Dienstag, 10. Mai 2022

[IMI-List] [0611] Studie: Ukraine-Krieg & Drohnen / Analyse: Arktischer Rat / Weitere Texte

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0611 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1.) neue Texte (Anfeindungen gegen die Friedensbwegung, Blockaden gegen den Krieg…); 2) eine neue IMI-Studie über Drohnen im Ukraine-Krieg; 3.) IMI-Analyse: Arktischer Rat 1.) Neue Texte Der Friedensbewegung wurden im Vorfeld der diesjährigen Ostermärsche wüste Anschuldigungen vor die Füße geworfen, mit denen sich zwei neue Texte beschäftigen. Außerdem erschienen sind nun diverse Reden, die von einzelnen RednerInnen der IMI auf den Ostermärschen gehalten wurde. Neu ist auch ein Text über Anti-Ukraine-Kriegs-Blockaden in verschiedenen Ländern. IMI-Standpunkt 2022/019 Blockaden in Ost und West Protest und Widerstand gegen die Logistik des Krieges https://www.imi-online.de/2022/04/21/blockaden-in-ost-und-west/ Jan Hansen (21. April 2022) Dokumentation Warum Pazifismus gerade wichtiger denn je ist https://www.imi-online.de/2022/04/25/warum-pazifismus-gerade-wichtiger-denn-je-ist/ (25. April 2022) IMI-Standpunkt 2022/018 Anfeindung Wer Frieden wünscht, ist naiv? https://www.imi-online.de/2022/04/21/anfeindung/ Andreas Seifert (21. April 2022) Dokumentation der Ostermärsche IMI-Reden auf den Ostermärschen 2022 https://www.imi-online.de/2022/04/21/imi-reden-auf-den-ostermaerschen-2022/ (21. April 2022) 2.) Studie: Drohnen im Ukraine:Krieg IMI-Studie 2022/03 Drohnen im Ukraine-Krieg Technologietransfer als Gamechanger – und Kriegsgrund? https://www.imi-online.de/2022/04/26/drohnen-im-ukraine-krieg/ Christoph Marischka (26. April 2022) Einleitung Was heute als Ukraine-Krieg bezeichnet wird, sind die Folgen des klar völkerrechtswidrigen Einmarsches russischer Truppen ab dem 24. Februar 2022. In der Berichterstattung etablierter deutscher Medien erscheint er tendenziell als eher konventionellen Krieg mit massivem Einsatz klassischer Waffensysteme wie Panzer, Artillerie, Infanterie. Beide Seiten nutzen dabei auch unbemannte Systeme, insbesondere Luftfahrzeuge, so genannten UAV, die in vergangenen militärischen Auseinandersetzungen teilweise grundlegend die Kriegführung geprägt und die Kräfteverhältnisse bestimmt haben. So wird v.a. der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im zweiten Halbjahr 2020 oft als erster „echter Drohnenkrieg“ bezeichnet, weil entsprechende unbemannte Waffensysteme der vorrückenden Seite (Aserbaidschan) eine deutliche Übermacht verliehen und rasche Geländegewinne ermöglichten. Es existieren auch zahlreiche Berichte, welche aus erster oder zweiter Hand die dabei ausgelöste Angst und Panik innerhalb der angegriffenen Truppen beschreiben. Später gab es vergleichbare Darstellungen aus Libyen und Äthiopien, nach denen zumindest bei entscheidenden Gefechten UAV eine wesentliche Rolle gespielt hätten. Im Folgenden wird der gegenwärtige Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen ausführlicher beleuchtet und der aktuelle Krieg ausschließlich unter diesem Aspekt betrachtet werden. Dies hält allerdings einige Überraschungen parat. INHALTSVERZEICHNIS Einleitung Türkische Drohnen als Game Changer? TB2 im aktuellen Ukraine-Krieg Kleine Drohnen der dubiosen Einheit „Aerorozvidka“ Springmesser aus den USA Ukrainische Produkte und „Terminator-Drohnen“ Russische Drohnen: Wenig Berichte, magere Bilanz Einschätzungen des Drohnenkrieges Fazit Anmerkungen https://www.imi-online.de/2022/04/26/drohnen-im-ukraine-krieg/ 3.) IMI-Analyse: Arktischer Rat IMI-Analyse 