Dienstag, 16. August 2022

[IMI-List] [0612] Auswertung: Einigung Bundeswehr-Sondervermögen / Weitere neue Texte

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0612 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, die Zeitenwende nimmt leider Form an: Gestern Abend einigten sich die Verhandler*innen von Ampel und Union, sodass dem Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Mrd. Euro und womöglich sogar einer gesetzlichen Verankerung des sogenannten 2-Prozent-Ziels der Weg gebahnt wurde. Bevor in dieser Mail eine erste Auswertung folgt hier erst einmal noch die Hinweise auf die seit der letzten IMI-List erschienenen neuen Texte auf der IMI-Internetseite: IMI-Analyse 2022/27 - in: Telepolis, 19.5.2022 Geflüchtete protestieren in Libyen gegen EU-finanzierte Folterknäste https://www.imi-online.de/2022/05/30/gefluechtete-protestieren-in-libyen-gegen-eu-finanzierte-folterknaeste/ Pablo Flock (30. Mai 2022) IMI-Standpunkt 2022/021 Wir sind am 24. Februar nicht in einer anderen Welt aufgewacht Geostrategie und der Weg in die Eskalation in der Ukraine https://www.imi-online.de/2022/05/30/wir-sind-am-24-februar-nicht-in-einer-anderen-welt-aufgewacht/ Jens Wittneben (30. Mai 2022) IMI-Analyse 2022/26 Keine Verhandlungen – Mehr Waffen – Mehr Widerstand Dreht sich die Stimmung über den Ukraine-Krieg in Deutschland? https://www.imi-online.de/2022/05/11/keine-verhandlungen-mehr-waffen-mehr-widerstand/ Jürgen Wagner (11. Mai 2022) IMI-Standpunkt 2022/020 Zynische Stellvertreter-Strategie USA wollen keine Verhandlungen, sondern eine „beispiellose Summe“ für einen langen Krieg in der Ukraine bereitstellen https://www.imi-online.de/2022/04/29/zynische-stellvertreter-strategie/ Jürgen Wagner (29. April 2022) IMI-Analyse 2022/25 Eskalationsspiralen Berlin gibt schwere Waffen für Ukraine frei https://www.imi-online.de/2022/04/27/eskalationsspiralen/ Martin Kirsch (27. April 2022) Nun aber zur Auswertung der Einigung über das Bundeswehr-Sondervermögen: IMI-Standpunkt 2022/022 Einigung auf Kriegskredit Ampel und Union verständigen sich auf 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr https://www.imi-online.de/2022/05/30/einigung-auf-kriegskredit/ Jürgen Wagner (30. Mai 2022) Mit der am 27. Februar 2022 in seiner Regierungserklärung ausgerufenen Zeitenwende kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz zahlreiche tief greifende Maßnahmen an, insbesondere was die künftige finanzielle Ausstattung der Bundeswehr anbelangt. Die gestern Abend verkündete Einigung zwischen der Ampel-Regierung und der Unionsfraktion in Sachen Sondervermögen für die Bundeswehr ebnet nun der größten Aufrüstung in der Geschichte der Bundeswehr wohl endgültig den Weg. Damit hätten Regierung und Unionsopposition im „Grundsatz grünes Licht für Waffenbestellungen bei der Rüstungsindustrie in großem Stil“ gegeben, freut sich bereits die FAZ. Rüstung per Regierungserklärung In seiner Regierungserklärung brachte Scholz gleich in mehreren wichtigen Punkten die letzten kritischen Stimmen innerhalb von SPD und Grünen per Kanzlererklärung zum Schweigen, indem er sich zum Beispiel klar für die bis dahin hochumstrittene Bewaffnung der Heron-TP-Drohnen oder etwa für die Beschaffung von F-35 Kampfflugzeugen und damit die Beibehaltung der Nuklearen Teilhabe aussprach (siehe IMI-Analyse 2022/10). Völlig zu Recht erhielten allerdings die Passagen, die sich mit der künftigen finanziellen Ausstattung der Bundeswehr beschäftigten, die mit Abstand größte Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang enthielt die Regierungserklärung zwei weitreichende Ankündigungen. Erstens wurde ein hoher Mindestbetrag für den offiziellen Rüstungshaushalt ausgelobt: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Nicht umsonst war eine solche Größenordnung zwar lange von der NATO gefordert, aber ebenso lange für völlig undenkbar gehalten worden. Denn was hier so harmlos mit Zahlen im unteren einstelligen Bereich daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Erhöhung der Ausgaben um riesige Milliardenbeträge. Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro. Wäre hierfür bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt in diesem Jahr statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro also auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Obwohl der Militäretat nach der Einigung auf den Bundeshaushalt 2022 am 20. Mai 2022 mit 50,4 Mrd. Euro satte 3,5 Mrd. Euro über dem Vorjahresniveau liegen wird, ist es somit offensichtlich, dass zu den von Kanzler Scholz ausgerufenen 2% eine erhebliche Lücke klafft. Diese Kluft soll künftig jährlich durch die zweite in der Zeitenwende-Regierungserklärung enthaltene Bundeswehr-Budgetaussage geschlossen werden: „Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten. […] Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.“ Das Geld soll in diesem Jahr per Kredit aufgenommen werden, um 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können. Obwohl zwischenzeitlich auch über andere Optionen spekuliert worden war, soll das Sondervermögen per Grundgesetzänderung über die Bühne gebracht werden, da es ansonsten rechtlich doch auf sehr wackligen Beinen stehen würde. Und hierfür braucht es wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheit die Unionsfraktion, die sich - gerade erst von der Regierungsbank geflogen - unversehens gleich wieder in einer Position sah, Forderungen stellen zu können. In den dann anschließenden Verhandlungen um die Ausgestaltung des Sondervermögens pochte die Union vor allem auf zwei Forderungen: Einmal, dass die 100 Mrd. Euro ausschließlich der Bundeswehr zugutekommen dürften; und zweitens wollte sie das 2-Prozent-Ziel gleich mit ins Grundgesetz als verbindliche Untergrenze des Militärhaushaltes mit hineindrücken. Fokus Bundeswehr Der Gesetzentwurf zur Sondervermögen-Grundgesetzänderung in Artikel 87a liegt bereits seit März 2022 vor, unter anderem die FAZ (15.3.2022) hatte bereits aus ihm zitiert: „Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. Auf die Kreditermächtigung sind Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 [Schuldenbremse] nicht anzuwenden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Der recht allgemein gehaltene Begriff der „Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit“ war dabei hinreichend schwammig formuliert, dass vor allem die Grünen darauf pochen konnten, das 100 Mrd. Euro Sondervermögen solle auch für andere sicherheitsrelevante Bereiche außerhalb der Bundeswehr genutzt werden können. Augenscheinlich konnten – oder wollten – sich die Grünen bei der jetzigen Einigung an diesem Punkt aber nicht durchsetzen. Dazu lässt sich heute bei tagesschau.de nachlesen: „Beim Streitpunkt der Verwendung des Geldes wurde vereinbart, dass auch Maßnahmen zur Cybersicherheit, für den Zivilschutz sowie zur Stabilisierung von Partnerländern ergriffen werden - aber ‚aus dem Bundeshaushalt finanziert‘, also nicht aus dem Sondervermögen. Die Union hatte darauf gepocht, dass das Sondervermögen ausschließlich für die Bundeswehr verwendet wird. Vor allem die Grünen wollten, dass mit dem Geld auch Cyberabwehr sowie Unterstützung für Partnerstaaten finanziert wird.“ Ob der im März präsentierte Gesetzesentwurf nun noch einmal geändert oder ob der Ausgaben-Fokus auf die Bundeswehr in einer separaten Abmachung festgehalten wird, ist bislang unklar. Interessant ist jedenfalls, dass der Tagesspiegel berichtet, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hätte zunächst in harten Verhandlungen erreicht gehabt, dass im Kabinettsbeschluss zum Sondervermögen die direkte Nennung der Bundeswehr als alleinigem Nutznießer vermieden worden war. Ein echtes Armutszeugnis ist dann aber die Begründung, weshalb die Grünen laut Tagesspiegel wohl meinten, hier klein beigeben zu müssen – und die sagt auch viel über die Prioritäten der Partei aus: „In den Verhandlungen zum Entschließungsantrag des Bundestags zur Lieferung schwerer Waffen hatte die Union dann als Preis ihrer Zustimmung erreicht, dass statt der Baerbock-Formel wieder die Ausstattung der Bundeswehr genannt wurde, was sie auch für die Verhandlung zur Grundgesetzänderung einforderten.