Freitag, 15. September 2023
[IMI-List] [0638] Studie: Zeitenwende heißt Sozialabbau / Analysen: Putsch im Niger / Artikel: Grenzen als Sortiermaschinen
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0638 .......... 26. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich der Hinweise auf
1.) neue IMI-Analysen zum Putsch im Niger;
2.) der Hinweis auf die neue IMI-Studie „Zeitenwende heißt Sozialabbau!“;
3.) ein Artikel über Grenzen als Sortiermaschinen als Vorgeschmack auf
die bald erscheinende Ausdruck-Ausgabe mit diesem Schwerpunkt.
1.) Putsch im Niger
Mittlerweile sind eine ganze Reihe Artikel zum Putsch im Niger auf der
IMI-Homepage erschienen:
IMI-Standpunkt 2023/031 - in: junge welt, 21.8.2023
Verzweiflung im Land, Selbstschutz im Palast
Im Niger weckt der Machtwechsel Hoffnung auf neue Ansätze im Kampf mit
den Dschihadisten. Ambitiöse Generäle nutzen das aus.
https://www.imi-online.de/2023/08/22/verzweiflung-im-land-selbstschutz-im-palast/
Pablo Flock (22. August 2023)
IMI-Standpunkt 2023/030 - in: junge welt, 21.8.2023
Beliebte Putschisten. Eine postkoloniale Dialektik
https://www.imi-online.de/2023/08/22/beliebte-putschisten-eine-postkoloniale-dialektik/
Pablo Flock (22. August 2023)
IMI-Analyse 2023/38
Kommt nun der Showdown im Sahel?
ECOWAS droht mit Intervention im Niger. Frankreich und die EU evakuieren
Bürger. Doch Nachbarländer zeigen sich solidarisch.
https://www.imi-online.de/2023/08/04/vorbereitung-eines-angriffkriegs/
Pablo Flock (4. August 2023)
IMI-Standpunkt 2023/028
Erste Einschätzungen zum Putsch in Niamey
https://www.imi-online.de/2023/07/27/erste-einschaetzungen-zum-putsch-in-niamey/
Christoph Marischka (27. Juli 2023)
Siehe auch zur langen Vorgeschichte unsere Seite zur Sahel-Region:
https://www.imi-online.de/category/regionen/afrika/nordafrika/sahel/
2.) IMI-Studie: Zeitenwende heißt Sozialabbau!
IMI-Studie 2023/2
Zeitenwende heißt Sozialabbau!
Die Auseinandersetzungen über Sozialkürzungen zugunsten von
Militärausgaben und 2%-Ziel sind eröffnet
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
Jürgen Wagner (28. August 2023)
Einleitung
Im September 2023 beginnt auf Basis des Anfang Juli von Finanzminister
Christian Lindner vorgelegten und vom Kabinett beschlossenen
Regierungsentwurfs[1] die parlamentarische Debatte um den Haushalt 2024.
Wie sich schon länger abzeichnete, sollen nahezu alle Ministerien
Einbußen hinnehmen, verschont bleibt aber unter anderem das
Verteidigungsministerium (BMVg), das sogar zusätzliche Gelder erhält.
Erstmals sollen im kommenden Jahr Militärausgaben von 2% des
Bruttoinlandsproduktes (BIP) erreicht werden – gleichzeitig wurde auch
die Finanzplanung bis 2027 vorgelegt, die vor allem eines zeigt: Die
Zeitenwende bedeutet Sozialabbau!
Ganze Studie hier:
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
INHALTSVERZEICHNIS
Ein Sondervermögen für die chronisch kaputtgesparte Truppe?
Nebelkerzen und die Haushaltsplanung 2024
Schwarzes Rüstungsloch
Pistorius: Rüstung im Deutschland-Tempo
Vermeintliche Sachzwänge
Zeitenwende heißt Sozialabbau
Debatte eröffnet
Ganze Studie hier:
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
Dazu passend auch der Hinweis auf die Initiative „Sagt Nein!
Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“, die
auch von der IMI unterzeichnet wurde:
https://www.imi-online.de/2023/08/10/sagt-nein/
3.) IMI-Analyse: Grenzen: High-Tech-Sortiermaschinen?
In Kürze erscheint die September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK. Als
diesmaligen Schwerpunkt haben wir das Thema „Grenzen“ gewählt. Der
nachfolgende Beitrag ist einer der Artikel, der in diesem Schwerpunkt
erscheinen wird und den wir als Vorgeschmack bereits jetzt veröffentlichen:
IMI-Analyse 2023/39
Grenzen: High-Tech-Sortiermaschinen?