2022/24 Arktische Ratlosigkeit Der Krieg in der Ukraine stört die Kooperation in der Arktis https://www.imi-online.de/2022/04/26/arktische-ratlosigkeit/ Ben Müller (26. April 2022) Der Arktische Rat wurde von vier Mitgliedern des norwegischen Parlaments für den Friedensnobelpreis 2022 vorgeschlagen. Die außergewöhnliche Zusammenarbeit zwischen den arktischen Staaten inklusive Russlands zeige die Notwendigkeit von Kooperation und Vertrauen zwischen Staaten in einer Zeit, in der der Frieden in der Ukraine und in anderen Regionen bedroht sei.[1] Das war Ende Januar 2022. Ein paar Wochen später erklären sieben der acht Mitglieder im Arktischen Rat (alle außer Russland), sie würden ihre Beteiligung an den Treffen des Gremiums vorübergehend ruhen lassen.[2] Sie reagieren damit auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und den Umstand, dass Russland als derzeitiger Inhaber des rotierenden Vorsitzes für die Ausrichtung der Treffen zuständig ist. Friedliche Kooperation in der Arktis Der Arktische Rat wurde 1996 mit der Erklärung von Ottawa gegründet. Zu seinen Mitgliedern zählen alle Staaten, die Territorium nördlich des Polarkreises haben: Kanada, Dänemark (als Vertretung für Grönland), Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und die USA. Hinzu kommen sechs Dachverbände der indigenen Bevölkerung, die als ständige Teilnehmer mit beratender Stimme beteiligt sind. Die Hauptarbeit findet in Arbeitsgruppen statt, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten darauf hinwirken, die Arktis als Ort des konfliktarmen Zusammenlebens zu erhalten und die arktische Umwelt zu schützen. In den Arbeitsgruppen beteiligen sich auch eine Reihe von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, die im Arktischen Rat Beobachterstatus haben.[3] Aus der Arbeit des Arktischen Rats sind drei völkerrechtlich verbindliche Kooperationsabkommen hervorgegangen: zur Zusammenarbeit bei Such- und Rettungseinsätzen in der Arktis (2011), zur Vorsorge und Bekämpfung von Ölverschmutzungen (2013) und zur Verbesserung der wissenschaftlichen Kooperation in der Arktis (2017). Hinzu kommen Empfehlungen und Maßnahmen zur Verbesserung der arktischen Lebensbedingungen, zum Aufhalten des Klimawandels oder zu nachhaltigem Wirtschaften. Nur militärische Themen und harte Sicherheitsfragen sind explizit ausgeschlossen. Diese Einschränkung mag entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Arktische Rat bisher angesichts von zunehmenden geopolitischen Spannungen unbeschadet weiterarbeiten konnte. So hat sich die allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland ab 2014 auf den Arktischen Rat kaum ausgewirkt. Zwar hatten die Sanktionen, die einige Staaten als Reaktion auf die Eingliederung der Halbinsel Krim in das russische Staatsgebiet erließen, auch Auswirkungen auf die arktische Wirtschaft. Und das Ende der militärischen Zusammenarbeit mit Russland betraf ebenfalls die Arktis, etwa mit dem Abbruch von gemeinsamen Militärübungen oder dem Ende von Russlands Teilnahme am Runden Tisch der Arktischen Sicherheitskräfte. Aber in vielen anderen Bereichen gab es weiterhin rege Kooperation, so auch im Arktischen Rat.[4] Selbst die Phase der Trump-Administration in den USA konnte der Arktische Rat erfolgreich überstehen. Bei seinem Treffen 2019 in Finnland war zum ersten Mal keine gemeinsame Abschlusserklärung zu Stande gekommen, da sich der amerikanische Außenminister Michael Pompeo weigerte, ein Papier zu unterzeichnen, in dem das Wort „Klimawandel“ erwähnt wird.