Dienstag, 16. August 2022
[IMI-List] [0613] Analysen: Kampfbrigade / Sondervermögen / Kompass / Mali
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0613 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser Mail findet sich
1.) Hinweise auf Neue IMI-Texte: Sondervermögen (erweiterte Analyse),
Mali-Mandate und Strategischer Kompass;
2.) Eine Analyse zur Ankündigung die deutsch-geführte NATO-Präsenz in
Litauen zu einer “robusten Kampfbrigade” ausbauen zu wollen.
1.) Neue Texte: Kompass – Mali - Sondervermögen
IMI-Studie 2022/4
Ein strategischer Kompass für Europas Rückkehr zur Machtpolitik
https://www.imi-online.de/2022/06/10/ein-strategischer-kompass-fuer-europas-rueckkehr-zur-machtpolitik/
Jürgen Wagner (10. Juni 2022)
IMI-Analyse 2022/29
Europas heimlicher Krieg im Sahel
MINUSMA und EUTM Mandate wieder einmal abgenickt. Die Berichterstattung
ist auf Regierungslinie.
https://www.imi-online.de/2022/06/09/europas-heimlicher-krieg-im-sahel/
Pablo Flock (9. Juni 2022)
Dokumentation - Radio Dreyeckland (6.6.2022)
Sondervermögen: „Völlig falsche Prioritätensetzung“
Interview mit Tobias Pflüger
https://www.imi-online.de/2022/06/07/sondervermoegen-voellig-falsche-prioritaetensetzung/
(7. Juni 2022)
IMI-Analyse 2022/28
Kriegskredite und Rüstungslisten
Ampel und Union beschließen 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr
https://www.imi-online.de/2022/06/06/kriegskredite-und-ruestungslisten/
Jürgen Wagner (6. Juni 2022)
IMI-Standpunkt 2022/023
Rassistische Traditionen
Rede vor dem U.S. Africa Command (AfriCom) in Stuttgart, 28.5.2022
https://www.imi-online.de/2022/05/30/rassistische-traditionen/
Pablo Flock (30. Mai 2022)
2.) Litauen: Robuste Kampfbrigade unter deutscher Führung
IMI-Analyse 2022/30
Robuste Kampfbrigade
Bundeswehr baut Präsenz in Litauen deutlich aus
https://www.imi-online.de/2022/06/10/robuste-kampfbrigade/
Martin Kirsch (10. Juni 2022)
Deutschland baut seine Präsenz im Baltikum weiter aus. Bei einem Besuch
in Litauen verkündete Kanzler Scholz die dortige Battlegroup unter
Führung der Bundeswehr zu einer “robusten Kampfbrigade” ausbauen zu
wollen. Diese Ankündigung könnte der Startschuss für die Aufstockung der
NATO-Truppen in allen drei baltischen Staaten und in Polen sein. Welche
Auswirkungen die zusätzliche Stationierung von NATO-Truppen für den
Fortbestand der NATO-Russland Grundakte von 1997 hat, ist innerhalb des
Bündnisses umstritten.
Battlegroup seit fünf Jahren
Am 14. Februar 2022, nur fünf Tage vor Beginn des russischen Angriffs
auf die Ukraine, hielt sich der deutsche General von Sandrat, Kommandeur
des Multinationalen Korps Nordost im polnischen Stettin, dem die vier
NATO-Battlegroups im Baltikum und in Polen unterstellt sind, für einen
Besuch in Litauen auf. Anlass war das fünfjährige Bestehen der dortigen
NATO-Battlegroup.
Die Entscheidung zur Stationierung von NATO-Kampfverbänden mit je rund
1.000 Soldat*innen in den drei baltischen Staaten und Polen war auf dem
NATO-Gipfel 2016 in Warschau gefallen. Während die Bundeswehr seit
Anfang 2017 die NATO-Truppen in Litauen führt, haben die USA, Kanada und
Großbritannien das Kommando über die Battlegroups in Polen, Lettland und
Estland übernommen.
