Dienstag, 29. September 2015
„Ich sehe, wie er zu Boden fällt“
taz v. 26.9.2015
von Ernesto Guerrero Cano
Ernesto Guerrero Cano (21) ist Student des Lehrerseminars Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Er hat das Massaker von Polizisten und Kriminellen in der Stadt Iguala überlebt, bei dem am 26. September 2014 sechs Menschen starben und 43 seiner Kommilitonen verschleppt wurden.
Vergangene Woche haben sie „El Gil“ – den Mafiaboss Gildardo López Astudillo – verhaftet. Ein Jahr nach dem Massaker von Iguala. Natürlich ist es gut, wenn Leute wie er im Knast sitzen. Vorausgesetzt, sie sind wirklich schuld. Vor ihm, dem Anführer der Verbrecherbande Guerreros Unidos, wurden schon 120 Leute festgenommen. Aber ob sie wirklich mit dem Massaker zu tun haben, weiß niemand. Die lokalen Polizisten, die Bundesbeamten und Soldaten haben große Erfahrung mit brutalen Verhörmethoden. Sie foltern die Gefangenen, bis diese sagen, was man von ihnen hören will. Viele hatten nach den Vernehmungen Folterspuren. Warum sollten wir auf solche Ermittlungen vertrauen?
Es ist kein Wunder, dass die Staatsanwaltschaft gerade jetzt einen angeblichen Drahtzieher verhaftet. Am heutigen 26. September ist es ein Jahr her, dass wir in der Kreisstadt Iguala im Bundesstaat Guerrero von Polizisten und Mafiakillern überfallen wurden, doch bis heute konnten die Ermittler keine Ergebnisse liefern. Niemand von ihnen konnte uns erklären, warum in dieser Nacht sechs Menschen erschossen wurden, und erst recht nicht, was mit unseren 43 Kommilitonen passiert ist, die seither verschwunden sind.
Schon Anfang des Jahres wollte der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam den Fall für abgeschlossen erklären. Unsere Compañeros seien noch in der Nacht auf einem Müllplatz verbrannt worden, sagte er und nannte das die „historische Wahrheit“. Wir glauben ihm kein Wort. Niemand hat ein Feuer gesehen. Ein Freund erzählte mir, er sei an dem Abend auf eine Hochzeit eingeladen gewesen, aber die Feier hätte abgesagt werden müssen, weil es so stark regnete. Wie soll man da ein so großes Feuer zum Brennen bringen? 43 Menschen!
Wir vertrauen auf die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingesetzte Expertengruppe, die untersuchte, was in der Nacht passiert ist. Und auf die unabhängigen Forensiker aus Argentinien. Beide Gruppen sagen, dass die von den staatlichen Ermittlern präsentierte Version nicht stimmen kann. 60 Stunden hätte ein solches Feuer brennen müssen, und dafür wären tonnenweise Reifen und Holz nötig gewesen. Die Experten und die Argentinier kritisieren die Arbeit der Strafverfolger. Deshalb präsentiert die Generalstaatsanwaltschaft nun „El Gil“. Und deshalb meldet sie plötzlich, man habe anhand von DNA-Untersuchungen der Asche, die gefunden wurde, einen weiteren unserer angeblich ermordeten Compañeros identifiziert. Niemand weiß, ob das stimmt.
Wem kann man noch vertrauen?
Man kann ihnen nicht trauen, weil hier in Mexiko praktisch jede Institution von Kriminellen korrumpiert ist. Wir Studenten vom ländlichen Lehrerseminar Ayotzinapa und auch die Angehörigen der Verschwundenen befürchten, dass unsere 43 Kommilitonen von Militärs verschleppt wurden. Die Armee ist zu vielem fähig: Die Soldaten foltern, vergewaltigen, entführen. Dafür gibt es Beweise. Vielleicht haben sie unsere Freunde in die Kaserne gebracht. Vielleicht sind sie noch dort. Es gibt die Hypothese, dass sie in geheimen Häusern in den Kasernen versteckt sind. Das ist gut möglich. Jedenfalls muss es einen Grund dafür geben, dass die Expertengruppe das Militärgelände nicht betreten darf.