[5] Zuvor hatte Pompeo in einer streitlustigen Rede chinesische Investoren und russische Militärs beschuldigt, sich nicht an die Regeln eines fairen Wettbewerbs zu halten und die Arktis in eine Kampfarena zu verwandeln, während Donald Trump ein paar Monate später seinen Plan verkündete, Grönland zu kaufen.[6] Beim nächsten Treffen auf Ministerebene des Arktischen Rats, das 2021 pandemiebedingt in kleinem Rahmen in Island stattfand, war dann eine gewisse Erleichterung festzustellen über die Rückkehr zur Diplomatie.[7] Weitere Sanktionen gegen Russland Während die Sanktionen gegen Russland von 2014 sich nur partiell auf die Arktis auswirkten, betreffen die neuen Sanktionen nach dem 24.2.2022 jede Kooperation mit Russland in der Arktis. Der Rückzug von großen Ölkonzernen wie BP, Equinor, Shell und ExxonMobil aus dem Geschäft mit Russland kann russische Projekte zur Erschließung von Öl- und Gasvorkommen in der Arktis stark behindern oder stoppen.[8] Auch der französische Konzern TotalEnergies, der Anteile an den Gas-Projekten „Yamal LNG“ und „Arctic LNG 2“ hält, hat nach Kritik angekündigt, bestehende Lieferverträge auslaufen zu lassen und nicht weiter in Russland zu investieren.[9] Für Russland gilt die Ausbeutung der fossilen Energieressourcen in der Arktis allerdings als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Durch die Sperrung von Lufträumen werden Begegnungen zwischen Menschen in Russland und anderen Arktis-Staaten schwieriger. Die Sanktionen im internationalen Geldverkehr erschweren länderübergreifende Kooperationen zusätzlich. Und einseitige Berichterstattung schafft hohe Hürden, um sich über die jeweils andere Position zu informieren. In Finnland und Schweden gibt es auf einmal Meinungsumfragen, in denen sich eine Mehrheit für den Beitritt zur NATO ausspricht.[10] Die beiden Staaten kooperieren zwar bisher schon eng mit der NATO und können aufgrund ihrer EU-Mitgliedschaft auch eigentlich nicht als „bündnisfrei“ bezeichnet werden. Eine Mitgliedschaft in der NATO kann aber die Fronten weiter verhärten und die Spannungen mit Russland in der Arktis verschärfen. Kooperation gibt es zurzeit noch zwischen den USA und Russland bei der Bewältigung von Notfällen in der Beringstraße[11] sowie zwischen den Küsten- und Grenzwachen von Norwegen und Russland.[12] Außerdem erwägt Norwegen, bei der Sperrung von Häfen für russische Schiffe Befreiungen auszusprechen, um die engen Verflechtungen beim Fischfang in der Barentssee fortführen zu können.[13] Die Pause im Arktischen Rat wird von den sieben Staaten als „vorübergehend“ bezeichnet. Sie nennen aber keine Kriterien, die erfüllt sein müssen, um die Arbeit wieder aufzunehmen. Anders als beispielsweise im Ostseerat, in dem die Mehrheit der Mitglieder einfach beschlossen hat, die Mitgliedschaft Russlands auszusetzen,[14] entscheiden sich die sieben Staaten hier dazu, ihre eigene Beteiligung auszusetzen, da der Vorsitz im Arktischen Rat noch bis 2023 bei Russland liegt. Russland hat die Erklärung der sieben Staaten mit Bedauern zur Kenntnis genommen und möchte die Arbeit seines Vorsitzes jetzt inländischen Bedürfnissen in der Arktis widmen.[15] Die Dachverbände der indigenen Bevölkerungsgruppen reagieren unterschiedlich auf die angekündigte Pause. Der Rat der Gwich'in, die in Alaska und im Nordwesten Kanadas beheimatet sind, hat die gemeinsame Pause begrüßt und seine Sorge um die Menschen in der Ukraine ausgedrückt.[16] Der Inuit Circumpolar Council, dessen Mitglieder sich über Alaska, Kanada, Grönland und Russland verteilen, zeigt sich besorgt um die Zukunft des Arktischen Rats, der auf friedlicher Kooperation und gegenseitigem Respekt beruhe.