdischen Nationalstaat kategorisch ablehnen und offensichtlich das Ziel verfolgen, autonome kurdische Regionen innerhalb der bestehenden Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran zu schaffen. Ein innerkurdischer Bürgerkrieg wäre bestens geeignet, einen Krieg zwischen den vier Staaten nach sich zu ziehen und in diesen vier Staaten die nationalistischen Strömungen auf den Plan zu rufen. Es liegt auf der Hand, dass unter solchen Bedingungen dann die brutalen „Kalifat“-Anhänger nicht geschwächt würden, sondern umgekehrt ideale Bedingungen vorfänden, um ihr „Kalifat“ und ihren „Islamischen Staat“ (in den westlichen Medien wird vorsorglich schon jetzt auf Anführungsstriche verzichtet) im Herzen des Mittleren Ostens aufzubauen und fortan sämtliche Staaten und Völker sowie die zahlreichen ethnisch-religiösen Minderheiten in Angst und Schrecken zu versetzen. Nein, die deutschen und europäische Waffenfetischisten tappen mit ihren Waffenlieferungen an die irakischen Kurden in eine Falle der US-Neokonservativen, die diese zusammen mit ihren willfährigen transatlantischen Strippenziehern längst aufgestellt haben. Um es noch klarer zu sagen: Diese Waffenlieferungen, wären m. E. die allerdümmste Handlung, die sich die Europäer im Namen einer „humanitären Intervention“ anmaßen würden.
Niemand kann wissen, ob nicht die deutsche Bundesregierung und die anderen Regierungen Europas noch daran gehindert werden können, diese Dummheit zu begehen. Ungeachtet dessen sind es doch zuallererst die vier betroffenen Staaten selbst, die das gemeinsame Interesse eint, das Krebsgeschwür „Islamisches Kalifat“ gemeinsam zu bekämpfen. Dieses „Kalifat“ ist massiv von außen gesteuert, es bedroht alle religiösen und ethnischen Minderheiten, die Yeziden im Irak und der Türkei, alle christlichen Strömungen im Mittleren Osten, die Aleviten in Syrien und der Türkei, die Schiiten im Irak, im Iran und überall im Mittleren Osten, und nicht zuletzt die Kurden in allen den vier Staaten mit kurdischen Siedlungsgebieten. Auch die überwältigende Mehrheit der Sunniten würde bedroht sein, die sich der Politik dieses selbst gebastelten „Islamischen Staates“ widersetzen würde. Vor allen Dingen ist es eine Schande für die islamischen Staaten insgesamt; es wirft einen finsteren Schatten auf die positiven zivilisatorischen Errungenschaften der Toleranz, des Minderheitenschutzes und des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Völker und Religionen in der islamischen Welt. Und nun das Wichtigste:
Allein die vier am stärksten betroffenen Staaten, Irak. Iran, Syrien und die Türkei, sind überhaupt in der Lage- dem „Kalifat“-Projekt mit gemeinsamen Anstrengungen ein Ende zu setzen. Die aktuelle „IS“ Herausforderung stellt auch unter Beweis, wie wichtig es für die genannten vier Staaten im Mittleren Osten geworden ist, jenseits von kurzfristigen nationalstaatlichen Interessen zu handeln, in Sicherheitsfragen miteinander zu kooperieren und endlich zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur zu kommen. Nur unter dieser Perspektive ist es, über die Beendigung der „IS“ Herauforderung hinaus, auch möglich, weitere grenzüberschreitende gemeinsame Probleme in zwischenstaatlichen Dialogen und Verhandlungen nachhaltig zu bewältigen. Außer „IS“ ist die Kurdenfrage das wichtigste gemeinsame Thema diese vier Staaten. Im Rahmen einer gemeinsamen regionalen Sicherheit ließe sich in direktem Dialog und Verhandlungen mit den Kurden deren Traum von mehr Verwaltungsautonomie realisieren, ohne dadurch die territoriale Integrität der vier Staaten mit kurdischen Siedlungsgebieten zu verletzen. Das unbewältigte Kurdenproblem hat seit Anfang des vorigen Jahrhunderts zahlreiche blutige Kriege und dauerhafte innerstaatliche Konflikte heraufbeschworen. Die kurdische Bevölkerung verdient daher endlich eine dauerhafte Friedenslösung, die ermöglicht werden könnte, wenn alle vier Staaten im Dialog mit allen kurdischen Bewegungen diese aushandeln würden. Hinzu kommen umfassende grenzüberschreitende Fragen, die sich, wie der Ausbau von Wasser- und Energieversorgung, der Ausbau von Verkehrswegen, die Liberalisierung des Handels und viele andere Projekte mehr, zur Erhöhung der sozialen Sicherheit und des Wohlstands in den kurdischen Siedlungsgebieten durch die Kooperation der vier Staaten gewährleisten lassen. Nicht weniger wichtig ist, dass die vier Staaten gemeinsam erreichen können, dass die Konflikte schürenden Einmischungen der USA, Israels und anderer Staaten endlich aufhören und die Voraussetzungen für einen friedlichen und ökonomisch florierenden Mittleren Osten über die vier Staaten hinaus geschaffen werden können.
Berlin, 25. August 2014
Prof. Dr. Mohssen Massarrat (Deutsch-iranischer Experte für Internationale Beziehungen und den Mittleren Osten)
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