Dienstag, 30. September 2014
Brandstifter, Menschlichkeit und Völkerrecht (Manfred Sohn)
In Max Frischs »Lehrstück ohne Lehre« lädt Herrn Biedermann zwei Brandstifter zu sich ins Haus, die am Ende des Stückes ihn, seine Frau, sein Haus und gleich seine ganze Stadt in einem Flammenmeer untergehen lassen.
In der Eröffnungsszene wird der erste der beiden, der »sehr kräftige« ehemalige Ringer Schmitz, von dem Dienstmädchen Anna mit den Worten angekündigt, da sei ein Hausierer, der aber kein Haarwasser verkaufen wolle, sondern »Menschlichkeit«. Mit diesem Schlüsselwort erhält er Zutritt.
Im weiteren Verlauf lassen die beiden die Hülle fallen und gehen zur Dreistigkeit über, sagen in Szene sechs, sie scherzten nicht, sie seien »Brandstifter«. Biedermann aber glaubt ihnen nicht und reicht Schmitz und seinem Kumpanen, dem Herrn Eisenring, noch die Streichhölzer, um die Lunte anzuzünden.
In unseren Tagen fallen Dreistigkeit und Verlogenheit zeitlich zusammen. Während Bundespräsident Gauck den 75. Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf Polen auf der Westerplatte »bei Danzig«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit unverschämter Offenheit und Freude formuliert, abermals zum Anlaß nimmt, zu mehr »Verteidigungsbereitschaft« aufzurufen, also die Streichhölzer zu erbitten, gibt Außenminister Steinmeier den Kumpanen, der unter der Losung »Völkerrecht« Eintritt in den Dachboden sucht, von dem aus er mitzündelt.
Das deutsche Volk steht der Unverschämtheit von Schmitz und Eisenring – also Gauck und Steinmeier – hilflos und im Ergebnis kumpaneihaft gegenüber wie Biedermann, seine Frau Babette und das Dienstmädchen Anna. Die Streichhölzer – die schrittweise Erhöhung des Rüstungsetats um zunächst zwei Prozent – werden nach und nach gereicht werden, und mit dem Zauberwort »Völkerrecht« gelangt heutzutage sogar bei Linken jeder in die Wohnung. Das Wort ist in Mode, nicht nur bei Steinmeier, der es im Stehsatz fast jeder seiner Reden hat.
Ein erster Schritt, um den Brandstiftern den Weg ins Haus zu verwehren, ist es, ihnen mitsamt ihrem Gerede vom »Völkerrecht« die Tür zu weisen.
Es gibt kein Völkerrecht mehr. Es ist entstanden mit der Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten und ihrem Versuch, die Grundlagen ihrer innerstaatlichen Rechtsverhältnisse auf die Beziehungen untereinander zu übertragen. Das höchste Maß seiner verbindlichen Fixierung erreichte es in der Zeit der Herausforderung des Kapitalismus durch die sich selbst als sozialistische Alternative definierenden Staaten, die nach der Oktoberrevolution 1917 entstanden. Sie versuchten, den etablierten Mächten ihre eigene Melodie vorzuspielen. Zeitweise schien es selbst manchem Linken so, als sei ein einheitliches internationales Rechtssystem im Entstehen. Vor unseren Augen zerreißt der Schleier dieser Illusionen, und man sieht, wie nicht allein das »Völkerrechts«, sondern das bürgerliche Rechtssystem überhaupt zerbröselt.
Robert Kurz schrieb völlig zu Recht schon 2003 vom »Zusammenbruch des Völkerrechts« und verwies auf den Sündenfall des NATO-Angriffs auf Jugoslawien: »Der demokratische Gesamtimperialismus verzichtete auf das Mandat der UNO und erkannte schon damit seine eigenen Prinzipien nicht mehr an.«
Diejenigen, die den Niedergang des Völkerrechts bejammern, übersehen sowohl dessen geschichtliche Genese als auch seine geschichtliche Begrenztheit. Es war und ist in seinen klagend eingeforderten Restkrümeln an den bürgerlichen Nationalstaat gebunden. Aber der bürgerliche Nationalstaat löst sich auf. In seiner aufsteigenden, expansiven Phase hatte der Kapitalismus nationale, souveräne Staaten gebildet oder – nach gründlicher Zerstörung vorkapitalistischer Strukturen – Kolonien oder abhängige Schein-Staaten in der kapitalistischen Peripherie gegründet. Von dieser alten Staatenwelt des 20. Jahrhunderts ist immer weniger übrig, und weitere Veränderungen werden in den nächsten Jahrzehnten eintreten. Es gibt keinen Staat Afghanistan, keinen Staat Irak, keinen Staat Libyen mehr, es gibt keinen Staat Ukraine. Es gibt an ihrer Stelle an der Peripherie der kapitalistischen Zentren sich ausbreitende staatenlose Gebiete, die von Banden, mafiösen Gebilden und Warlords beherrscht werden.
