Samstag, 21. Juli 2012

Künzli und die Marxsche Revolutionstheorie

von Otto Finger Dass die emsige Beschäftigung mit der marxistischen Dialektik im politischen Kern auf das Infragestellen der Revolutionstheorie, ihrer Verfälschung und „Widerlegung“ abzielt, hat in einer besonders massiven Form Arnold Künzli in der Aufsatzsammlung „Über Marx hinaus“ dokumentiert. [1/3] Was Künzli ferner besonders kenntlich macht, ist, welche Rolle den Revisionisten von imperialistischer Seite im Kampf {...} gegen die Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus zugedacht ist. Künzli kommt in der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung ohne Umschweife auf den Zusammenhang zu sprechen zwischen spätbürgerlicher Anti-Dialektik und marxologisch „unorthodoxer“ Dialektik auf der einen Seite und dem Versuch, die Gültigkeit der marxistischen Revolutionstheorie zu bestreiten, auf der andern Seite. Wo sich die Praxis nach Marx über eine „dialektische Polarisierung von Armut und Reichtum, Proletariat und Kapital, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf eine sozialistische Revolution hin hätte entwickeln müssen,“ habe sich „statt dessen“ (!) Eine von Marx „übersehene Mittelschicht der Angestellten zum bestimmenden antirevolutionären Faktor herausgebildet, integriert sich das Proletariat immer mehr in eben diese Mittelschicht und teilweise sogar in den Reichtum, vollziehen sich technisch bedingte Wandlungen in den Produktionsverhältnissen, stellen sich immer mehr Probleme des Reichtums – statt solcher der Armut – und erleben wir den Marxismus auf einer verzweifelten Suche nach dem verlorengegangenen revolutionären Subjekt ...“. [2/4] In der Tat läuft die Mehrzahl aller zeitgenössischen – akademisch aufwendigen oder vordergründig unwissenschaftlichen, offen imperialistischen und {...} „modern“ revisionistischen oder uralt opportunistischen – philosophischen Gegenkonzeptionen zur marxistisch-leninistischen Dialektik und der von ihr unlösbaren Theorie der sozialistischen Revolution auf diese von Künzli in durchsichtiger Plattheit zusammengebrachten Behauptungen hinaus. Wir haben es in dem einen einzigen eben zitierten Satz mit den folgenden falschen Thesen zu tun. Erstens: Der Widerspruch zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse habe sich nicht verschärft. Zweitens: Der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft habe sich nicht zugespitzt. Drittens: Eine Mittelschicht der Angestellten verhüte die Revolution. Viertens: Das Proletariat löse sich als Proletariat – also als vom Reichtum ausgeschlossene, ausgebeutete, unterdrückte, für Lohn arbeitende, ihre Arbeitskraft an den Kapitalisten verkaufende Klasse – bereits innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auf. Fünftens: Das Proletariat werde zur „Mittelschicht“ und verwandle sich in eine reiche Klasse. Sechstens: Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verwandelten sich im Gefolge der Technik. Siebtens: Der Reichtum sei gegenüber anderen Problemen zum bestimmenden geworden. Achtens: Es gäbe kein „revolutionäres Subjekt“ mehr. Künzli will sich in der erwähnten Aufsatzsammlung seinen Lesern – einem modischen Trend des imperialistischen ideologischen Betriebs folgend – als „kritischer“ Kopf vorstellen, als jemand, der keineswegs auf der ganzen Skala der falschen Töne imperialistischer Propaganda in das Horn des Monopolkapitals stoße, als wendiger, wohlinformierter Weltmann in Sachen politischer Theorie und heutiger Philosophie, der Wisse, dass in der westlichen Welt [- 1969 -] nicht alles zum Besten bestellt sei. In folgendem Sinne erweist er sich nun tatsächlich als „Nonkonformist“: Er geht mit allen progressiven und revolutionären Grundtatsachen unserer Epoche nicht konform. Und er stimmt mit der imperialistischen Reaktion auf diese sozialen, ökonomischen, politischen, ideologischen Grundtatsachen vollständig überein. Wobei hier die Nichtübereinstimmung mit den grundlegenden Vorgängen des sozialen Fortschritts unserer Zeit und der notwendigen sozialistischen Revolution die denkbar primitivste Gestalt annimmt. Ihr Vorhandensein wird einfach geleugnet. Gemäß einem ebenso alten wie letztendlich stets wirkungslosen Rezept der Verteidiger und Gesundbeter reaktionärer Zustände: Es kann nicht lebendig sein und sich entwickeln, was dem Interesse der rückschrittlichen Kräfte widerspricht und also nicht sein darf. Freilich: Solch dummforsches Leugnen der Tatsachen [- 1969 - 1975 -] drückt nicht bloß die „verzweifelte Suche“ nach der verlorengegangenen Perspektive der Bourgeoisie [1973] aus, sondern zielt auch auf Hemmung der politischen und ideologischen Entfaltung der genannten Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit. Die falschen antirevolutionären Zukunftserwartungen werden hier übrigens – ganz ähnlich wie bei den antileninistischen Programmen zeitgenössischer Revisionisten – auf die sogenannten „Mittelschichten“ gesetzt. Künzli spricht von „Angestellten“. Andere fassen genau dieselbe gegenrevolutionäre Tendenz in eine prorevolutionäre Phraseologie: Wir erinnern uns an Rapoports „Entdeckung“ der Intellektuellen als neuer, revolutionärer Klasse. Wir verweisen auf all die Varianten zu dem einen, alten, die Führungsrolle der Arbeiterklasse leugnenden Thema: die revolutionären Antriebe seien auf die Intelligenz als ganzes oder auf einzelne ihrer Gruppierungen übergegangen. Es sind zwei Seiten einer antimarxistischen und antirevolutionären Medaille, ob die objektive, von Marx entdeckte Dialektik der revolutionären Klassenbewegung unserer Epoche ersetzt wird durch das Bild vom alles durchdringenden modernen „Management“ als dem neuen systemerhaltenden Faktor der spätbürgerlichen Gesellschaft, von der Expertokratie, der Scientokratie usf. Oder aber, ob die Intellektuellen, die rebellierenden Studenten, opponierende Schriftsteller, den bürgerlichen Gehorsam verweigernde Experten, Techniker usf. für den neuen Angelpunkt revolutionärer Aktivität ausgegeben werden. Die Vielfalt und Hartnäckigkeit, mit der beides in der heutigen sozialtheoretischen und politischen Publizistik vertreten wird – dass also entweder diese Gruppierungen zwischen den Fronten von Kapital und Arbeit den revolutionären Zusammenprall verhüteten und ihn sinnlos machten, weil hier eben die im 19. Jh. noch nicht gelösten Fragen, z. B. der Krisen mildernden Planifikation, gemeistert wären oder dass im Gegenteil eben diese Schichten die Revolutionäre von Morgen wären –, die Ausdauer, mit der dies immer von neuem breitgetreten wird, bringt den folgenden Sachverhalt zum falschen, bürgerlich-ideologischen, politisch-reaktionären Ausdruck: In der sozialen Rolle, der klassenmäßigen Rekrutierung der Intelligenz, speziell der Masse der naturwissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Intelligenz sind Veränderungen eingetreten. Dies ergibt sich wesentlich aus der zunehmenden Tendenz zur Verwertung von Wissenschaft als Produktivkraft, aus Veränderungen im Umfang und Tempo des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Das Hauptdokument der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau im Juni 1969 stellt hierzu fest: „In unserer Epoche, in der die Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft wird, werden die Reihen der Lohnempfänger immer mehr durch Angehörige der Intelligenz aufgefüllt.