Mexikos Präsident Felipe Calderón sucht im Krieg gegen die mächtigen Drogenkartelle neue Wege. Er ruft zu einem veritablen Bürger-Krieg aller rechtschaffenen Mexikaner auf. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen.
Von Matthias Rüb, Washington 12. August 2010
Was nun, Herr Präsident? Felipe Calderón weiß es zugegebenermaßen selbst nicht. Außer dass man gerade jetzt nicht nachgeben dürfe. Seit dem Amtsantritt des konservativen mexikanischen Präsidenten im Dezember 2006 sind im Krieg der Sicherheitskräfte gegen die Rauschgiftkartelle und bei den durch die Regierungsoffensive angefeuerten Verteilungskämpfen der Bosse gegeneinander etwa 28.000 Menschen getötet worden. 80.000 Bundespolizisten und Soldaten sind im Einsatz. Sie errichten Straßensperren, heben Waffen-, Geld- und Rauschgiftverstecke aus, nehmen Anführer von Kartellen, korrupte Politiker und bestochene Polizisten fest, erschießen Drogenbosse.
Doch weder ist ein Ende der Gewalt abzusehen noch eine Schwächung der Kartelle in Sicht. Am vergangenen Mittwoch gab Calderón am Schlusstag einer drei Tage dauernden Konferenz in Mexiko-Stadt über den seit nun bald vier Jahren wütenden Rauschgiftkrieg selbst eine schonungslose Lageeinschätzung. Von den „kleinsten bescheidenen Städten bis zu den großen Metropolen" attackierten die schwer bewaffneten Heere der Kartelle die Bürger Mexikos - von Polizisten über wohlhabende Geschäftsleute bis zu einfachen Leuten.
Längst hätten sie ihr „Geschäftsfeld“ weit über den Rauschgiftanbau und -schmuggel hinaus ausgedehnt. „Ihr Geschäft ist es, alles und jeden zu beherrschen", sagte Calderón. „Ihr kriminelles Verhalten hat sich geändert, es ist zu einer offenen Herausforderung des Staates geworden“, klagte er. „Sie wollen den Staat verdrängen“, indem sie Schutzgelder wie eine Art Kriegssteuer eintrieben und sich Waffen von weit größerer Feuerkraft als die der Sicherheitskräfte beschafften. Calderón schloss mit einem dramatischen Appell zu einem veritablen Bürger-Krieg aller rechtschaffenen Mexikaner gegen die Kartelle.
96 Prozent der Rauschgifthändler sind Straßendealer
Ob sein Aufruf bei vielen seiner Mitbürger Gehör finden wird, wird bezweifelt. Gewiss, es hat einige Etappensiege gegeben beim Kampf gegen die Kartelle. Zwei Drogenbosse - Arturo Beltran Leyva und Ignacio „Nacho“ Coronel Villarreal - wurden bei Razzien erschossen. 84.000 Schusswaffen, tonnenweise Munition sowie 35.000 Fahrzeuge wurden sichergestellt. Mehr als 400 Millionen Dollar Drogengeld konnten beschlagnahmt werden. 78.000 Verdächtige wurden im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel bis Januar dieses Jahres festgenommen. Doch von diesen waren nach offiziellen Statistiken 96 Prozent Straßendealer, Ausschauhalter und andere „kleine Fische“. Nur zwei Prozent der Verhafteten wurden angeklagt und verurteilt, die anderen sitzen weiter in Haft oder wurden auf freien Fuß gesetzt.
Amerikanische Drogenfahnder konnten allenfalls einen Rückgang bei der Menge von Kokain feststellen, die über die Südgrenze ins Land geschmuggelt wird. Als mögliche Ursachen werden Erfolge der mexikanischen Sicherheitskräfte, ein Rückgang der Produktion in Kolumbien und eine mögliche Verschiebung der Drogenströme zu anderen Absatzmärkten genannt. Die mexikanische Regierung verbucht den Rückgang des Drogenschmuggels in die Vereinigten Staaten als Erfolg für sich.
Nach amerikanischen Erkenntnissen sind mexikanische Drogenkartelle in mehr als 2500 Städten in den Vereinigten Staaten aktiv. Sie haben kolumbianische und italienische Banden weitgehend verdrängt und sind als einzige auf allen amerikanischen Absatzmärkten für Rauschgifte vertreten. Der Anbau und der Schmuggel von mexikanischem Marihuana hat sich nach Angaben des amerikanischen Drogenjahresberichts "National Drug Threat Assessment" seit 2004 auf jetzt 23700 Tonnen jährlich verdoppelt.