[17] Der Rat der Saami, die in der europäischen Arktis über die Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und Russland verteilt leben, trägt die Pause mit und hofft, sie werde nicht zu lange dauern.[18] Die russische Vereinigung der indigenen Völker des Nordens hat dagegen am 1. März eine Unterstützungserklärung für Wladimir Putin veröffentlicht[19] und verwendet auf ihrer Webseite offen das Z-Symbol, das die Befürwortung der „militärischen Sonderoperation“ ausdrückt. Strategien für eine Arktis ohne Arktischen Rat Wenige Tage nach der erklärten Pause werden schon die ersten Pläne vorgestellt, wie die Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland weitergehen könnte. Timo Koivurova, Professor am Arktiszentrum der Universität Lappland, vertritt die Ansicht, es sei nun Aufgabe der sieben Staaten, die er „Arktische Sieben“ (A-7) nennt, den Arktischen Rat ohne Russland weiterzuführen, selbst wenn Russland zurzeit den Vorsitz habe. Die A-7 könnten die Regeln aus der Erklärung von Ottawa kreativ auf die derzeitige Situation anwenden und davon ausgehen, dass die Mitgliedschaft Russlands suspendiert sei. Auch wenn Russland in der Arktis eine wichtige Rolle spiele, könnte seine Mitgliedschaft im Arktischen Rat für lange Zeit ausgesetzt sein.[20] Die internationale Kooperation könne allerdings langfristig von Fragen der militärischen Sicherheit überschattet werden.[21] Stefan Kirchner, ebenfalls Professor am Arktiszentrum der Universität Lappland, sieht dagegen kaum noch Chancen für den Arktischen Rat. Stattdessen schlägt er vor, der Nordische Ministerrat, dem die skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden sowie die autonomen Gebiete Grönland, Färöer und Åland angehören, könne dessen Aufgaben übernehmen. Der Nordische Ministerrat lasse sich leicht um Kanada und die USA erweitern, aber auch Staaten auf der Pazifikseite, die die „gemeinsamen Werte“ teilen, könnten aufgenommen werden, zum Beispiel Japan. Der „Nordic Plus“ genannte Verbund könne dann auch von Erfahrungen aus anderen Bündnissen wie der EU oder NATO profitieren. Unklar sei allerdings noch, wie die indigenen Gruppen in Nordic Plus eingebunden werden können.[22] Beide Vorschläge gehen darüber hinweg, dass Russland als größter arktischer Staat etwa 53% der Küste des Arktischen Ozeans umfasst, und dass rund die Hälfte der arktischen Bevölkerung in Russland lebt. Entscheidungen über die Arktis sind daher ohne Russland kaum möglich. Evan T. Bloom vom Polarinstitut des Wilson Center spricht sich deshalb dafür aus, Russland Möglichkeiten zur Rückkehr in den Arktischen Rat offen zu halten. Wenn die A-7 den Arktischen Rat ohne Russland weiterführten, könnte das von Russland als Verstoß gegen die regelbasierte Ordnung betrachtet und mit der dauerhaften Abwendung vom Arktischen Rat beantwortet werden. Stattdessen sollten die A-7 untereinander möglichst intensiv kooperieren und Aufgaben des Arktischen Rats weiterführen, soweit das ohne Russland möglich sei. Dabei sollten sie aber offen lassen, ob ihre Kooperation als Fortführung des Arktischen Rats oder unabhängig davon stattfinde.