“ [3/5] Es wächst also der Anteil der Schicht der Intelligenz an der Gesamtheit der vom Monopolkapital ausgebeuteten Werktätigen. Zum anderen bringen diese Konzeptionen die gar nicht unberechtigte Sorge zum Ausdruck, dass aus der Solidarisierung von wachsenden Teilen der Intelligenz mit den Arbeitern die Front des antiimperialistischen Kampfes verbreitert wird. Zu dieser Tendenz heißt es im Anschluss an den eben zitierten Satz aus dem Hauptdokument der Internationalen Beratung von 1969: „Ihre sozialen Interessen (die Interessen der Intelligenz; O. F.) Verflechten sich mit den Interessen der Arbeiterklasse. Ihre schöpferischen Bestrebungen geraten in Widerspruch zu den Monopolherren, denen der Profit über alles geht. Trotz der sehr unterschiedlichen Lage, in der sich die einzelnen Gruppen der Intelligenz befinden, gerät ein immer größerer Teil in Konflikt mit den Monopolen und der imperialistischen Politik der Regierungen. Die Krise der bürgerlichen Ideologie und die Anziehungskraft des Sozialismus [-1969-] tragen dazu bei, dass die Intelligenz den Weg des antiimperialistischen Kampfes beschreitet. Das Bündnis der körperlich und geistig Schaffenden wird zu einer immer bedeutenderen Kraft im Kampf für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt, für die demokratische Kontrolle der Produktion, der Kultureinrichtungen und Massenmedien, für die Entwicklung des Bildungswesens im Interesse des Volkes.“ [4/6] Die Schicht der Intelligenz, das ist das zunächst Wesentliche, wird soweit zu einem zusätzlichen Faktor im antiimperialistischen Kampf, wie sie durch das Monopolkapital zu einer der Arbeiterklasse angenährten Gruppe der ausgebeuteten Lohnempfänger wird. Wieweit aus antiimperialistischen Haltungen sozialistisch-revolutionäre erwachsen, hängt von einer Vielzahl objektiver Bedingungen und subjektiver Faktoren, von einer ganzen Reihe ökonomischer und politischer Ursachen ab, von der konkreten Situation des gegebenen Landes, den politischen Traditionen der Intelligenz dieses Landes, der Stärke des Einflusses reformistischer und kleinbürgerlicher Parteien auf die Schichten der Intelligenz, den Erfolgen der Bündnispolitik der marxistisch-leninistischen Partei. {...} Dass sich diese Normen der Arbeiterklasse – ihre Diszipliniertheit, Organisiertheit, ihr Mut, ihre Standhaftigkeit, ihr Klassenhass gegen die Bourgeoisie – dass sich diese Normen des Handelns und Bewusstseins nicht spontan durchsetzen, das lehrt die ganze, vom „Manifest der Kommunistischen Partei“ an datierende Geschichte der revolutionären marxistischen Arbeiterbewegung. - Diese Normen müssen vielmehr durch die politische Führungstätigkeit der Partei und ihre ideologische Erziehungsarbeit befestigt, befördert, gemäß den je entwickelten Bedingungen des Klassenkampfes auf stets höherer Stufenleiter – wissenschaftlich – theoretisch umfassender, politisch schlagkräftiger, ideologisch vertiefter – begründet, ausgebaut, massenhaft verbreitet werden. Und das gilt selbstverständlich angesichts des eben berührten Vorgangs in noch höherem Maß als je zuvor. Worauf zielt also das Gerede spätbürgerlicher Soziologen. Philosophen und philosophierender Journalisten vom Schlage Künzlis, dass die „Angestellten“, die Intelligenz, die „white collars“ ein antirevolutionärer oder aber der revolutionäre Faktor seien? Es zielt dies wesentlich auf folgendes ab: Erstens soll den fortschrittlichen politischen und ideologischen Folgen entgegengewirkt werden, die sich auf der Grundlage des objektiven Prozesses der Annäherung der sozialökonomischen Lage von Teilen der Intelligenz und der Lage der Arbeiterklasse im Imperialismus