Mittwoch, 31. August 2022
Flächendeckende Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen wecken Erinnerungen an Pegida und Sorge vor Gewalt
Die Polizeimeldungen klingen unspektakulär. In Grimma, so teilte die Polizeidirektion Leipzig dieser Tage mit, hätten sich 130 Personen zu einem »Spaziergang« getroffen. Es habe aber keine Meinungsäußerungen gegeben; man habe also auch keinen »Versammlungscharakter« feststellen können. Gleiches konstatierte die Polizeidirektion Görlitz für den »Ringspaziergang« in Zittau am Montag, bei dem sich »allerhand Kleingruppen« über den Stadtring bewegten, »fast ausschließlich ohne Mund-Nasen-Schutz«, wie angemerkt wurde. In Zwönitz im Erzgebirge spazierten 100 Menschen schon am Sonntag durch die Stadt. Mit politischen Äußerungen hielten sie sich weniger zurück. Sprechchöre wie »Frieden, Freiheit, keine Diktatur« seien zu hören gewesen; und »vereinzelt«, berichtet die »Freie Presse«, sei auch »ganz konkret der Sturz der Regierung« thematisiert worden.
Szenen wie diese spielen sich in Sachsen allwöchentlich ab. In Dutzenden Klein- und Mittelstädten gibt es regelmäßig Proteste gegen Corona-Beschränkungen, oft verbunden mit einer Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik, die Reichs- oder königlich-sächsischen Flaggen ausdrücken sollen. Die im Februar gegründete Bewegung »Freies Sachsen«, in der Rechtsextreme den Ton angeben und die den »Widerstand gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen« anfachen will, listet allein für diesen Montag Aktionen in 37 Orten auf und stellt fest, die »Montagsproteste« hätten sich zu einem »Flächenbrand« ausgeweitet. Auch Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen, das Demokratieberatung anbietet, räumt ein: »Es handelt sich um ein flächendeckendes Phänomen.«
Darüber, welchen Umfang es tatsächlich hat, sind Beobachter uneins. Kerstin Köditz, Sprecherin für antifaschistische Politik in der Landtagsfraktion der Linken, fühlt sich an die zahlreichen »Nein zum Heim«-Initiativen erinnert, die 2015 während der »Flüchtlingskrise« in Sachsen entstanden. Sie bezeichnet die Corona-Proteste bereits als »Pegida 2.0«. Dagegen warnt Nattke davor, diese »größer zu machen, als sie tatsächlich sind«. Die Zahl der Teilnehmer liege, bezogen auf die Einwohnerzahl des Freistaats, »im Promillebereich«. Von einer »Massenmobilisierung«, sagt Nattke, »sind wir bisher weit entfernt.«
Dennoch hält auch er die Bewegung, die nicht zentral koordiniert wird, aber vielfach nach ähnlichem Muster agiert, für potenziell gefährlich. Vom anhaltenden Lockdown entnervte Eltern oder Unternehmer gehen dabei Allianzen mit Vertretern der extremen Rechten, Verschwörungsideologen und Esoterikern ein; es grassiert eine verächtliche Haltung gegenüber Staatsmacht und Demokratie, die sich in den Filterblasen sozialer Medien verstärkt. Nattke beobachtet eine »Euphorie, als stünde der Umsturz unmittelbar bevor«. Nachdem Nazis vorige Woche am Rande der Corona-Proteste in Zwönitz die Polizei angegriffen und acht Beamte verletzt hatten, sprach auch CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer von »Versuchen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Institutionen zu zerstören«.
Es ist eine Dynamik, die Nattke mit Sorge beobachtet – weil nicht auszuschließen ist, dass sie einzelne Aktivisten zu gezielter Gewalt anstachelt. »Die Erfahrung mussten wir bei Pegida machen«, sagt er. Bei den islamfeindlichen Kundgebungen trafen sich Mitglieder der späteren rechtsterroristischen »Gruppe Freital«, die danach Flüchtlingsheime und politische Gegner attackierten. Der »Moscheebomber«, der 2016 einen Sprengstoffanschlag verübte, war zuvor als Redner bei Pegida aufgetreten. »Wir befürchten, dass die jetzigen Demonstrationen erneut derlei Gewalt hervorbringen könnten«, sagt Nattke: »Es ist zu hoffen, dass die Sicherheitsbehörden die Gefahr ernst nehmen.« Köditz ist diesbezüglich freilich skeptisch. Schon während der zuwanderungsfeindlichen Proteste 2015 habe der Staat viel zu zögerlich agiert: »Damals wurde das Gefühl vermittelt, jeder könne ungestraft machen, was er will.« Auch jetzt sind selbst Verfahren wegen Verstößen gegen Corona-Regeln eher eine Ausnahme.
Köditz befürchtet auch, dass die Unmutswelle sich bei der Bundestagswahl auswirkt. Die AfD greift die Stimmung auf sächsischen Marktplätzen auf; teils organisiert sie Protest selbst. »Sie sieht sich als parlamentarischen Arm der Bewegung«, sagt die Linksabgeordnete. Trüge das Früchte, hätte das politische Sprengkraft. Laut einem Szenario des Instituts INSA von Mitte April könnte die AfD im September in zehn der zwölf Wahlkreise außerhalb von Dresden und Leipzig die Direktmandate gewinnen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass sie bei den Zweitstimmen wie schon zur Bundestagswahl 2017 vor der CDU liegt. Damals mündete das im Rücktritt von Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU).
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