Rezension zweier Publikationen
https://www.imi-online.de/2023/08/17/grenzen-high-tech-sortiermaschinen/
Christoph Marischka (17. August 2023)
Mau: „Sortiermaschinen“
Steffen Mau, der zu den bekannteren zeitgenössischen, deutschen
Soziologen zählt, hat 2021 im Verlag C.H.Beck ein “kurzes Buch”
veröffentlicht, welches – so der Untertitel – “Die Neuerfindung der
Grenze im 21. Jahrhundert” unter dem Titel “Sortiermaschinen” beschreibt.
Dass Grenzen “Sortiermaschinen” sind, ist erst einmal keine so neue
Feststellung. Jenseits ihrer geopolitischen und völkerrechtlichen
Funktion zur Abgrenzung eines Territoriums erscheinen sie v.a. im
westeuropäischen Denken den Individuen primär als Ort einer binären,
manchmal lebenswichtigen Entscheidung: des Zugangs oder der
Zurückweisung. Dass der Ort dieser Entscheidung nicht (mehr) nur der
ikonische, ebenfalls westeuropäisch geprägte Schlagbaum ist, scheint
auch keine besonders neue Erkenntnis. Vieles, das im Buch dargestellt
wird, ist im Grunde der regelmäßigen Zeitungsleserin bekannt: Die
Externalisierung der Kontrolle in Drittstaaten und an private Akteure,
der zunehmende Einsatz biometrischer Daten, der Bau von Mauern und
Zäunen und das Sterben im Mittelmeer. Letzteres steht bei Mau nicht im
Mittelpunkt, sondern wird eher sachlich am gebotenen Ort erwähnt. Es
handelt sich dabei schließlich nur um eine Zuspitzung der Kernaussage,
wonach Grenzen als Filter über Lebenschancen entscheiden und diese
anhand ziemlich banaler Kriterien wie Geburtsort bzw. Staatsbürgerschaft
reproduzieren: “Die Grenze als Sortiermaschine ist ein
Ungleichheitsgenerator”.
Etwas ausführlicher als die (ebenfalls irgendwie ikonisierten)
Bootsflüchtlinge werden z.B. jene beschrieben, die sich Kraft Vermögen,
teilweise unterstützt von entsprechenden Agenturen, für viel Geld Pässe
anderer Staaten und damit Visafreiheit in ganzen Weltregionen einkaufen
können. Hier könnte sich noch die diplomatische Klasse jener ergänzen
lassen, die mit entsprechenden Pässen oder aufgrund ihrer Funktion in
der UNO, anderen Internationalen Organisationen oder den Parlamenten
mächtiger Staaten ebenfalls eine weitgehende globale Bewegungsfreiheit
genießen. Dem stellt Mau die Hürden gegenüber, die sich für Angehörige
ärmerer Staaten ergeben, wenn sie ein Visum z.B. für den Schengen-Raum
beantragen wollen. Alleine diese sind für viele abschreckend oder aber
gleich unüberwindbar. So werden Ausschlüsse bereits weit jenseits des
Ziellandes produziert. Wer ohne Visum reisen will, stößt ebenfalls
bereits weit jenseits des Ziellandes auf vielfältige Hindernisse und
Barrieren, wobei private Dienstleister und Behörden von Drittstaaten in
die Abwehrstrategien der reichen Staaten eingebunden werden. Auch diese
im Grunde bekannte Externalisierung beschreibt Mau nüchtern und
anschaulich, u.a. am Beispiel der von Europa an den Niger delegierten
Abwehr von Migrant:innen: “Ganze Länder oder Landstriche können somit
zur Grenzzone anderer zum Teil räumlich weit entfernter Länder
umfunktioniert werden”. Hierin erkennt Mau auch den “Wunsch vor allem
liberaler Staaten, sich ihrer eigenen, normativen Selbstbindung zu
entledigen”, denn: „Exterritorialisierung führt dazu, dass Kontrolle und
der Zugang zu Rechten auseinanderfallen“. Dabei verweist Mau auf den
französischen Philosophen Étienne Balibar, der dafür plädiere, den
analytischen Blick „von der Bewegung von mobilen Menschen über die
Grenze hinweg auf die Bewegung von Grenzen auf mobile Menschen zu“ zu
verlagern. Das ist zugleich ein Beispiel dafür, wie es dem Autor an
verschiedenen Stellen gelingt, abstraktere und aktuelle
wissenschaftliche Debatten unprätentiös mit einer ansonsten sehr
anschaulichen Gesamtdarstellung der Funktionsweise von Grenzen zu
verweben. Wenn es z.B. an anderer Stelle heißt, „[p]ortable
Kontrollgrenzen zielen darauf, 'Unwillkommene' am Abreisen, Durchreisen
oder Anreisen' zu hindern“, ist dies einerseits offensichtlich - und
zugleich eine recht konkrete Anwendung von Balibars Forderung.