ergeben. Der Intelligenz, die ganz zwangsläufig – wie schon im „Manifest der Kommunistischen Partei“ als für den Kapitalismus typische Tendenz festgestellt [5/7] – proletarisiert wird, eben weil und sofern ihre Arbeitskraft auch als Naturwissenschaftler, als Ingenieur, als Techniker immer mehr den gleichen Bedingungen des Verkaufs und des Kaufs jeder Art Ware Arbeitskraft unterworfen wird, soll also eingeredet werden, sie sei gar keine sich dem Proletariat annähernde Schicht. Sie soll in ihren ideologischen und politischen Bedingungen an die Kapitalistenklasse gefesselt werden. Und zwar um so stärker, je mehr ihre wirkliche sozialökonomische Lage, ihre Lebensinteressen dem widersprechen. Es geht dabei um die Aufrechterhaltung und Rettung der allmählich schwindenden Illusion, die Intelligenz werde verschont von all den Folgen der sozialen Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft in die beiden Grundklassen der Bourgeoisie und des Proletariats. Zweitens wird angeknüpft an den in der Intelligenz vorhandenen Widerstand gegen diese Tendenz der Proletarisierung. Dies geschieht einmal auf der Grundlage der tatsächlichen, sehr starken sozialen, politischen, ideologischen Differenzierung in der Intelligenz selbst. Die imperialistische Bourgeoisie setzt ihre Hoffnungen auf die politisch rückständigen Gruppierungen, auf jene Schichten, die unmittelbar mit Aufgaben der Sicherung der imperialistischen Herrschaft, der Organisierung der ökonomischen Ausbeutung, der sozialen Unterdrückung, der ideologischen Manipulation betraut sind. Dabei dürfte ein Vorgang eine besondere Rolle spielen, den wir in Anlehnung an einen Begriff der Leninschen Analyse der sozialen Wurzeln des Opportunismus in der Arbeiterbewegung, den Begriff der Arbeiteraristokratie, als Prozess der gezielten Herausbildung und Beförderung einer „Intelligenzaristokratie“ bezeichnen könnten. - Extraprofite werden also im heutigen Imperialismus auch darauf verwandt, Teile der insgesamt zunehmend unter Lohnarbeitsbedingungen gestellten Intelligenz zu korrumpieren, um sie aktiv einsetzen zu können bei der durchaus geplanten Verhütung des angedeuteten Prozesses einer bewussten Annäherung an die Arbeiterklasse. Drittens soll aus Teilen der Intelligenz jener scheinrevolutionäre Popanz von „Kommunismus“, von „Revolution“ erzeugt werden, den die imperialistische Bourgeoisie braucht zwecks Verunglimpfung und Verteufelung beider, der sozialistischen Revolution und ihrer Kommunistischen Perspektive. - Solch durchaus erwünschtes Schreckgespenst liefert der Neoanarchismus, also jene antileninistische, auch antisowjetische Strömung – vorrangig aus studentischer Jugend und Intellektuellen rekrutiert –, die die Ideologien des kleinbürgerlich-sozialistischen Denkens der Max Stirner und Bakunin, der Proudhon und Kropotkin wieder aufnimmt, um auf diesem Boden gegen den Kapitalismus zu protestieren und zu agieren. - Der Neoanarchismus lässt die historisch längst als ohnmächtig erwiesenen, reaktionären Verhältnisse eher befestigenden als erschütternden Praktiken der von den Massen isolierten Einzelaktionen, der Attentate, des Bombenwerfens wiederaufleben. Gerade wegen der Trennung von den Massen der Werktätigen, gerade wegen der Unfähigkeit, zur disziplinierten, organisierten, politisch bewussten Massenaktion zu gelangen, auch wegen des Abscheus, den die Praktiken des „linken“ Radikalismus bei breiten Schichten erregen, ist das alles heute nicht bloß zum Scheitern verurteilt. Vielmehr versteht es die imperialistische Reaktion zunehmend, solche Aktionen in ihre antisowjetische Globalstrategie [- 1973 -] und ihre Innenpolitik einzubauen. Und zwar