[23] Bemerkenswert ist ein Kommentar von Elizabeth Buchanan, die als Expertin für polare Geopolitik an einer australischen Militärhochschule arbeitet. Sie verweist darauf, dass auch andere arktische Staaten unter Umgehung der Vereinten Nationen Kriege geführt haben und deswegen nicht vom Arktischen Rat ausgeschlossen wurden. Allein für die USA zählt sie seit Bestehen des Arktischen Rats Irak, Afghanistan, Somalia, Jemen und Syrien auf. Dänemark sei sogar zu Reparationszahlungen an irakische Bürger verurteilt worden. Die Entscheidung für eine Pause sei zwar moralisch verständlich, würde sich aber langfristig als katastrophal herausstellen. Russland habe jetzt die Möglichkeit, weitere Akteure in die Arktis einzuladen, zum Beispiel Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Staaten aus dem ASEAN-Verbund. Strategisch sei es besser, die Politik aus dem Arktischen Rat herauszuhalten und die Arktis als Region mit niedriger Spannung in der bisherigen Konstellation zu bewahren.[24] Cornell Overfield vom Center for Naval Analyses, einem Thinktank der US-Navy, widerspricht Buchanan. Der Ausschluss von Russland sei wichtig, um eine klare Ablehnung von Angriffskriegen zu demonstrieren, auch wenn dieses Verfahren aufgrund ungleicher Machtverteilung nicht perfekt sei, wie die (fehlende) Reaktion auf den US-Einmarsch im Irak zeige. Die A-7 könnten die Politik nicht aus dem Arktischen Rat heraushalten und würden bei jedem Treffen mit Statements gegen den russischen Krieg dem Arktischen Rat mehr Schaden zufügen als die vereinbarte Pause. Der Arktische Rat könne auch nicht verhindern, dass asiatische Staaten als weitere Akteure in die Arktis drängen. Dort könnten sie allerdings höchstens den russischen Teil stärker umkämpft machen, und das könnte für die westlichen strategischen Interessen sogar vorteilhaft sein.[25] Neue Akteure in der Arktis Wie sich das Kräfteverhältnis in der Arktis durch die neuen Wirtschaftssanktionen, die Ausgrenzung Russlands oder die Pause des Arktischen Rats verändern wird, ist noch nicht absehbar. Aus dem Kreis der Beobachterstaaten des Arktischen Rats gibt es allerdings schon die ersten Interessenbekundungen, sich stärker in der Arktis einzumischen. Im März 2022 hat Indien seine erste Arktis-Strategie veröffentlicht. Ähnlich wie China möchte auch Indien durch seinen Beitrag zur Polarforschung Wertschätzung erfahren und verweist auf seine Expertise aus der Forschung im Himalaja – dem „dritten Pol“. Die Forschung in der Arktis soll Indien ein besseres Verständnis des Klimawandels verschaffen, um daraus Maßnahmen für die Ernährungssicherheit seiner Bevölkerung abzuleiten. Aber auch die arktischen Rohstoffe finden Indiens Interesse.[26] Indien betreibt eine Forschungsstation auf Svalbard, hat aber bisher keinen eigenen Eisbrecher, um in der Arktis Präsenz zu zeigen.[27] In der Vergangenheit wurde bereits über einen möglichen Einstieg Indiens bei der Finanzierung des russischen Öl-Projekts Wostok auf der Taimyr-Halbinsel spekuliert.[28] Eventuell möchte Indien, das den russischen Einmarsch in der Ukraine nicht verurteilt hat, westliche Sanktionen in der Arktis kompensieren. Indien hat auch Interesse gezeigt, Russland bei der Entwicklung der Nördlichen Seeroute zu unterstützen.[29] Für Indien bringt der Weg durch die Arktis zwar keine kürzeren Schifffahrtsrouten, aber möglicherweise verfolgt es die Absicht, in der Arktis Einfluss zu gewinnen und China Konkurrenz zu machen. Auf jeden Fall hat Russland ein Interesse daran, in der Arktis nicht allein von China abhängig zu sein.