Die im besten Sinne populärwissenschaftliche Aufbereitung des Themas
zeigt sich auch daran, dass Mau an mindestens drei Stellen
Forschungsprojekte aus seinem Umfeld kurz vorstellt. Das gilt z.B. für
ein Projekt, das die Fortifizierung von Grenzen zum Gegenstand hatte.
Damit ist der Bau von Mauern und Zäunen gemeint, der seit den 1990er
Jahren deutlich zugenommen habe. Die Beschreibung dieser
„Grenzinfrastrukturen“ als „Bollwerke der Globalisierung“ erfolgt an
einer frühen und zentralen Stelle im Buch und soll eine weitere
Kernaussage unterstreichen, die sich gegen das von ihm zunächst
ausgebreitete „Entgrenzungsnarrativ“ wendet: Der „Abgesang auf die
Grenze, wie wir ihn bei den Hohepriestern der Globalisierung immer
wieder hören konnten, war eine Illusion zu Lasten Dritter, die die
Globalisierung nicht als ent-, sondern viel eher als Ausgrenzung erleben
durften“. Die Öffnungsglobalisierung sei systematisch verbunden mit
einer zugleich stattfindenden Schließungsglobalisierung, wobei die
„Freizügigkeitsgewinne für die Einen mit Begrenzungen von
Mobilitätsoptionen für die Anderen erkauft werden“. Das geht damit
einher, dass für erstere die Grenze zunehmend unsichtbar werde. Die
Hochmobilen, die „Sozialfigur des Trusted Travellers“ überfliegt Zäune
und Mauern. Sie sind mittlerweile an die „Walk-Through-Grenze“, den
Grenzübertritt als kurze „Mensch-Maschine-Interaktion“ gewöhnt. Für sie
erscheinen Stacheldraht und Befragung an der Grenze tatsächlich als
Anachronismus. Ganz am Anfang, wo er das „Entgrenzungsnarrativ“
nachzeichnet, nimmt er dabei auch seine eigene Zunft auf's Korn und
spekuliert über eine „déformation professionelle der
Konferenztouristen“. Die Grenze als „Ort legitimer staatlicher
Kontrolle auch ohne Verdacht“, als „Situation der Ohnmacht und des
Ausgeliefertseins“ und des Tauschs „umfassender Eingriffs- und
Kontrollrechte staatlicher Behörden gegen individuelle Eintritts- und
Mobilitätsmöglichkeiten“ ist „keine Jedermann- oder Jederfraugrenze“,
sondern eine „individualisierte Grenze“. Die flexibilisierte und
deterritorialisierte Grenze als Sortiermaschine hingegen zielt darauf
ab, die Trusted Travellers zu isolieren, während sie ganze
Bevölkerungsgruppen nach Risikofaktoren bewertet, als
Sicherheitsbedrohung einstuft und weit jenseits der territorialen Grenze
aufzuhalten oder an dieser herauszugreifen und besonders zu
durchleuchten sucht.
Hierbei spielen natürlich auch neue Technologien und sog. „Smart
Borders“ eine Rolle. Die „Informationelle und biometrische Kontrolle“
beschreibt Mau in einem weiteren zentralen Kapitel. Neben den
verschiedenen „Identitätsspeichern“, die gegenwärtig im Zuge des
Grenzmanagements aufgebaut werden und sich zunehmend nicht auf
Dokumente, sondern auf biometrische Identifikation („face passport“)
beziehen, spricht Mau den Einsatz von KI und Algorithmen anhand weniger
konkreter Beispiele an. Besonders wichtig scheint ihm dabei zu sein,
dass in diesen Datenbanken „zuvor separierte gesellschaftliche Bereiche
miteinander“ gekoppelt und „Informationen aus einem ganz anderen Kontext
für die Einreise in ein anderes Land entscheidungsrelevant“ werden. Vor
dem Hintergrund der Pandemie, in der das Buch offenbar geschrieben
wurde, spielen hier u.a. Gesundheitsindikatoren eine Rolle, was – der
Autor räumt das ein – nicht gänzlich neu ist. Mit wenigen anschaulichen
Beispielen legt er jedoch nahe, dass zunehmend auch das Konsumverhalten
und die Bonität in entsprechende Entscheidungssysteme einfließen und
damit auch der private Sektor eingebunden wird, der solche Indikatoren
erhebt.