Die Battlegroup im litauischen Rukla, gelegen zwischen der russischen
Exklave Kaliningrad und der belarussischen Grenze, soll laut NATO als
Stolperdraht fungieren – Russland also von einem Angriff abschrecken,
weil somit sofort auch weitere NATO-Staaten involviert wären. In
Russland hingegen wurde die Präsenz der NATO von Beginn an als
offensiver Akt interpretiert.
Im vergangenen Sommer hatten die deutschen Soldaten in Litauen durch
eine Party auf sich aufmerksam gemacht, bei der körperliche Gewalt,
entwürdigende Rituale, das Singen von antisemitischen Liedern und das
Rufen von rassistischen und antisemitischen Parolen sowie das Leugnen
des Holocaust anscheinend zum guten Ton gehörten. Damals wurde ein
gesamter Panzergrenadierzug aus Litauen abgezogen. Am 9. Februar 2022
eröffnete die Staatsanwaltschaft Lüneburg Verfahren gegen drei Soldaten
wegen Volksverhetzung und der Unterdrückung von Beschwerden.
Mehr NATO
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 gab
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits fünf Tage vor Kriegsbeginn
die Linie für die kommenden Wochen und Monate vor: „Wenn das Ziel des
Kremls ist, weniger NATO an seinen Grenzen zu haben, wird es nur mehr
NATO bekommen“, ließ Stoltenberg alle Welt wissen. Zu diesem Zeitpunkt
hatten Deutschland und Großbritannien bereits begonnen ihre Kontingente
in Litauen und Estland aufzustocken. Die Battlegroup in Litauen ist seit
Februar von zuvor knapp 1.100 auf gut 1.600 Soldat*innen angewachsen.
Rund 1.000 Soldat*innen kommen von der Bundeswehr.
Die USA verlegten bereits vor Kriegsbeginn Truppen nach Polen, in die
Slowakei, nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Auf einem
außerplanmäßigen NATO-Gipfel am 24. März 2022 in Brüssel wurde diese
Präsenz im Südosten im NATO-Rahmen formalisiert. Nach dem Vorbild aus
dem Nordosten werden seit Ende März auch in den vier südöstlichen
Staaten der NATO-Ostflanke neue Battlegroups eingerichtet. Unter
tschechischer Führung ist die Bundeswehr in der Slowakei mit einer
Kampfkompanie und Flugabwehrraketensystemen des Typs Patriot beteiligt.
Nicht erst seit diesem Jahr wird darüber debattiert, die Truppen im
Baltikum von einem Bataillon (rund 1.000) auf eine Brigade (bis zu
5.000) aufzustocken. Am 9. Februar 2022 forderte der litauische
Präsident Gitanas Nausėd öffentlich die permanente Stationierung von
US-Truppen in Litauen. Damit wäre die deutsche Führungsrolle dort
faktisch ausgehebelt worden. Bereits während eines Besuches in Vilnius
im April hatte Außenministerin Baerbock daher einen “substanziellen
Beitrag” zur verstärkten Verteidigung der baltischen Staaten angekündigt.
Scholz verspricht Kampfbrigade
Am 7. Juni 2022 besuchte auch Bundeskanzler Scholz Litauen. In seinen
Statements dort setze er auf ein Signal der Stärke. Durch die
Investitionen des 100 Milliarden Sondervermögens werde die Bundeswehr
zur „mit Abstand größten konventionellen NATO-Armee Europas“. Wofür
diese neue Stärke eingesetzt werden soll, machte Scholz auch gegenüber
den drei anwesenden baltischen Staatspitzen klar: „Als Verbündete werden
wir jeden Zentimeter des NATO-Gebietes verteidigen.“
Konkret bedeutet das für Scholz, die Battlegroup in Litauen zu einer
“robusten Kampfbrigade” weiterzuentwickeln.