Nichts ist, wie es vorher war. Wir hatten schon oft Ärger mit der Polizei, weil wir uns für unsere Rechte einsetzen. Weil wir kämpfen. Aber seit dieser Nacht ist die Angst unser ständiger Begleiter. Sehen wir Polizisten, werden wir nervös. Denn heute wissen wir, sie wären fähig, uns zu ermorden. Jeden Moment leben wir mit dem Gefühl, dass es wieder passieren könnte, dass wir verdächtigt, verfolgt, niedergestreckt werden können.
Und dann die Erinnerung: Dieser Moment, als ich auf der Kreuzung in Iguala stehe und sehe, wie ein Compañero von einer Kugel getroffen wird und zu Boden fällt. Wie neben seinem Kopf eine Blutlache entsteht. Wie ich auf ihn schaue und nichts tun kann, weil die Killer auf alles schießen, was sich bewegt. Es ist nicht einfach, in der forensischen Klinik die leblosen Körper deiner Freunde zu sehen. Bis heute muss ich ständig an sie denken. Wir haben zusammen Partys gefeiert, musiziert, gestritten, diskutiert.
Mädchen für alles
Seit dem 26. September 2014 haben wir keinen Unterricht mehr, es gab anderes zu tun: Aktionen, um den Verbleib unserer Kommilitonen aufzuklären. Demonstrationen. Fahrten nach Mexiko-Stadt. Doch im Oktober beginnt das neue Semester. Gerade sind 140 Erstsemester angekommen. Wir haben lange diskutiert, ob das überhaupt zu verantworten ist. Dann fragten wir sie einfach, warum sie hier in dieses Lehrerseminar kommen.
Ayotzinapa sei die einzige Möglichkeit für sie zu studieren, antworteten sie. Klar, woanders werden junge Männer vom Land, die kaum Geld haben, überhaupt nicht angenommen. Wir können die Schulgebühren nicht zahlen, unsere Eltern sind arm. Hier kann man umsonst studieren. Deshalb verteidige ich dieses Lehrerseminar gegen die Versuche der Regierung, es zu schließen, weil es nicht in ihr auf Verwertung orientiertes Bildungssystem passt.
Außerdem werden wir anders ausgebildet als an anderen pädagogischen Schulen. Als Lehrer in den abgelegenen Dörfern ohne Trinkwasser und Strom bist du Mädchen für alles: Wenn ein Kind krank wird, musst du dich kümmern, wenn Leute Probleme mit der Justiz haben, ist der Lehrer auch gefragt. Deshalb lernen wir alles: Schweine züchten, Sport und natürlich das Politische. Hier werden dir die Augen geöffnet, damit du nicht mit Telenovelas verblödest.
„Sie wollte, dass ich Ayotzinapa verlasse“
Ich hatte andere Pläne, habe Kraftfahrzeugtechniker gelernt, dann in einer Kindertagesstätte gearbeitet und mich an der autonomen Gemeindepolizei beteiligt, um mein Dorf vor Kriminellen zu schützen. Dann lief mir Maria über den Weg. Wir planten eine gemeinsame Zukunft, zu der auch die Lehrerausbildung gehörte. Es war ein Lebensprojekt, wir wollten heiraten. Vor ein paar Wochen scheiterte die Beziehung. Nun macht sie ihr Ding und ich meins. Aber ich bin froh, hier zu sein.
Die Angst bleibt natürlich trotzdem. Doch sie treibt uns auch an. Außerdem werden wir von den Angehörigen sowie vielen nationalen und internationalen Organisationen unterstützt. Das hilft und schützt uns. Meine Familie lebt nicht weit von hier, aber da bin ich eher selten. Nach dem Massaker habe ich mich mit meiner Mutter zerstritten. Sie wollte, dass ich Ayotzinapa verlasse. Sie hat Angst um mich. Mein Vater respektiert meine Entscheidung. Ich solle Gott um Schutz bitten, sagt er. Das mache ich auch.
Nächste Woche fahren wir nach Mexiko-Stadt, um an das Massaker vom 2. Oktober 1968 zu erinnern. Damals wurden mehrere hundert Studenten von Soldaten erschossen. Auch deshalb kämpfen wir weiter. Zu Recht wurde an eine Mautstelle hier in der Nähe gesprüht: „Solange es Armut in Mexiko gibt, brauchen wir die ländlichen Lehrerseminare.“
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Wolf-Dieter Vogel
URL: http://www.taz.de/!5234054/
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