[30] Auch das britische Verteidigungsministerium hat im März 2022 ein neues Strategiepapier für die Arktis vorgelegt. Darin kündigt Großbritannien eine stärkere Militärpräsenz im Nordatlantik und in der Arktis an. Zum Einsatz sollen vor allem Seefernaufklärungsflugzeuge vom Typ Poseidon P-8A kommen, von denen die Royal Air Force neun Stück besitzt. Das Papier erwähnt aber auch das eisgehärtete Patrouillenboot „HMS Protector“, die Flugzeugträger „HMS Queen Elizabeth“ und „HMS Prince of Wales“, die britischen F35 Kampfflugzeuge sowie bewaffnete MALE-Drohnen, die ab 2024 zur Verfügung stehen sollen. Neben dem Schutz von kritischer Infrastruktur und nationalen Interessen gehe es bei den Einsätzen auch um die Freiheit der Schifffahrt und die Durchsetzung eines regelbasierten internationalen Systems. Außerdem sollen bösartige Verhaltensweisen angegriffen werden.[31] Da Großbritannien die russischen Regeln für das Befahren der Nördlichen Seeroute nicht anerkennt, könnte es zur Bekämpfung von „bösartigen Verhaltensweisen“ in der Arktis schon bald zu provokativen See-Manövern der britischen Marine kommen. Erst im September 2020 hatte eine britische Fregatte eine Militärübung in der Barentssee unter Beteiligung der USA, Norwegens und Dänemarks geleitet, worauf auch das Strategiepapier an einer Stelle hinweist. Wie leicht es bei solchen Manövern zu gefährlichen Zusammenstößen kommen kann, zeigt ein Zwischenfall vom 23.6.2021 im Schwarzen Meer. Der britische Zerstörer „HMS Defender“ wollte dort russische Hoheitsgewässer vor der Halbinsel Krim nicht anerkennen, was zu einer heftigen Reaktion Russlands mit Warnschüssen und Bombenabwürfen führte.[32] Fazit mit Überlegungen zur regelbasierten Ordnung Vom Grundsatz her ist es zu begrüßen, dass andere Staaten über den russischen Angriffskrieg nicht einfach hinwegsehen, sondern dass sie auf internationale Regeln verweisen, die eingehalten werden müssen. Zu diesen Regeln zählt unter anderem, dass man Staatsgebiet nicht einfach kauft (z.B. Grönland), und dass man andere Länder nicht mit Panzern und Hyperschallraketen angreift (z.B. Ukraine). Für eine regelbasierte Ordnung wäre es aber auch wichtig, diese Regeln gleich und gerecht anzuwenden, also etwa auch die USA für ihren Angriffskrieg im Irak zu sanktionieren. Viele Staaten, die auf die Einhaltung von Regeln pochen und eine regelbasierte Ordnung durchsetzen wollen, gehen dabei stillschweigend davon aus, dass ihre Version der Regeln die einzig richtige ist. Aber was bedeutet es denn, wenn die Arktischen Sieben die Regeln (hier: Erklärung von Ottawa) jetzt „kreativ anwenden“ sollen? Oder was ist mit Großbritannien und Russland, die die Regeln (hier: UN-Seerechtsübereinkommen) ganz offensichtlich unterschiedlich interpretieren? Und welche Regeln meinte eigentlich Michael Pompeo bei seiner Rede 2019 in Rovaniemi? Was folgt jetzt konkret für die Arktis? Klima- und Umweltschutzprogramme werden ohne den Arktischen Rat wahrscheinlich schwieriger umzusetzen sein, insbesondere dann, wenn sie für die gesamte Arktis gelten sollen. Die indischen Ambitionen haben vermutlich keine großen Auswirkungen, die Annäherung zwischen Indien und Russland dürfte aber denjenigen Staaten missfallen, die Indien eigentlich für ein Bündnis gegen China gewinnen wollen. Die Ankündigung Großbritanniens, als Ordnungsmacht im Hohen Norden aufzutreten, ist dagegen geeignet, Spannungen, Konfliktpotential und Militarisierung in der Arktis voranzutreiben. Der Arktische Rat wird jedenfalls auch 2022 nicht mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Anmerkungen [1]Trine Jonassen: The Arctic Council Nominated for the Nobel Peace Prize, 2.2.2022 highnorthnews.com [2]Joint Statement on Arctic Council Cooperation Following Russia’s Invasion of Ukraine, 3.3.2022 state.gov [3]About the Arctic Council, arctic-council.org [4]Michael Byers: Crises and international cooperation: an Arctic case study, 26.10.2017 doi.org/10.1177/0047117817735680 [5]Siri Gulliksen Tømmerbakke, Martin Breum: First Ever Arctic Council Ministerial Meeting Without Joint Declaration, 7.5.2019 highnorthnews.com [6]Michael Klare:The Pompeo Doctrine, 12.9.2019 tomdispatch.com [7]Die Außenminister der USA und Russlands Antony Blinken und Sergej Lawrow nutzten ihre erste Begegnung in Reykjavik sogar für einen fast zweistündigen Austausch. „Konstruktive“ Gespräche – trotz Spannungen, 20.5.2021 tagesschau.de [8]Melody Schreiber: Major oil companies and investors pull back from Russian Arctic oil and gas, 5.3.2022 arctictoday.com [9]Geert De Clercq, Shadia Nasralla: France's TotalEnergies to quit Russian oil supply contracts, 22.3.2022 arctictoday.com [10]Christina Boger: Ja zur NATO?, 11.4.2022 imi-online.de [11]Yareth Rosen: Despite Ukraine war, US and Russia continue emergency cooperation in the Bering Strait, 11.4.2022 arctictoday.com [12]Astri Edvardsen: Norwegian-Russian Border Cooperation Works Well Despite the War in Ukraine, 5.4.2022 highnorthnews.com [13]Hilde-Gunn Bye: EU Proposes Closing Ports for Russian Vessels, Norway May Make Some Exemptions, 7.4.2022 highnorthnews.com [14]Russia suspended from Council of Baltic Sea States, 3.3.2022 regjeringen.no [15]Gloria Dickie: Russian officials call Arctic Council boycott „regrettable“, 4.3.2022 reuters.com [16]Gwich'in Council International, 3.3.2022 gwichincouncil.com [17]Statement from the Inuit Circumpolar Council concerning the Arctic Council, 7.3.2022 inuitcircumpolar.com [18]The Saami Council's statement on the Arctic Council Pause, 13.3. 2022 saamicouncil.net Eine eigenständige Erklärung der russischen Sektion beklagt außerdem, dass die Saami als Teil der Zivilbevölkerung in Russland von den Sanktionen stark getroffen werden, und dass das Volk der Saami durch die Staatsgrenze jetzt viel stärler getrennt werde als zuvor. 27.2.2022 saamicouncil.net [19]Ассоциация КМНСС и ДВ РФ выступила в поддержку Президента нашей страны В.В. Путина, 1.3.2022 raipon.info [20]Timo Koivurova: The Arctic Council can continue without Russia, 10.3.2022 arctictoday.com [21]Astri Edvardsen: Hard Security Focus May Once Again Come to Dominate the Arctic, Researcher Fears, 29.3.2022 highnorthnews.com [22]Stefan Kirchner: Nordic Plus: International Cooperation in the Arctic Enters a New Era, 6.3.2022 polarconnection.org [23]Evan T. Bloom: A new course for the Arctic Council in uncertain times, 18.3.2022 arctictoday.com [24]Elizabeth Buchanan: The Ukraine War: Arctic Council Steps into Unchartered Territory, 15.3.2022 arcticcircle.org [25]Cornell Overfield: Suspending participation in the Arctic Council is tragic, but right, 8.4.2022 arctictoday.com [26]Government of India: India's Arctic Policy, März 2022 moes.gov.in [27]Bipandeep Sharma: High Time for India's First Polar Research Vessel, 25.11.2021 idsa.in [28]Atle Staalesen: Arctic oil on the table as Indian Minister pays visit to Russia, 3.9.2021 thebarentsobserver.com [29]Peter B. Danilov: India Wants to Help Russia Develop Northern Sea Route Into International Trade Artery, 7.9.2021 highnorthnews.com [30]Sanbeer Singh Ranhotra: Russia officially makes India a major player in the Arctic, as „Near-Arctic“ China watches helplessly, 24.7.2021 tfiglobalnews.com [31]The UK's Defence Contribution in the High North, März 2022 gov.uk [32]Christoph Gschoßmann: Mega-Geheimdienstpanne in England: „HMS-Defender“-Dokumente hinter Bushaltestelle gefunden, 27.6.2021 merkur.de IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

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