Bisher ist nur bestätigt, dass die Bundeswehr ein vorgeschobenes
Brigadekommando nach Litauen entsenden wird. Woher die 3.000 bis 5.000
Truppen einer Brigade kommen und wo sie stationiert sein werden, ist
noch offen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland beruft sich auf Quellen
aus Regierungskreisen, die berichten, dass die Bundeswehr 3.000
Soldat*innen bereitstellen will, von denen allerdings nur 1.500 in
Litauen stationiert werden sollen. Der Rest könnte, wie bereits die
Aufstockung der Battlegroup im Februar 2022 bei einer Alarmierung aus
Deutschland nachrücken. Zudem ist davon auszugehen, dass auch
Partnerstaaten wie Norwegen, die Niederlande und weitere mehr Truppen
entsenden.
Darüber hinaus könnte auch ein rund 500 Soldat*innen umfassendes
Kontingent der US-Armee in die Brigade eingebunden werden. Seit 2019
befindet sich im Rahmen der US-Mission Atlantic Resolve regelmäßig eine
gepanzertes US-Bataillon in Litauen. Alles in allem würde die Brigade
mit Reservekräften dann über 4.000 Soldat*innen umfassen.
Startschuss für weitere NATO-Brigaden
Scholz Ankündigung der Schaffung einer NATO-Brigade in Litauen dürfte
erst der Anfang sein. Mitte Mai 2022 hatten die Regierungen der drei
baltischen Staaten deutliche Forderungen nach mehr NATO-Truppen in ihren
Ländern an das Bündnis gestellt. Der formale Beschluss zur Aufstockung
der Battlegroups im Nordosten dürfte Ende Juni auf dem NATO-Gipfel in
Madrid fallen. Dann dürfte auch eine Namensänderung ins Haus stehen. Die
enhanced Forward Presence (eFP/ verstärkte vorgeschobene Präsenz) soll
eine intensified Forward Presence (iFP/ intensivierte vorgeschobenen
Präsenz) werden.
In Polen wäre dieser Schritt mit einem reinen Etikettenwechsel möglich.
Im Rahmen der US-Mission Atlantic Resolve befindet sich dort neben der
US-geführten NATO-Battlegroup bereits seit 2017 ein rotierendes
Kontingent in der Größe einer reduzierten Panzerbrigade samt
Unterstützungskräften. Gemeinsam mit kleinen Kontingenten aus
Großbritannien, Rumänien und Polen wäre die dortige NATO-Brigade bei
einem entsprechenden Beschluss des Bündnisses also bereits vor Ort.
In Estland hat Großbritannien sein Kontingent seit Februar 2022 bereits
verdoppelt. Mit einer zusätzlichen rotierenden Stationierung von
britischen Truppen in der ehemaligen Garnison Paderborn in
Nordrhein-Westfalen könnten auch dort Reservekräfte, ähnlich denen der
Bundeswehr vorgehalten werden. Die britische Verstärkung der Truppen in
Estland im Februar 2022 war bereits vom dortigen Truppenübungsplatz
Sennelager auf dem Landweg ins Baltikum aufgebrochen.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich in Lettland ab. Sowohl die
Führungsnation Kanada als auch Spanien haben ihre dortigen Kontingente
bereits deutlich erhöht. Weitere Truppen könnten folgen. Zudem sind an
der Battlegroup in Lettland bereits jetzt sieben weitere NATO-Staaten
beteiligt, die ihr Material und Personal aufstocken könnten.
Dauerpräsenz vs. Rotation
Neben der Frage des Umfangs der NATO-Kampfverbände im Baltikum ist auch
eine Debatte über die Art der Stationierung entbrannt. Seit der
russischen Invasion in der Ukraine mehren sich die Stimmen, die eine
permanente Stationierung der NATO dort fordern. Bisher rotieren die
Truppen für die dortigen Battlegroups samt Material alle sechs bis neun
Monate aus ihrem jeweiligen Heimatland ins Baltikum. Die Struktur und
der enorme logistische Aufwand entsprechen eher dem eines Auslandseinsatzes.
In der Öffentlichkeit wird diese Debatte in den USA wohl am deutlichsten
geführt. Seit Jahresbeginn haben die US-Streitkräfte ihre Truppen in
Europa von rund 60.000 auf gut 100.000 verstärkt. Eine nicht namentlich
genannte Quelle aus der US-Administration ging Mitte Mai gegenüber CNN
davon aus, dass diese Zahl zeitnah nicht wieder schrumpfen werde. Seine
Vorstellungen, wie diese zusätzlichen Truppen in Europa künftig
untergebracht werden sollen, legte der oberste US-Militär General Marc
Milley während einer Anhörung des US-Kongresses im April 2022 dar.
