Donnerstag, 29. April 2021
[Chiapas98] Dokumentarfilm "Silence Radio":Tägliche Morddrohungen (Süddeutsche Zeitung, 26.04.2021)
Der Dokumentarfilm "Silence Radio" zeigt, wie die mexikanische Journalistin Carmen Aristegui gegen Kartelle und korrupte Politiker kämpft.
Von Sabina Zollner
Süddeutsche Zeitung, 26.04.2021
"Es war einmal ein weißes Haus in einem luxuriösen Viertel in Mexiko-Stadt, bewohnt vom Präsidenten des Landes. Und es waren Journalisten, die seine Geschichte erzählten. Die Geschichte endet mit Zensur", sagt die mexikanische Journalistin Carmen Aristegui. Sie sitzt in einem Konferenzraum der interamerikanischen Menschenrechtskommission in Washington D.C.. Es sind zahlreiche Medienvertreter, Politiker, Journalisten und Zuschauer anwesend. Doch Aristegui erzählt kein Märchen, sondern die Wahrheit. So deckte die Hörfunkjournalistin 2014 auf, wie der damals amtierende Präsident Enrique Peña Nieto sich über die Vergabe eines Bauauftrags eine Luxusvilla finanzieren ließ.
Der Korruptionsskandal sorgte international für Aufsehen. Doch der eigentliche Skandal kam danach: Ein paar Monate nach der Enthüllung verloren die Journalistin und ihr Team ihre Jobs. Damals moderierte sie bei dem Radiosender MVS eine der erfolgreichsten Sendungen des Landes. Somit war die Kündigung keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung.
Aus dem Leben der Enthüllungsjournalistin Carmen Aristegui erzählt der Dokumentarfilm "Silence Radio" von der mexikanischen Regisseurin Juliana Fanjul, der als Video on demand über den Filmverleih jip erhältlich ist.
Der Film ist ein mitreißendes Portrait über eine Frau, die sich trotz staatlicher Unterdrückung nicht einschüchtern lässt, die nicht aufgibt in ihrem Kampf um Pressefreiheit und Gerechtigkeit. Die Regisseurin begleitet Aristegui, nachdem sie und ihr Team gefeuert wurden. Um weiter arbeiten zu können, startet die Journalistin einen eigenen Online-Sender. In der Doku ist man bei diesem Prozess mit dabei.
Die Bilder sind nicht perfekt inszeniert, sie sprechen aber in ihrer Authentizität für sich. So sitzt man mit der Journalistin und ihrem Team mit am Tisch, wenn darüber beraten wird, ob eine Enthüllungsgeschichte über die Verwicklung eines Regierungschefs in dem Drogenkartell vor oder nach dem Wahlkampf veröffentlicht werden soll. Oder man bekommt mit, wenn sich das Team nach einem Einbruch in der Redaktion gemeinsam Aufnahmen der Überwachungskameras anschaut.
Mexiko ist das gefährlichste Land der Welt für Journalistinnen
"Silence Radio" ist nicht nur ein Portrait einer Journalistin, sondern auch ein Portrait eines Landes, das jahrzehntelang von Gewalt und Korruption geplagt ist. So sieht man Nachrichtenaufnahmen von Menschen, die von der Brücke hängen, Bilder entführter Zivilisten. Und man hört die Regisseurin aus dem Off sagen: "Armut ist normal, Machtmissbrauch ist normal, Schrecken ist normal."
Es ist ein sehr persönlicher Film. Nicht nur die Protagonistin spricht, auch die Filmemacherin selbst kommt zu Wort. Sie hört Aristeguis Sendung schon lange. Für sie ist Aristegui eine große Hoffnung in der Medienlandschaft Mexikos. Eine der wenigen Journalistinnen, die ihr Schweigen brechen und der Korruption der Mächtigen auf der Spur sind.
Man ist fasziniert von dieser Frau, die von den staatlichen Einschüchterungen unbeeindruckt bleibt, die einfach weitermacht, auch wenn das bedeutet, dass sie ihren Sohn auf eine Schule in die USA schicken muss, damit er sicherer ist. Dabei zeigt die Dokumentation schonungslos, was es heißt, Journalistin in Mexiko zu sein. Man sieht die Nachrichtenbilder des ermordeten Journalisten Javier Valdez. Aristegui und ihr Team erhalten permanent Morddrohungen. Man sieht Mitarbeiter, die mit Tränen in den Augen sagen: "Man sollte für diesen Job nicht sterben."
Doch es gibt auch Momente der Hoffnung. So sieht man immer wieder Passanten auf der Straße auf Aristegui zulaufen, sie werfen sich ihr um den Hals, danken ihr für ihren Mut und ihre Arbeit. Mittlerweile ist es sechs Jahre her, dass Aristegui ihren Job verloren hat. Deshalb drängt sich zum Ende des Films immer mehr die Frage auf: Wie ist die Situation jetzt in Mexiko? Die politische Führung hat gewechselt, mittlerweile ist Andrés Manuel López Obrador Präsident. Doch es scheint sich wenig verändert zu haben. Aristegui arbeitet zwar wieder bei ihrem ursprünglichen Arbeitgeber. Doch Mexiko ist laut "Reporter ohne Grenzen" noch immer das gefährlichste Land der Welt für Journalisten. So wurden im vergangenen Jahr mindestens acht Journalisten ermordet. Aristegui und ihre Kollegen arbeiten immer noch in ständiger Bedrohung.
Silence Radio, Mexiko 2019 - Regie: Juliana Fanjul. Kamera: Jérôme Colin. Schnitt: Yael Bitton. jip Filmverleih, 79 Minuten.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/silence-radio-doku-mexiko-1.5276564
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