sowohl, um der Herausbildung und Festigung der antiimperialistischen Einheitsfront aller fortschrittlichen Kräfte entgegenzuwirken, als auch in die Arbeiterbewegung selbst die Spaltung hineinzutragen. Insbesondere aber, um die Formierung der Arbeiterklasse zum revolutionären Handeln auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei zu hemmen. - Die von imperialistischen Massenmedien, von kapitalistischen Verlagen so vielfältig geförderten, unterstützten, verbreiteten Ideologien und Phrasen des ultrarevolutionären, sich unerhört radikal gebenden, scheinbar ganz „links“ vom praktischen Sozialismus stehenden Neoanarchismus – auch Neotrotzkismus und Maoismus – entsprechen tatsächlich dem vom Imperialismus geplanten Zweck: Sie laufen auf die Beförderung antikommunistischer, antisowjetischer, antileninistischer Haltungen hinaus und tragen so objektiv – sicher sehr häufig im Gegensatz zu den subjektiv gewollten Zielen – nicht zur Schwächung des Monopolkapitalismus, sondern zur Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft bei. Denn die genannten drei untereinander verbundenen und sich durchdringenden Momente des Antikommunismus, das Antisowjetismus und des Antileninismus sind heute Hauptmerkmale der imperialistischen Reaktion {...} Es sind die ideologischen, die politischen und die philosophischen Hauptmerkmale dieser imperialistischen Reaktion. Alle spätbürgerliche Ideologie ist in der einen oder andern Weise durch Antikommunismus gekennzeichnet. {...} Und was schließlich den Antileninismus anlangt, so ist er zum Hauptgeschäft der philosophischen Produktion in der spätbürgerlichen Welt geworden, speziell auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie und der sozialen Theorienbildung. Der traditionelle Antimarxismus ist in den Antileninismus hinübergewachsen, und die Marx-„Rezeption“ ist längst einer seiner Bestandteile. Die Thesen vom Proletariat als nicht mehr revolutionärer Klasse und von der dominierenden Rolle der „Mittelschichten“ – worunter meist die Angestellten und die Intelligenz verstanden werden – bilden einen Angelpunkt aller übrigen von uns herausgehobenen Seiten der Anschauung, dass die von Marx entdeckte objektive Dialektik der sozialistischen Revolution keine Gültigkeit mehr besitze. Das politisch-ideologische Hauptziel der bei Künzli zusammengetragenen Angriffe auf den Marxismus und die marxistische Dialektik ist die Theorie der Revolution. Dies wird auch deutlich ausgesprochen: Die Marxsche Revolutionstheorie, meint Künzli, habe die „Patina des Musealen angesetzt und zum Teil den Charakter eines falschen Bewusstseins angenommen“ [6/8]. Der Untertitel des zitierten Buches von Künzli lautet: „Beiträge zur Ideologiekritik“. Der eben angeführte Beleg macht kenntlich, um welchen Bestandteil sozialistischer Ideologie es dieser sogenannten „Ideologiekritik“ vorrangig geht: um die Lehre von der Notwendigkeit der Revolution. Sie ist selbstredend ein Kernstück sozialistischer Ideologie, aber gerade damit – zum Unterschied sowohl von der revolutionären Ideologie des aufstrebenden Bürgertums des 17. und 18. Jhs. als auch von der gegenrevolutionären Ideologie des untergehenden Spätbürgertums – nicht falsches, sondern richtiges, nicht illusionäres, sondern realistisches, nicht vor- und antiwissenschaftliches, sondern wissenschaftliches Bewusstsein. Die Kriterien für die Richtigkeit dieses Bewusstseins hat die geschichtliche Praxis geliefert. Sie hat den konterrevolutionären Wunschtraum der imperialistischen Bourgeoisie und ihrer Publizisten, die Vorstellung vom Aufhören der sozialen Revolutionen, vom Verschwinden des proletarischen Klassenkampfes, von der