Dienstag, 30. September 2014
Erst umworben, dann verteufelt (Ralph Hartmann)
Im stürmischen, weltverändernden Jahr 1990, exakt am 13. November, berief der Verteidigungsminister der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ), Veljko Kadijević, eine außerordentliche Tagung der Kommandeure der Jugoslawischen Volksarmee ein, auf der der Befehlshaber des XIII. Armeekorps, General Marijan Čat, ein düsteres Bild der sicherheitspolitischen Lage des Balkanlandes zeichnete, das er in zwölf Thesen zusammenfaßte:
»Erstens: Die jugoslawische Volksarmee trägt eine historische Verantwortung für den Fortbestand der SFRJ. Zweitens: Die Weltlage: aktueller Zerfall des Sozialismus. Drittens: Gorbatschow arbeitet im Interesse der USA und des Kapitalismus. Viertens: Deutschland beherrscht Europa. Fünftens: Österreich hat direkte Ansprüche an die SFRJ und nimmt gegenüber Jugoslawien eine feindselige Haltung ein. Sechstens: Ungarn ist kein zuverlässiger Nachbar und ist dabei, in die NATO einzutreten. Siebtens: Italien benimmt sich gegenüber Jugoslawien paternalistisch. Achtens: Bulgarien erhebt territoriale Ansprüche gegenüber Jugoslawien. Das gleiche gilt für Albanien. Neuntens: Der Zerfall der Armeen des Warschauer Paktes ist nicht in unserem Interesse. Zehntens: Jugoslawien wird gegenwärtig von innen durch die NATO bedroht. Elftens: Tudjman (Präsident Kroatiens; R. H.) erklärte, er werde Hilfe auch von außen erbitten. Zwölftens: Eine Aufteilung Jugoslawiens kann es nicht ohne Kampf geben.«
Das wenig bekannte, außergewöhnlich kurze, militärisch präzise Dokument widerlegt schon die weitverbreitete Auffassung, daß der Vielvölkerstaat vor allem an seinen inneren nationalen Konflikten und späteren blutigen Auseinandersetzungen zusammengebrochen sei. Der jugoslawische Bundesstaat war weder Mitglied des Warschauer Vertrages noch des Rates für Gegenseitige Wirtschafts-hilfe (RGW) und gehörte somit nicht der Gemeinschaft an, die sich »sozialistische Staatengemeinschaft« nannte. Doch als diese ruhmlos zugrunde ging, war auch sein Schicksal besiegelt.
Der Zusammenbruch der SFRJ war Teil des Niedergangs des Sozialismus in Ost-, Mittel- und Südosteuropa. Der gesellschaftliche Umbruch in den ehemals realsozialistischen Staaten – die voranschreitende Auflösung der Sowjetunion, die Restauration des Kapitalismus in den osteuropäischen Ländern, der Fall der Mauer in Berlin und der Untergang der DDR sowie die Liquidierung des Warschauer Vertrages und des RGW – hatten tiefgehende Rückwirkungen auf die politische, sicherheitspolitische und ökonomische Lage Jugoslawiens. Die um ihr Überleben ringende SFRJ verlor ihre bedeutendsten Kooperationspartner. Nachträglich bestätigte sich, daß die Existenz und Politik der von Moskau beherrschten Staatengemeinschaften objektiv, auch wenn das jugoslawischerseits niemals öffentlich eingestanden wurde, eine der Hauptgarantien für den Bestand des einheitlichen Jugoslawiens waren.
Bei historischen Betrachtungen ist es immer gefährlich, zum Konjunktiv und Konditional zu greifen. »Was wäre gewesen, wenn ...?« Trotzdem: Sind der Untergang Jugoslawiens, die grobe ausländische Einmischung, die Katastrophe des Bürgerkrieges vorstellbar, wenn die Sowjetunion, der Warschauer Vertrag, die internationale Kräftebalance intakt geblieben wären? Hätte die NATO in diesem Fall es jemals gewagt, Jugoslawien zu überfallen und zu bombardieren?
Die veränderte weltpolitische Lage hatte auch die Haltung des Westens gegenüber Jugoslawien verändert. Lange Zeit war der Vielvölkerstaat ob seines beträchtlichen Einflusses in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen und seines vom sowjetischen »Grundmodell des Sozialismus« abweichenden Entwicklungsweges von den imperialistischen Mächten, vor allem von der westdeutschen Bundesrepublik, heftig umworben worden. Selbst der legendäre Partisanenführer und spätere SFRJ-Staatslenker Josip Broz Tito, der es gewagt hatte, trotz der Hallstein-Doktrin die DDR völkerrechtlich anzuerkennen, wurde wenige Jahre später mit der Sonderstufe des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Und als er im Mai 1980 zu Grabe getragen wurde, verneigten sich in der Säulenhalle des Parlaments in Belgrad hochrangige Politiker aus 121 Staaten an der Bahre des Staatsmannes, darunter der sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breschnew, US-Vizepräsident Walter Mondale, Indiens Premier Indira Gandhi, der chinesische Parteivorsitzende Hua Guofeng, der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, der bundesdeutsche Präsident Karl Carstens und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt. Trauergast Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler, erklärte, Titos historisches Werk werde weit über seinen Tod hinaus wirksam bleiben; dank seines staatsmännischen Wirkens sei Jugoslawien heute ein geeintes, zu großen Leistungen fähiges Land.