Der Zerfall des bürgerlichen Nationalstaats aber reicht bereits bis in die Zentren des Kapitalismus. Wie abgeschrieben aus Goethes »Zauberlehrling« versuchen die USA, die von ihnen selbst gezüchteten Zerfallsprodukte mit militärischen Mitteln zu züchtigen. Sie versuchen es mit El Kaida, die sie ins Leben gerufen hatten, um die Sowjetunion in Afghanistan zu schlagen. Sie versuchen es gegen die Kämpfer für den »Islamischen Staat«, die sie zuvor gepäppelt hatten. Und sie erkennen allmählich, daß ihre militärische Kraft nicht ausreicht, um die immer neuen von ihnen selbst gezeugten Gespensterarmeen niederzuringen. Also überantworten sie immer mehr Aufgaben privaten Söldnerheeren und Banden, die ihnen zeitweise zu nützen scheinen und von ihnen deshalb mit Waffen ausgerüstet werden. Das Wuchern der Söldnerheere und verbündeten Hilfstruppen aber unterminiert das letzte Unterpfand bürgerlicher Herrschaft: das staatliche Gewaltmonopol. Die Ironie der Geschichte besteht darin, daß ausgerechnet diejenige Weltmacht, die bis in ihre Herrschaftsarchitektur das römische Imperium zu kopieren sucht, blind ist gegenüber dem Menetekel vom Teutoburger Wald, wo die ruhmreichen Legionen von römisch ausgebildeten Abtrünnigen zum Sterben in die Sümpfe getrieben wurden.
So versinkt vor unseren Augen die bürgerliche Welt. Wer seinen Marx gelesen hat, weiß, was diese Welt im Innersten zusammenhielt und was nun seine integrierende Kraft verliert: Der Kern des kapitalistischen Systems ist die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, die er gleichzeitig, gepeitscht von der Konkurrenz zwecks Steigerung der Produktivität aus dem Produktionsprozeß vertreiben muß. Mit der mikroelektronischen Revolution ist aus dieser von Marx entdeckten Potenz alltägliche Realität geworden. Also sammeln sich – zuerst an den Rändern der kapitalistischen Welt – immer größere Mengen vor allem jüngerer Menschen, hier wiederum vor allem junge Männer, die nach dem Sterben der Hoffnung auf den scheinbar-realen Sozialismus 1989 ihre Sehnsüchte zuerst auf das Kopieren des Lebensstils der kapitalistischen Zentren setzten und nach Ent-Täuschung dieser Hoffnung nun die Milizen und Banden rund um Europa herum speisen. Sie sammeln sich in der Ukraine unter dem Banner des faschistischen »Rechten Sektors«, in Ägypten nach dem Verwelken des arabischen Frühlings erneut unter dem Banner der Muslimbruderschaft. Sie haben mit dem »Islamischen Staat« eine neue und nicht die letzte Stufe erreicht. Sie sind das Brandzeichen an der Wand, das die Zukunft in den Zentren selbst ankündigt. Denn die Gesetze der kapitalistischen Kernschmelze wirken, wenn auch zeitlich verzögert, auch hier und werden Rechtssystem wie bürgerliche Staatsstrukturen zersetzen.
Die verzweifelten Bemühungen, sich in diesem Strudel des Untergang an den Strohhalm »Völkerrecht« zu klammern, erzeugen nur die Illusion, irgend etwas könne progressiv verändert werden durch Anrufen eines Gespenstes aus dem 20. Jahrhunderts. Veränderungskraft erwächst nur aus dem, was Rosa Luxemburg zu Recht als die vornehmste Pflicht jedes revolutionären Menschen erkannt hat: Die Wahrheit auszusprechen. Und zu dieser Wahrheit gehört: Es gibt innerhalb dieses sterbenden Weltsystems Kapitalismus kein Völkerrecht mehr.
Und mit diesen Worten sollten wir gleich in Szene eins Schmitz und Eisenring, Gauck und Steinmeier die Tür weisen, die uns mit »Menschlichkeit«, »Völkerrecht« und anderen Lügen in den nächsten Weltbrand führen wollen. Vermutlich werden wir es nicht tun. Was wählte Frisch als Untertitel? Er nannte es »ein Lehrstück ohne Lehre«.
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