Milley geht davon aus, dass entlang der NATO-Ostflanke mehr permanente
Basen mit entsprechender Infrastruktur errichtet werden. Die
Soldat*innen sollen seiner Vorstellung nach allerdings weiter im
Rotationsverfahren dort eingesetzt werden.
Bisher hatte auch die Bundesregierung darauf gesetzt, die Truppen im
Baltikum zu verstärken, sie aber weiterhin kontinuierlich im
Rotationsverfahren auszutauschen. Das gemeinsame Statement von Scholz
und dem litauischen Präsidenten Nausėda in Vilnius enthält allerdings
Hinweise darauf, dass die Bundeswehr dauerhaft Ausrüstung in Litauen
stationieren könnte. Darin heißt es, Litauen werde “Infrastruktur für
die Bevorratung und Bereithaltung militärischen Materials” zur Verfügung
stellen.
In eine ähnliche Richtung deutet auch ein Ankündigung der deutschen
Rüstungsindustrie. Am 8. Juni, nur einen Tag nach den Besuch von Scholz,
erklärten Rheinmetall und KMW in einer Pressemitteilung einen neuen
Firmenstandort in Litauen errichten zu wollen, “um Gefechtsfahrzeuge der
litauischen sowie weiterer im Baltikum stationierten NATO-Streitkräfte
umfassend logistisch betreuen zu können.”
Über Logistik weit hinaus birgt die Frage nach einer permanenten
Stationierung allerdings Sprengkraft innerhalb der NATO und mit Blick
auf die Reste der gemeinsamen Rüstungskontrolle mit Russland.
Aufrüstungsspirale mit nuklearer Komponente?
Ohnehin von beiden Seiten längst infrage gestellt, könnte die weitere
Stationierung von NATO-Truppen nahe der russischen Grenze das endgültige
Ende der NATO-Russland Grundakte von 1997 bedeuten. Diese hatte nicht
nur den Weg für die erste Runde der NATO-Osterweiterung frei gemacht,
sondern im Gegenzug auch Richtlinien für die Stationierung von Truppen
in Osteuropa festgehalten. So wird in einer Formulierung erklärt, die
NATO habe keine Absicht, dauerhafte “substantielle Kampftruppen” auf dem
Gebiet des ehemaligen Warschauer Pakts zu stationieren.
Folgt man der aktuellen Debatte innerhalb der NATO, könnten diese
Diskussionen bald ganz vom Tisch gefegt werden. Einige Mitgliedsstaaten,
darunter auch Litauen, haben bereits verkündet, sich nach dem russischen
Einmarsch in der Ukraine nicht mehr an die Grundakte gebunden zu fühlen.
Diese Meinung hat auch NATO-Vize-Generalsekretär Mircea Geoană bei einem
Besuch in Litauen öffentlich vertreten. Ob diese Interpretation, die von
der bisherigen Linie der Bundesregierung abweicht, sich auf dem
NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid durchsetzen wird, ist noch offen.
Mit einer möglichen Aufkündigung der Grundakte würde sich die NATO
allerdings nicht nur freie Hand bei der Stationierung von
konventionellen Truppen in Osteuropa verschaffen. Auch die Zusage der
NATO, keine Atomwaffen auf dem Territorium der neuen Mitgliedsstaaten zu
stationieren, wäre damit hinfällig. Ein Ende der NATO-Russland Grundakte
könnte daher der Beginn eines neuen nuklearen Wettrüstens in Europa
bedeuten. Wenig Hoffnung in dieser Hinsicht macht auch, dass die
US-Streitkräfte bereits im Dezember 2021 das 56. Artilleriekommando in
Deutschland reaktiviert haben, dem bis zum Ende des Kalten Krieges die
US-Mittelstreckenraketen des Typ Pershing 2 unterstellt war.
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