Die Produktion von Heroin ist seit 2008 um das Vierfache auf jetzt knapp 42 Tonnen jährlich gestiegen. Auch die synthetischen Methamphetamine sind trotz der Versuche der mexikanischen Behörden, die zu deren Herstellung verwendeten Chemikalien aus dem Verkehr zu ziehen, in Mengen wie nie zuvor erhältlich. Schätzungen über den Umfang des Drogenhandels mexikanischer Kartelle reichen bis zu 39 Milliarden Dollar jährlich - fast ein Fünftel des mexikanischen Staatshaushaltes. Im Vergleich dazu erscheinen die seit Ende 2006 von den mexikanischen Behörden beschlagnahmten 400 Millionen Dollar Drogengewinne als lachhaft.
Zweifel in der Bevölkerung
„Wir haben dort Fortschritte erzielt, wo wir ausreichend Sicherheitskräfte stationieren und den Operationsraum der organisierten Kriminalität einschränken konnten“, sagte Calderón. Doch gestand ein, dass es nicht gelungen sei, in den Tätigkeitsgebieten der Kartelle „normale Lebensverhältnisse wiederherzustellen“. Calderón sieht sich wachsenden Zweifeln in der Bevölkerung an seiner Strategie im Drogenkrieg ausgesetzt. Zwar kamen die meisten der 28 000 Todesopfer bei bewaffneten Kämpfen der Kartelle gegeneinander um. Doch die Zahl der Toten unter unbeteiligten Zivilisten wächst, unter ihnen Jugendliche und Kinder, weil die Kartelle ihre kriminellen Geschäfte diversifiziert haben: Es sind Entführungen und Schutzgelderpressungen sowie der Schmuggel von gefälschten Luxusartikeln bis zu exotischen Tieren hinzugekommen. In Calderóns Heimatstaat Michoacán werden von Geschäftsleuten Schutzgelder wie eine zusätzliche Steuer eingetrieben. In den nördlichen Grenzstaaten Tamaulipas, Coahuila und Chihuahua ist das gleiche Phänomen zu beobachten. Auch der staatliche Mineralölkonzern Pemex ist längst im Visier der Kartelle: Es wird nicht nur Öl und Gas aus Förderanlagen gestohlen, es werden Arbeiter und Angestellte entführt, um Lösegeld zu erpressen und die Kontrolle über ganze Produktionsfelder zu gewinnen.
"Meine Regierung ist absolut entschlossen, den Kampf gegen das Verbrechen schonungslos fortzusetzen, bis wir diesen Feind der Allgemeinheit besiegt und jenes Mexiko zurückgewinnen, wie wir es haben wollen", versicherte Calderón in einer per Zeitungsannonce verbreiteten Botschaft noch im Juni. Doch inzwischen hat der wachsende Druck der Bevölkerung Wirkung gezeigt. Obwohl Calderón persönlich entschieden gegen jede Legalisierung von Drogen ist, will er sich einer Diskussion zu dem Thema jetzt nicht länger verschließen. „Es ist eine fundamentale Debatte, in der alle Meinungen gehört werden sollen, das Für und Wider genau abgewogen werden muss“, sagte Calderón am Mittwoch.
Marihuana macht beträchtlichen Teil der Gewinne aus
Calderóns Vorgänger Vicente Fox hat sich in einem Beitrag vom Montag der Meinung der ebenfalls im Drogenkampf „gestählten“ ehemaligen Präsidenten Cesar Gaviria (Kolumbien), Ernesto Zedillo (Mexiko) und Fernando Cardoso (Brasilien) angeschlossen, wonach wenigstens die Legalisierung des am weitesten verbreiteten leichten Rauschgifts Marihuana erwogen werden soll, um den Kartellen eine wesentliche Einnahmequelle zu verschließen. Tatsächlich erzielen die Kartelle mit dem Anbau und dem Vertrieb von Marihuana einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne. Seit langem wird in Mexiko sowie anderen Staaten Lateinamerikas wie auch in den Vereinigten Staaten darüberhinaus diskutiert, ob nicht grundsätzlich alle Rauschgifte legalisiert werden sollen, um deren Vertrieb staatlich zu kontrollieren und mit Steuern zu belegen.
In Washington gibt es freilich weder im Außenministerium noch bei den regierenden Demokraten, schon gar nicht bei den oppositionellen Republikanern im Kongress Sympathien für die landesweite Legalisierung von Marihuana - obwohl der Vertrieb von Marihuana „zu medizinischen Zwecken“ etwa im Bundesstaat Colorado jüngst zugelassen und der Verkauf der weichen Droge damit faktisch legalisiert wurde.
Auch Calderón hält bisher an seiner Überzeugung fest, dass eine Legalisierung des vielerorts als Einstiegsdroge betrachteten Marihuana Jugendliche bald darauf noch rascher als jetzt schon zu harten Drogen führen werde. Schon für seine Bereitschaft zur offenen Debatte aller Argumente erntete Calderón in Mexiko wie in den Vereinigten Staaten viel Lob. Im Überlebenskampf Mexikos und seines Staatspräsidenten gegen die Rauschgift-kartelle ist der Krieg mit Schusswaffen längst an seine Grenzen gestoßen.
URL: http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EA83A207841724810811487CDA5464E0B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
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