Zehn Jahre später, unmittelbar nach dem Untergang des Realsozialismus in der Sowjetunion sowie in Osteuropa, sah die umworbene jugoslawische Föderation aus bundesdeutscher Sicht ganz anders aus. Das geeinte, zu großen Leistungen fähige Land verwandelte sich über Nacht in einen »Belgrader Zwangsstaat«, in eine »Mißgeburt«, wie der Wortführer der antijugoslawischen Kampfpresse, der FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller, die SFRJ zu benennen pflegte. Niemand von den maßgebenden bundesdeutschen Politikern sagte es so präzise und so rabiat wie der Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU). Auf dem im September 1991 stattgefundenen 6. Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft erklärte er, warum Deutschland die Auflösung Jugoslawiens fördern sollte: »Dieser Jugoslawienkonflikt [hat] unbestreitbar fundamentale, gesamteuropäische Bedeutung ... Wir glauben, daß wir in der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes sowie mit der Überwindung der deutschen Teilung sozusagen die wichtigsten Folgen des zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt hätten … Aber in anderen Bereichen sind wir heute damit befaßt, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen. Jugoslawien ist als eine Folge des ersten Weltkrieges eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsgedanken nie vereinbar gewesene Konstruktion … Das bedeutet in der Konsequenz, daß meines Erachtens Kroatien und Slowenien völkerrechtlich unmittelbar anerkannt werden müssen … Wenn eine solche Anerkennung erfolgt ist, dann handelt es sich im Jugoslawienkonflikt nicht mehr um ein innenpolitisches Problem Jugoslawiens, in das international nicht interveniert werden dürfe.«
Auch führende Politiker der SPD, der Grünen und der FDP, hier besonders Hans-Dietrich Genscher, turnten eifrig mit und beherrschten schnell diesen abrupten Salto in der bundesdeutschen Jugoslawienpolitik. Das angeblich so friedliebende vereinigte Deutschland setzte alsbald die Traditionslinie Kaiser- und Hitlerdeutschlands fort und nahm wesentlichen Einfluß auf die antiserbische Ausrichtung des NATO-Kurses zur Zerschlagung Jugoslawiens.
Die in den 70er und 80er Jahren erwachte bundesdeutsche Liebe zu Jugoslawien war schlagartig erkaltet und in Feindschaft und Haß umgeschlagen. Nach den Gründen mußte nicht lange gesucht werden. Zu Beginn der 90er Jahre hatten sich die Verhältnisse eben grundlegend verändert. Welchen Wert hatte die jugoslawische Föderation als Sperriegel gegenüber dem Warschauer Vertrag, da es diesen nicht mehr gab? Welchen Sinn machte die Sonderstellung Jugoslawiens unter den sozialistischen Ländern Europas, wenn diese in den Schoß des Kapitalismus zurückkehrten und die Sowjetunion ihr Leben aushauchte? Welchen Nutzen brachte die jugoslawische Blockfreiheit, wenn die Blockkonfrontation zu Ende war und die Bewegung der Nichtpaktgebundenen rasant an Bedeutung verlor? Der Stellenwert Jugoslawiens in der internationalen Politik war gefallen, geblieben war ein Gebiet, in dem die Überreste kommunistischer Herrschaft zu beseitigen waren und alte oder neue Einflußsphären abgesteckt werden konnten.
Ausgerechnet Michail Gorbatschow war es, der 1992 in La Stampa feststellte: »Nach dem Zusammenbruch des ›Ostblocks‹ ist der kalte Krieg auf eine gewisse Art weitergeführt worden, um das Überleben einer jedweden Gesellschaft zu verhindern, die als Beispiel einer erfolgreichen Alternative zu der primitiven Durchsetzung des kapitalistischen Modells dienen könnte, die jetzt vor sich geht. Jedenfalls durfte Jugoslawien den Warschauer Vertrag nicht überleben, denn sonst hätten die osteuropäischen Länder ein unliebsames Beispiel für eine unabhängige Entwicklung und eine Alternative zur kritiklosen Annahme der westlichen Werte gehabt, was ein Hindernis für die Durchsetzung der Neuen Weltordnung … dargestellt hätte …«
Es fällt schwer, Einschätzungen des einstigen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der sich 1999 in einer Rede vor der Amerikanischen Universität von Ankara der westlichen Wertegemeinschaft mit der Erklärung »Mein Lebensziel war die Zerschlagung des Kommunismus« anpries, zuzustimmen. Aber hier hatte Gorbatschow einmal recht
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