“ Fest steht auf alle Fälle, wer hier seinen Kopf durchgesetzt hat: „Punktsieg für die Union, eine Niederlage für die Grünen“, urteilt der Tagesspiegel. Und auch im zweiten zentralen Bereich, dem 2-Prozent-Ziel, ist es weitaus weniger klar, als es gerade in der Presse dargestellt wird, ob die Union nicht auch hier am Ende noch einen zweiten Punktsieg davontragen wird. 2%-Ziel durch die Hintertür? Die gestrige Einigung zwischen Ampel und Union besage, das 2-Prozent-Ziel werde künftig „im mehrjährigen Durchschnitt“ erreicht, heißt es in Medienberichten. Allerdings hat das Ganze einen erheblichen Haken: Angesichts eines Bundeswehr-Etats von 50,4 Mrd. Euro in diesem Jahr und den – bisherigen – Planungen in den Eckwerten des Bundeshaushaltes vom 16. März, in denen offizielle jährliche Militärausgaben von 50,1 Mrd. Euro in den Jahren 2023 bis 2026 vorgesehen sind, klafft eine jährliche Lücke zum 2-Prozent-Ziel im Umfang von rund 25 Mrd. Euro (bei steigender Tendenz), die über das Sondervermögen geschlossen werden soll. Bleibt es bei den bisherigen Planungen, so wird das Sondervermögen dann aber bereits 2025 aufgebraucht sein, wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) errechnete. Vor diesem Hintergrund müsste angesichts des zu erwartenden Anstiegs des BIP der offizielle Militärhaushalt dann irgendwann 2025 oder 2026 um etwa 30 Mrd. Euro angehoben werden – und das bei Einhaltung der „Schwarzen Null“, das heißt auf Kosten massiver Einsparungen in anderen Haushalten. Es sei deshalb zwingend, den offiziellen Haushalt so schnell wie möglich auf die besagten 2-Prozent anzuheben, sonst drohten erneut gravierende Deckungslücken, so die DGAP weiter: „Laut Entwurf soll der Verteidigungshaushalt bei 50,1 Milliarden Euro eingefroren werden. Schon 2022 müsste der Haushalt aber etwa 75 Milliarden Euro betragen, um auf zwei Prozent des BIPs zu kommen. Bleibt der jährliche Verteidigungshaushalt bis 2030 konstant, entsteht eine Finanzierungslücke von 349 Milliarden Euro. Ein Teil dieser Lücke – 100 Milliarden Euro – wird durch das Sondervermögen aufgefangen. Damit fehlen in den kommenden acht Jahren aber immer noch 249 Milliarden Euro, oder 269 Milliarden, wenn das Sondervermögen bis 2032 gestreckt wird.“ Vor diesem Hintergrund beharrte die Union lange darauf, sogar das 2-Prozent-Ziel als verbindliche Untergrenze des Militärhaushaltes mit in die Grundgesetzänderung aufzunehmen. Das zumindest scheint nun nach der gestrigen Einigung erst einmal vom Tisch zu sein. Die Union habe sich in dieser Frage „nicht durchsetzen“ können, ist in der Presse zu lesen. Allerdings heißt es nun aus den Reihen der Unionsfraktion, das sei ohnehin nie das Ziel gewesen, das 2-Prozent-Ziel solle vielmehr über ein kommendes Bundeswehr-Finanzierungsgesetz auch nach Aufbrauchen des Sondervermögens gewährleistet werden: „Unions-Fraktionsvize [Johann] Wadephul betont, ein eigenes Bundeswehr-Finanzierungsgesetz solle die Details zur Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels absichern. Die Lösung sieht nun so aus, erläutert er auf Tagesspiegel-Anfrage: Der Bund verpflichte sich mit dem Bundeswehr-Finanzierungsgesetz erstmalig per Gesetz, die zwei Prozent, also aktuell rund 70 Milliarden Euro im Jahr, für die Bundeswehr und Verteidigung, dauerhaft einzuhalten. ‚Das geschieht zunächst durch den Bundeshaushalt plus Sondervermögen. Wenn dieses aufgebraucht ist, muss der Bundeshaushalt entsprechend erhöht werden‘, so Wadephul.“ (Tagesspiegel) Unklar ist aktuell, ob sich die Verhandler*innen von Ampel und Union hierauf verbindlich verständigt haben. Sollte dies der Fall sein, wäre die Ampel noch in dieser Legislatur unter einem erheblichen Zugzwang, ihr blieben damit nur drei Optionen: Entweder sie beginnt bereits im kommenden Jahr damit, den offiziellen Haushalt deutlich anzuheben, würde aber damit ihre bisherigen Planungen über den Haufen werfen, den Etat auf 50,1 Mrd. Euro einzufrieren; oder sie setzt zum großen Sprung an und lässt das offizielle Militärbudget nach Aufbrauchen des Sondervermögens in einigen Jahren gleich massiv um die besagten rund 30 Mrd. Euro anwachsen, stünde dann aber vor dem Problem, wie dies über Kürzungen in anderen Haushalten refinanziert werden soll; oder sie kassiert ihr eigenes Gesetz wieder ein, was der Ampel, selbst wenn dies gewollt wäre, wohl recht schwerfallen dürfte. Somit wurden gestern wohl die Grundlagen gelegt, um aus Deutschland zumindest von den Ausgaben her dauerhaft die größte Militärmacht in Europa zu machen. IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

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