An dieser Stelle wirkt das Buch appellativ und gewissermaßen
mobilisierend. Es scheint dem Autor ein persönliches Anliegen, eine
breitere Öffentlichkeit auf entsprechende Tendenzen und mögliche Folgen
aufmerksam zu machen und zumindest zwischen den Zeilen auch zu warnen.
Ansonsten ist das Buch, auch wenn es die hier wiedergegebenen Zitate
vielleicht anders erscheinen lassen, nicht in dem Sinne politisch oder
moralisierend, wie es beim Thema Grenzen ansonsten – und oft durchaus zu
Recht – der Fall ist. Somit ist es nicht nur für ein Fachpublikum mit
kritischer Haltung zu Grenzen als dichte und stimmige Zusammenfassung
weitgehend bekannter Fakten empfehlenswert, sondern auch als Geschenk an
Verwandte oder Kolleg*innen, denen es bislang an Empathie für diejenigen
fehlt, denen die „Globalisierung“ vor allem als Ausschluss entgegentritt.
CILIP 131
Die „Sortiermaschinen“ von Steffen Mau bilden einen hervorragenden
Hintergrund für die Lektüre der 131. Ausgabe der Zeitschrift
„Bürgerrechte und Polizei“ (Cilip) vom März 2023 mit dem Titelthema „Mit
Technologien gegen Migration“. Der Schwerpunkt besteht aus sieben
Einzelbeiträgen zu verschiedenen Aspekten. Unter dem Titel
„Migrationsabwehr als angewandte Wissenschaft“ stellt Norbert Pütter,
thematisch geordnet, Projekte der deutschen und EUropäischen
Forschungsprogramme für die „zivile Sicherheit“ vor, die einen
expliziten Bezug zum EUropäischen Grenzregime aufweisen. Im Themenfeld
Detektion geht es dabei um verschiedene Technologien, mit denen Menschen
in Fahrzeugen oder Containern aufgespürt werden sollen. Hierzu werde
u.a. mit dem Einsatz von Wärmebild- und Terahertzkameras experimentiert,
die versteckte Personen auch im fließenden Verkehr identifizieren
können. Ein weiteres Projekt habe demnach auch den Einsatz von
Röntgenaufnahmen und anderen radiologische Untersuchungsmethoden
untersucht, sei aber primär auf die Erkennung von Drogen oder
Sprengstoff ausgerichtet. Zunächst eher skurril, aber womöglich durchaus
anwendungsnah sollte auch ein „tragbares Meßsystem“ erforscht werden,
mit dem Luft aus geschlossenen Fahrzeugen oder Containern abgesogen und
auf „charakteristische Merkmale von menschlichen Ausdünstungen wie
Atemluft oder Schweiß“ untersucht werden könne. Beispielhaft für den
Bereich Grenzüberwachung wird das Projekt FOLDOUT vorgestellt, bei dem
Satellitenaufnahmen mit der „Echtzeit-Überwachung durch Luftschiffe“,
anlassbezogenen Flügen bemannter und unbemannter Systeme und einer
Vielzahl von Sensoren am Boden verknüpft werden sollen. Vergleichbare
Projekte werden auch im Themenfeld der Seegrenzen dargestellt. Unter der
Überschrift „Identitätsprüfung an der Grenze und im Inland“ werden
Forschungsprojekte genannt, welche u.a. durch Auslesen der Smartphones
Geflüchteter Rückschlüsse auf deren Herkunft und die verwendeten Routen
ermöglichen sollten. Weitere Projekte verfolgten das Ziel der Ermittlung
des Herkunftslandes durch „Sprach- und Dialektanalyse“ oder der
standardisierten Altersermittlung „mit den Mitteln Künstlicher
Intelligenz“. Was Püttners kurzen Beitrag gegenüber anderen teilweise
ausführlicheren Darstellungen der entsprechenden Programme auszeichnet,
ist, dass in wenigen Sätzen auch die Dynamik der Forschungsförderung und
die Verantwortung der Forschenden angesprochen wird. Letztere müssten
„in ihren Anträgen erfolgreich bestehende Überwachungs- und
Kontrolldefizite behaupten, die sie zu schließen versprechen“. Mit dem
„technischen Fokus“ verbunden sei, dass „die Forschenden die
Abschottungslogik als unhinterfragte Basis ihres Tuns (und
Geldverdienens) bekräftigen und die Migrant*innen als zu polizierende
Objekte behandeln“. Gut, das das mal in dieser Klarheit formuliert
wurde. Zugleich würden viele der erforschten Technologien „das Potential
zu einer totalitären Überwachung der gesamten Gesellschaft“ bergen.
Auf diesen Aspekt geht bereits die Redaktionsmitteilung ganz am Anfang
des Heftes ein, in der auf Michel Foucaults Bild des „kolonialen
Bumerangs“ verwiesen wird: „Bis heute sind die rassifizierten 'Fremden'
das primäre Testfeld für neue Kontrolltechnologien“, die mit einiger
Wahrscheinlichkeit früher oder später auf weitere Teile der Gesellschaft
Anwendung finden würden. Viele der Autor*innen des Schwerpunkts greifen
diese Argumentation auf, darunter Petra Molnar, die in der Vergangenheit
viel zum Einsatz von KI im Migrationsmanagement geforscht hat. In ihrem
Beitrag „Digitale Festungen und Roboterhunde – Technologische Gewalt an
den Grenzen der EU und USA“ stellt sie fest: „Die Regulierungslücken im
Hinblick auf Grenztechnologie sind beabsichtigt, um technologische
Experimente zu ermöglichen, die andernorts nicht erlaubt wären“. Das
„Andernorts“ ist dabei vermutlich nicht vorrangig räumlich zu verstehen,
denn auch sie spricht – bezugnehmend auf Ayelet Schahar und deren Buch
„Shifting Borders“ – davon, dass Grenzen „elastisch geworden“ und „nicht
mehr an einen physischen Ort gebunden“, sondern „zu einer beweglichen
Barriere, zu einem losgelösten rechtlichen Konstrukt“ geworden sind.
Besonders stark hebt den Aspekt „Migrant*innen als Versuchssubjekte“ und
die „Migrationssteuerung der EU als Versuchslabor für neuartige
Technologien“ Lise Endregat Hemat in ihrem Beitrag „Wirklich nur
Forschung?“ hervor: „Migration wird als eine Gefahr geframed […], wobei
sich die Grenzen dessen, was als akzeptabel erachtet wird, verschieben.
Solche Prozesse können die Entwicklung außergewöhnlicher Technologie
befördern“.
Eine weitere Argumentation zieht sich durch einen Großteil der Beiträge,
nämlich die Vorstellung eines gewinnträchtigen und profitorientierten
„grenzindustriellen Komplex“ (Molnar) bzw. des „Geschäftsfelds
Migrationskontrolle“. Verschiedene Beiträge nennen zwei- bis
dreistellige Millionenbeträge für bestimmte Projekte, welche eine
Zweck-Mittel-Relation jenseits der Förderung dieser Industrie kaum
erkennen lassen. Auch jenseits der Fusion beider Gedanken liegt es
durchaus in der juristisch-aktivistischen Tradition der „Cilip“, die
aktive Verteidigung der Rechte insbesondere jener in den Mittelpunkt zu
stellen, für die der Zugang besonders erschwert ist. So macht der
Beitrag von Clemens Arzt durchaus Sinn, in dem er verschiedenste
Rechtsquellen, von der Europäischen Menschenrechtskonvention über das
Grundgesetz bis hin zum deutschen Strahlenschutzgesetz (was es nicht
alles gibt…) nach Möglichkeiten durchforstet, entsprechende Praxen zur
„Detektion von Flüchtenden in Fahrzeugen“ anzufechten. Auch der Beitrag
von Lucie Audibert, „Warnungen aus Großbritannien“, beschreibt
juristische Auseinandersetzungen um verschiedene Maßnahmen des
britischen Innenministeriums, mit denen Handys von Asylsuchenden
ausgelesen oder diese mit GPS-Tracking überwacht werden. Die so
erhobenen Daten können in die Entscheidung über Aufenthaltsperspektive
oder Abschiebung einfließen und damit natürlich „das Recht auf
Privatsphäre, aber auch auf Vereinigungs-, Versammlungs- und
Meinungsfreiheit verletzen“. Es gelingt der Autorin dabei sehr gut, die
„weitverbreite Rechtswidrigkeit“, Regelverstöße und Regulierungslücken
als bewusste Strategie des britischen Innenministeriums und die von
Betroffenen und Menschenrechtsgruppen angestoßenen Verfahren als
Gegenstrategie zu rekonstruieren.
Neben den Interessen der entsprechenden Industrie und einem scheinbar
sich verselbstständigen Framing von Migration als Bedrohung sprechen die
Autor*innen des ersten Beitrags (der den Charakter eines erweiterten
Editorials hat) auch den technologischen Solutionismus als ideologische
Grundlage dessen an, was beschrieben wird. Damit ist die Vorstellung
bzw. Tendenz gemeint, für soziale Phänomene, die als „Problem“ definiert
werden, technologische „Lösungen“ zu suchen und zu verfolgen. So heißt
es dort u.a.: „Egal ob innenpolitisch oder wenn es um Migration auf
EU-Ebene geht, reagiert der neoliberale Staat auf Krisen schnell mit
autoritären Mitteln, die er nicht zuletzt technisch umgesetzt sieht.
Dann bestimmt sich der Diskurs durch Diskussionen über technisch
Machbares und nicht über politisch Umkämpftes“. Schön gesagt auch hier:
„Ausgehend von der Idee des Krisenhaften, das mit Migrationsbewegungen
einhergeht, verbindet sich vor allem mit vorausschauenden und
vorhersagenden Technologien, samt ihrer mathematischen wie
physikalischen Verfahren, das Versprechen einer berechenbaren Kontrolle
über menschliche Verhaltensweisen“. Lise Endregat Hemat formuliert einen
Gedanken, der daran sehr gut anknüpft: Sie fragt sich eher am Rande, was
die „Datensammelsysteme“ und „enormen Datenmengen“ denn dazu beitragen
(können), „um die strukturellen Probleme zu beheben, die Migration
verursachen“. (Im Gesamtkontext ist dabei klar, das Hemat hier auf
Fluchtursachen und globale Ungleichheit abzielt und nicht Migration per
se als Problem kategorisiert)
Vergleich
Während es sich bei Maus „Sortiermaschinen“ und der Cilip 131 um
grundverschiedene Publikationen handelt, weisen sie verschiedene
Gemeinsamkeiten auf. Sowohl die Monographie des etablierten Soziologen
Mau wie auch die (fast) aktuelle Ausgabe einer Zeitschrift aus dem
aktivistischen Umfeld kritischer Jurist*innen (Cilip ist ein Verein, den
man durch Mitgliedschaft unterstützen kann) kommen zu ähnlichen
Schlussfolgerungen und ergänzen sich, vermutlich unfreiwillig. Beide
werfen eher implizit die Frage auf, ob die technologische „Neuerfindung
der Grenzen“ auch eine Neuerfindung der Staatlichkeit und ihrer
Souveränität ist. Molnar schreibt in der Cilip etwa, dass „die Macht,
Innovationen zu entwickeln und zum Einsatz zu bringen“, „die Kluft
zwischen Nord und Süd“ vergrößert. Das ist hier sehr verkürzt
wiedergegeben, aber ein Satz, den es sich evtl. lohnt, zweimal zu lesen.
Der Blickwinkel der Monographie ist globaler, die Cilip nimmt eher die
EU in den Blick und geht hier in interessante Details. Beide liefern
spannende Referenzen zu postkolonialen Ansätzen, ohne dass sie selbst
diesen zugeordnet werden könnten. Inspiriert durch diese Ansätze gab
sich bis vor etwa zehn Jahren die Theorie der (relativen) Autonomie der
Migration, die in beiden Publikationen keine offenkundige Erwähnung
findet. Zugespitzt besagte sie, dass staatliche Interventionen das
Migrationsgeschehen nur begrenzt beeinflussen könnten und die
Migrant*innen diese kontinuierlich herausfordern, mitgestalten und
unterlaufen würden. Ihre Darstellung als „Versuchssubjekte“ wäre damals
womöglich vehement kritisiert worden – die Argumente dafür waren und
sind gut. Die „Sortiermaschinen“ waren da bereits Thema, deren
Konkretisierung in den beiden behandelten Publikationen könnte jedoch
auch Anreiz oder Provokation für ein Update sein zur „Autonomie der
Migration“.
IMI-List - Der Infoverteiler der
Informationsstelle Militarisierung
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72072 Tübingen
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