Ersetzung der sozialen durch wissenschaftlich-technische Revolutionen, vom Aufhören des Zusammenpralls der modernen Produktivkräfte mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen als durch und durch falsches Bewusstsein erwiesen. Für dieses Bewusstsein gilt in der Tat noch immer, was Karl Marx und Friedrich Engels in der „Deutschen Ideologie“ als charakteristisch für alles vorwissenschaftliche gesellschaftliche Bewusstsein entlarvt haben: ihm erscheinen die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt. [7/9] Dieser Vergleich kennzeichnet die Falschheit als idealistische Verkehrung der sozialen Wirklichkeit. Auf den Kopf stellen meint hier nicht bloß Umkehrung der wirklichen Verhältnisse, sondern genauer: die wirklichen Verhältnisse verkehren sich in ideelle, an die Stelle der wirklichen materiellen tritt die Gedankenproduktion, praktisches Handeln löst sich in theoretisches auf. Die wirkliche Welt steht hier so auf dem Kopf, dass sich die Kopfarbeit, die intellektuelle Tätigkeit zur allesbestimmenden aufbläht. - Die Bourgeoisie erzeugt in der Illusion – die gleichwohl ihre reale ökonomische Stellung und politische Herrschaft in der Gedankenwelt widerspiegelt – die Welt nach ihrem Bilde und gemäß ihrer Usurpation ideologisch-geistiger Führungstätigkeit: Die Ideen – der Bourgeoisie – erscheinen als Schöpfer, Regierer und Erhalter der Geschichte und Gesellschaft. Eben dieser Idealismus begegnet uns – wiewohl unendlich tief unter dem theoretischen Niveau seines dialektischen Höhepunktes in Hegel – in der erörterten Konzeption wieder. - Wenn die Angestellten und Intellektuellen – als Intellektuelle und weiter Kopfarbeit verrichtende, in idealistischer Abstraktion von ihrer Klassenzugehörigkeit, ihrer ökonomischen Lage, ihrer Situation als Lohnarbeiter, als selbst Unterdrückter, Ausgebeuteter, in Abstraktion auch von den materiell-technischen, materiell-gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen diese Arbeit überhaupt nur möglich ist – wenn also diese falsch verstandenen „Kopfarbeiter“ als Subjekt künftiger Umwälzungen angeschaut werden, so ist dies nur die Wiederholung (auf höherer Stufenleiter freilich) einer uralten idealistischen Illusion. Eben der Illusion, dass der Geist, die „Elite“, die „denkende Persönlichkeit“ Geschichte mache. - Stets zielte diese Vorstellung auf die Herabwürdigung der Rolle der materiellen Produktion und damit der Rolle der [werktätigen] Volksmassen in der Geschichte ab. Heute dient sie der Leugnung der Tatsache, dass alle bisherigen sozialistischen Revolutionen entschieden das Werk der Arbeiterklasse waren. Im Vordergrund steht heute die Abwehr der Vorbildwirkungen dieser Revolutionen auf antiimperialistisches Oppositionsdenken und die, wenn man so sagen darf, „gegenrevolutionäre Prophylaxe“ gegen gefürchtete und sehr wohl erwartete künftige revolutionäre Erhebungen des Proletariats {...}« Anmerkungen 1/3 A. Künzli, Über Marx hinaus, Freiburg i. Br. 1969. 2/4 Ebenda, S. 9. 3/5 Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1969, Berlin 1969, S. 33. 4/6 Ebenda. 5/7 »Vgl. im „Manifest“ den Hinweis auf den Tatbestand, dass die Bourgeoisie alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet hat. „Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ (K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 465.)« 6/8 A. Künzli, Über Marx hinaus, S. 8. 7/9 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 26. Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.2. Künzli und die Marxsche Revolutionstheorie, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution. 29.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen