Mittwoch, 24. Februar 2010

Food Riots

Food Riots sind keine "chaotischen Gewaltausbrüche"
http://www.imi-online.de/2010.php?id=2076
http://imi-online.de/download/KP_FootRiots_AusdruckFeb2010.pdf
16.2.2010, Klaus Pedersen


Die Zukunft verheißt nichts Gutes. Experten rechnen mit einer
Verdopplung der Zahl der chronisch hungernden Menschen bis zum Jahr
2030.1 Das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen im Dezember 2009 und
das kaum überraschende Beharren auf den bisherigen Positionen der
Landwirtschafts- und Ernährungspolitik seitens der führenden
Industrieländer lassen vermuten, dass die Zuspitzung der
Welternährungskrise noch dramatischer verlaufen wird als bisher
eingestanden -- ein Trend, der Erinnerungen an die Hungerrevolten der
jüngsten Zeit wach ruft. In den Jahren 2007/2008 wurde über "Food Riots"
in 39 Ländern berichtet. Zeitliche Dichte und globale Verbreitung dieser
Ereignisse waren beispiellos und weckten auf unsanfte Weise
entsprechende Sicherheitsbedenken in den Zentren der Macht. Da die
Wiederkehr von Hungerrevolten nur eine Frage der Zeit ist, macht es
Sinn, sich mit diesem Thema auch dann zu beschäftigen, wenn es nicht
unmittelbar die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht.


Die Sorgen der Eliten

"Wenn es zu einem Klassenkampf kommt, dann unterminiert das die
Stabilität der Gesellschaft", konstatierte Ifzal Ali, Chef-Ökonom der
Asiatischen Entwicklungsbank, in Bezug auf die Welle von Food Riots.2
Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt einen
zweistufigen Prozess zu erkennen: zunächst die Entstehung einer
Versorgungskrise (Versorgungsengpässe, Preisanstieg), gefolgt vom
Ausbruch des Konflikts. Sie ruft nach "umfassenden Maßnahmen zur
politischen Stabilisierung", ohne zu verraten, was sie bei der
Aufzählung der Maßnahmen mit "last but not least stabilen effektiven
Governance-Strukturen" meint.3 Doch das "Modell Haiti", bei dem jetzt
die US-Streitkräfte jene "Stabilisierung" vollenden, die nach den
Hungerprotesten im April 2008 von UNO-Truppen begonnen wurde,4 lässt
erahnen, worum es geht. Das Online-Magazin NATO Brief widmete im Mai
2008 eine komplette Ausgabe diesem Thema.5 Drei Hauptsorgen wurden in
den Beiträgen zum Ausdruck gebracht: Erstens wurde die Zunahme sozialer
und politischer Unruhen in vielen Ländern als die "alarmierendste und
unmittelbare Folge" der Nahrungsmittelkrise bezeichnet.6 "Früher oder
später werden wahrscheinlich zig, wenn nicht hunderte Millionen
reagieren", wenn sie erleben, dass die Lebensmittel für sie aufgrund der
Preisentwicklung außer Reichweite rücken.5 Zweitens wurde die Sorge
artikuliert, dass sich "enttäuschte junge Männer" radikalen Lösungen
zuwenden könnten. "Das würde ... kurzfristig einen Einfluss auf unsere
Soldaten haben und mittel- bis langfristig unsere eigene Sicherheit
beeinflussen."5 Teil dieser radikalen Lösungen seien Überfälle auf
Lebensmitteltransporte, die -- speziell in Afghanistan -- im Rahmen des
"Comprehensive Approach" in die zivil-militärische Zusammenarbeit
integriert sind. Afghanistan ist eines der vom Welternährungsprogramm
(WFP) am stärksten unterstützten Länder. Dort hat es 30 Angriffe auf
Nahrungsmitteltransporte des WFP allein im Jahr 2007 gegeben.7 Drittens
entstanden bei den europäischen Regierungen Ängste vor einem erhöhten
Migrationsdruck nicht nur durch Naturkatastrophen und die allgemeine
soziale Misere in den Ländern des Südens, sondern nunmehr auch durch
Preisexplosionen bei Lebensmitteln.8 Die reflexartige Reaktion der
Institutionen auf solche Szenarien findet in Gebilden wie FRONTEX ihren
Niederschlag.9


Historischer Rückblick

Food Riots hatten in Europa eine lange Tradition, die von der Mitte des
16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte,
bis sie dann durch die entstehenden Gewerkschaftsbewegungen abgelöst
wurden. Die Food Riots von 2007/2008 bestätigen die von Walton und
Seddon10 beschriebenen Gemeinsamkeiten zwischen den historischen Food
Riots in Europa und den heutigen Hungerrevolten in den Ländern des
Südens. Das vielleicht wichtigste Merkmal ist, dass das
Schlüsselargument westlicher Sicherheitsstrategen, es handele sich um
chaotische Gewaltausbrüche, nicht zutrifft. Mit dieser Behauptung wird
jedoch die gewaltsame Unterdrückung derartiger Proteste gerechtfertigt.
Deshalb soll nachfolgend diese Behauptung ausführlich untersucht und
damit ihre Unhaltbarkeit belegt werden. Denn, was auf die historischen
Brotrevolten zutrifft und für die Food Riots von 2007/2008 belegt werden
kann, darf auch für die Proteste der Zukunft unterstellt werden: Zwar
ist der konkrete Zeitpunkt des Beginns solcher Aktionen oftmals spontan
(der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt). Doch bereits Thompson
erkannte, dass Aktionen dieser Art einen kohärenten politischen Zweck
verfolgen und "eine hoch komplexe Form der direkten Aktion darstellen,
diszipliniert und mit klaren Zielvorstellungen."11

Walton und Seddon, die ihre Analyse der Food Riots aus der Periode der
vom Internationalen Währungsfonds verordneten
Strukturanpassungsprogramme mit einem Rückblick auf die historischen
Brotrevolten verbanden, kamen zu dem Schluss, dass die am besten belegte
Tatsache jene ist, dass es sich bei den Food Riots nicht um "chaotische,
gewalttätige Ausbrüche irrationaler Massen handelt, sondern um
organisierte, zweckbestimmte Aktionen", was sich ihrer Ansicht nach vor
allem anhand der Selektion der Zielobjekte dieser Revolten belegen
lässt.10 Die Protestierenden randalieren nicht wahllos, sondern richten
ihren Zorn gegen bestimmte Personen und Institutionen, denen von den
Massen die Verantwortung für die herrschenden Ungerechtigkeiten
zugeschrieben werden. Organisiertheit und Selektivität der Aktionen sind
auch für 2007/2008 dokumentiert.12


Die Riots von 2007/2008

Die landesweiten Proteste, die am 28. Februar 2008 in Kamerun begannen,
waren ursprünglich von mehreren Transportgewerkschaften ausgerufen
worden, die jedoch einen Tag später ihren Aufruf ängstlich zurücknahmen.
Daraufhin wurden die Proteste von einer weitgehend "anonymen Masse"
Jugendlicher (meist mit Abitur oder Realschulabschluss) getragen, die
sich als Moped-Taxifahrer mehr schlecht als recht durchs Leben
schlagen.13 Allein in der Wirtschaftsmetropole Douala wird ihre Zahl auf
42.000 geschätzt.14 Einerseits über Mobiltelefone gut vernetzt, hatten
sie andererseits weder eine sichtbare Struktur noch erkennbare
Führungspersönlichkeiten, auch keine nach außen vorgetragenen
Forderungen. Doch sie koordinierten die Proteste so effektiv, dass die
Millionenstadt Douala am Morgen des 25. Februars innerhalb einer Stunde
lahm gelegt war. Diese Jugendlichen gehören laut Peltzer nicht zu den
extrem marginalisierten Bevölkerungsteilen, sind aber ohne Perspektive
und "im Übrigen auch diejenigen, die sich am ehesten an die Küsten
Senegals und Mauretaniens aufmachen, um nach Europa zu gelangen."13
Binnen kurzer Zeit breitete sich der Streik auf die zehn größten Städte
aus, es kam zur Blockade der großen Überlandstraßen, und selbst der
internationale Flughafen von Douala war zeitweise geschlossen. Ziel der
Aktionen waren Rathäuser, Polizeikommissariate und Steuerbüros. Es kam
zu zahllosen Attacken gegen französische Firmen und Firmen, die zum Clan
des verhassten Präsidenten Paul Biya gehörten. Die Protestierenden
brachten also ziemlich genau zum Ausdruck, wen sie meinten. Nach vier
Tagen war die Revolte im Blut erstickt. Die mit massiver Gewalt
unterdrückten Proteste kosteten nach Einschätzung der kamerunischen
Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L'Homme 200
Menschenleben. Hinzu kamen Dutzende Schwerverletzte und 1.500 in
Schnellverfahren Verurteilte.

Ende Februar 2008 gab es in Burkina Faso in den Städten Banfora,
Bobo-Dioulasso, Ouhigouya und der Hauptstadt Ouagadougou militante
Proteste gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise und es wurde
zu einem zweitägigen Generalstreik Anfang April aufgerufen. Während der
Proteste in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt des Landes, griffen
die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an und setzten Geschäfte, Autos
und Tankstellen in Brand. Eine Regierungsdelegation wurde mit Steinen
beworfen und verjagt. Am 15. März 2008 gab es in mehreren Städten große
Kundgebungen, denen am 08. und 09. April der angekündigte Generalstreik
folgte, der von den Organisatoren - einer nationalen Koordination,
bestehend aus Gewerkschaftszentralen, autonomen Gewerkschaften sowie
Gruppierungen sozialer Bewegungen - als enormer Mobilisierungserfolg
gewertet wurde. Während des Generalstreiks kam es laut Polizeiangaben zu
264 Verhaftungen. Zugleich wurden aber dem Regime von Blaise Compaorés
(der 1986 die Volksregierung von Thomas Sankara durch einen Putsch
beseitigt hatte) Preissenkungen bzw. Preisfestschreibungen abgetrotzt,
und die Importzölle für Nahrungsmittel wurden gesenkt. Es gab eine
"informelle" Blockade von Lebensmittelexporten, und ein Teil der
strategischen Notvorräte der Regierung wurde in Umlauf gebracht, um den
Preisdruck auf die Lebensmittel zu verringern.15

Die Demonstrationen in Haiti begannen am 3. April 2008 in Le Cayes,
breiteten sich über andere Städte aus und erreichten am 7. April die
Hauptstadt Port-au-Prince. Seit vielen Monaten war es zu einem Anstieg
der Preise für Grundnahrungsmittel gekommen. Der Anblick von
attackierten Gebäuden und Autos wurde zur Normalität. Die Menschenmengen
machten ihrem Zorn über die Gleichgültigkeit der haitianischen Eliten
Luft. Am 12. April trat Premier Jacques Edouard Alexis zurück, was
allerdings nicht zu einem Politikwechsel führte -- er wurde von den
herrschenden Eliten als Sündenbock geopfert. Als er zuvor in einer Rede
sagte, bei vielen Protestierenden handle es sich nur um Gangster und
Drogendealer (eine Sichtweise, die von den internationalen Medien
allgemein kolportiert wurde), eskalierten die Proteste. Einige
DemonstrantInnen sagten, seit dem Staatsstreich 2004 habe sich ihre
Situation dramatisch verschlechtert. Selbst unter einem nahezu totalen
Embargo habe die damalige Regierung Aristide weiterhin subventionierte
Nahrungsbanken in den ärmsten Slums unterhalten. Unterstützung für die
Fanmi Lavalas, die politische Bewegung unter Führung des heute
exilierten Präsidenten Aristide, schien unter den Demonstranten weit
verbreitet zu sein. Im März, kurz vor den Food Riots, hatten
studentische AktivistInnen dem Landwirtschaftsminister Francois Severin
sieben spezielle Empfehlungen zur Revitalisierung des haitianischen
Landwirtschaft übergeben, die gegen jene ruinöse, von IWF und Weltbank
diktierte Agrarpolitik gerichtet war, die das Land seit 1986 plagt. Die
Einkommen auf dem Land und die Ernten fielen seither in den Keller. Die
Nahrungsversorgung wurde (insbesondere bei Reis) von Billigimporten und
damit von der internationalen Preisfluktuationen abhängig und ließ
Haitis Bauern zu Arbeitslosen werden. Von seiner ursprünglichen Aussage,
dass er die studentischen Empfehlungen akzeptiere, rückte Severin kurze
Zeiter später wieder ab -- ein weiterer Affront im Vorfeld der Food
Riots.16

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. In Ägypten, das
jährlich 7 Millionen Tonnen Weizen importieren muss, wurde angesichts
steigender Brotpreise und bevorstehender Scheinwahlen für den 06. April
2008 ein Generalstreik ausgerufen, für den im Vorfeld eine Reihe
unabhängiger Organisationen mobilisiert hatte (die offiziellen
Gewerkschaften sind ein Arm der Regierung) -- kaum ein Ausdruck für
chaotische Gewaltausbrüche des "Mobs".17 In Gabun war für den 22. April
2008 eine Demonstration gegen die steigenden Lebensmittelpreise
angemeldet worden, die dann kurz vorher verboten wurde. Die
Mobilisierung dafür erfolgte gemeinsam durch zwei Initiativen, die
"Koalition gegen die Teuerung" und den "Schrei der Frauen". Die
Demonstration fand trotzdem statt und wurde gewaltsam unterdrückt.18
Verschiedene soziale Bewegungen dokumentierten in einer am 29. April
2008 veröffentlichten Preseerklärung ("Répression des organisations de
la société civile") die erlittene Repression und riefen zum Protest
auf.19 In Honduras hatte für den 17. April 2008 die "Koordination des
Volkswiderstands" (der alle Gewerkschaften und alle Bauernvereinigungen
des Landes angehörten) zu einem nationalen Streiktag aufgerufen, um den
Forderungen eines 12-Punkte-Plans Nachdruck zu verleihen. Die
wichtigsten Punkte dieses Forderungsprogramms betrafen die Verteuerung
der Grundnahrungsmittel, die Wasserprivatisierung und die Durchführung
einer wirklichen Landreform. Vergeblich versuchte die damalige Regierung
Zelaya (zu jenem Zeitpunkt noch auf neoliberalem Kurs) mit massiver
Polizeigewalt die zahlreichen Straßenblockaden, die sich quer durchs
Land zogen, zu zerschlagen.20 Am 23. September 2007 demonstrierten in
Sefrou, Marokko, mehrere tausend Menschen wegen der gestiegenen Brot-,
Kaffee-, Tee-, Zucker- und Milchpreise. Mehrheitlich aus Frauen und
Jugendlichen bestehend, versuchte die Menge zum Verwaltungsgebäude der
Stadt zu gelangen. Armee und Polizei blockierten die Straßen, woraufhin
die Demonstration eskalierte und zur Beschädigung öffentlicher Gebäude
führte.21 In Tunesien, einem Land über das in der Weltpresse wenig zu
erfahren ist, gab es seit Januar 2008 immer wieder heftige Proteste in
der Region Gafsa, dem wirtschaftlich wichtigen Phosphatrevier. Die
Proteste richteten sich gegen die auch in Tunesien heftigen
Preissteigerungen für Lebensmittel. Der Gewerkschaftsbund UGTT war ein
maßgeblicher Organisator dieser Proteste.22


"Chaotische Gewaltausbrüche" -- ein mediales Konstrukt

Was mit dieser Aufzählung verdeutlicht werden soll, ist, dass der
tatsächliche Ablauf der Ereignisse in diesen Ländern deutlich von dem
durch die Medien vermittelten Bild abweicht. Es besteht also der
begründete Verdacht, dass die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung,
Food Riots seien chaotische Gewaltausbrüche, einem bestimmten
politischen Zweck dient, nämlich der Legitimierung des Einsatzes
staatlicher, in manchen Fällen internationaler Repression. Dabei
beeinflusst diese mediale Konstruktion nicht nur die breite öffentliche
Meinung, sondern auch die Ansichten von MeinungsträgerInnen, die es
eigentlich besser wissen müssten. So scheint die Leiterin der Abteilung
für Ökonomische Sicherheit des Internationalen Roten Kreuz Komitees,
Barbara Boyle Saidi, die Akteure verwechselt zu haben, als sie am 27.
Mai 2008 in einem Interview "die Behörden und insbesondere die
Sicherheitskräfte [dazu drängte], die Bevölkerung vor möglichen
Gewaltausbrüchen im Zusammenhang mit hohen Nahrungsmittelpreisen zu
schützen", auch wenn sie zugleich die Sicherheitskräfte aufforderte, vom
Einsatz exzessiver Gewalt abzusehen.23 Äußerungen von J. M. Sumpsi
Viñas, Assistant Director-General der Welternährungsorganisation (FAO),
stellen eine indirekte Diffamierung der sozialen Bewegungen in den
Ländern des Südens dar, wenn er schreibt, dass das "Risiko [sozialer und
politischer Unruhen] besonders hoch in Ländern [ist], die gerade einen
gewalttätigen Konflikt hinter sich haben und in denen die brüchige
Sicherheit und der politische oder wirtschaftliche Fortschritt recht
einfach entgleisen können."6 Wie die oben genannten Beispiele zeigen,
sind es eben nicht die sogenannten "failed states", sondern eher Länder
mit etablierten sozialen Bewegungen, in denen es zu Protesten gegen die
Auswüchse des neoliberalen Wirtschaftssystems kommt. Aus seiner
Perspektive fordert Sumpsi folgerichtig das "Einbeziehen von
ernährungsbezogenen Unruhen in die Konflikt-Frühwarnsysteme" und
"Überlegungen, wie Behörden und Missionen zur Friedensförderung (sprich:
Militäreinsätze, P.C.) besser mit Massenaufständen umgehen können." Zu
den "Überlegungen zur Friedensförderung" dürften auch die Kurse für hohe
Polizeibeamte aus den Ländern des Südens gehören, die im Center of
Excellence for Stability Police Units (COESPU) in Vicenza, Italien,
durchgeführt werden.4 Unter den Kursteilnehmer, waren auch Polizisten
aus Kamerun, Kenia, Pakistan und Senegal, also Ländern, wo
Hungerproteste brutal unterdrückt wurden. Im oben zitierten NATO Brief
klagt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan
über "praktische Sicherheitsfragen" wie Demonstrationen, die nach ihrer
Ansicht "auf das mangelnde Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit in
Afghanistan zurückzuführen sind, dass die steigenden Lebensmittelpreise
Teil eines globalen Phänomens sind."7 Wollten die Autoren damit sagen,
dass "globale Phänomene" als unabwendbar hinzunehmen sind? Insgesamt ist
zu erkennen, dass in den Zentren der Macht mehr Wert auf die "Kontrolle"
der Ernährungskrise und ihrer Folgen gelegt wird, als auf deren Lösung.

Das Streben nach einer tatsächlichen Lösung würde dringende und
grundlegende Veränderungen in der globalen Landwirtschaftspolitik
bedeuten. Doch diese sind nicht in Sicht. So erinnert das Beharren auf
einer perspektivlosen Welternährungspolitik24 in Kombination mit den
Food Riots an die alte Formel, dass der Kapitalismus seinen eigenen
Totengräber schafft. Die modernen Food Riots spielten sich bislang vor
allem in der Peripherie des globalen Kapitalismus ab, wenngleich in
deren urbanen Zentren. Dabei enthält die Liste der Länder mit Food Riots
der Periode von 1976 bis 1992, die Walton und Seddon10 präsentierten,
ein aus heutiger Sicht interessantes Detail. In ihrer Tabelle der 39
Riot-Länder ist nicht nur das Jahr der ersten (und in etlichen Fällen
einzigen) Hungerrevolte aufgeführt, sondern auch die Summe dieser
Ereignisse in der gesamten Periode. Mit 14 Food Riots nimmt Peru die
Spitzenposition ein. In zwölf Ländern gab es jeweils nur eine
Brotrevolte. Doch unter den sieben Spitzenplätzen (Länder mit 7 Food
Riots und mehr innerhalb der 17jährigen Erfassungperiode) befinden sich
Bolivien (13) und Venezuela (7). Außerdem sind mit Brasilien (11) und
Argentinien (11) zwei weitere Länder unter den Top-Sieben, die in
jüngerer Zeit zumindest ansatzweise eine anti-neoliberale Politik bzw.
eine Politik zu mehr sozialem Ausgleich erkennen ließen. Der Rückblick
auf die vergangenen drei Jahrzehnte liefert also Indizien dafür, dass
Food Riots Teil eines komplexeren Prozesses der Transformation zu mehr
sozialem Ausgleich zu sein scheinen.


Schlussfolgerungen

Betrachtet man die globale Sicherheits-(=Repressions-)Politik des
Westens, die Geschichte der Food Riots und die Sackgasse, in der sich
die globale Landwirtschaft heute befindet, im Zusammenhang, lassen sich
folgende Thesen ableiten: (1) Empirische Befunde weisen darauf hin, dass
Food Riots Teil komplexer gesellschaftlicher Prozesse zur
gesellschaftlichen Veränderung bis hin zu Ansätzen eines Systemwandels
darstellen. (2) Trotz einer sich konsolidierenden landwirtschaftlichen
Alternative,25 ist in näherer Zukunft keine globale Trendwende zu einer
sozial und ökologisch verträglichen Landwirtschaft zu erwarten. Food
Riots finden in urbanen Zentren statt. Mit der zu befürchtenden weiteren
Ausbreitung eines Modells der industriellen Landwirtschaft in den
Ländern des Südens setzt sich die Urbanisierung der Weltbevölkerung
fort, d. h. das Riot-Potenzial in den Ballungsräumen des Südens
verstärkt sich, insbesondere wenn die gravierenden
Verteilungsungerechtigkeiten beibehalten oder gar verstärkt werden.
Parallel dazu lässt sich eine Zunahme von Unruhen in einigen Ländern
West- und Osteuropas prognostizieren, die "eine tiefe Verzweiflung über
die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter
Ausbildung" und "eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der
Korruption der politischen Klasse" reflektieren.26 (3) Die herrschenden
Eliten werden auch künftig darauf setzen, Unruhen mit
"Sicherheitspolitik" unter Kontrolle zu bringen, wobei sich die globale
Sicherheitspolitik, ähnlich wie die Landwirtschafts- und Klimapolitik,
in einer Sackgasse befindet.

Die Ereignisse der Jahre 2007/2008 bestätigen und relativieren die
Analyse von Walton und Seddon.10 Einerseits bestätigen sie deren
Erkenntnis, dass in der Regel zwar eine enge allgemeine Beziehung
zwischen Food Riots und Preiserhöhungen bzw. Versorgungsengpässen für
Lebensmittel besteht. Eine unmittelbare zeitliche Verknüpfung zu Hunger
als sozialem Phänomen (Hungersnot) besteht jedoch meistens nicht. In der
Vergangenheit war der fehlende Zugang zu Lebensmitteln meist nur einer
von mehreren Gründen für den Ausbruch von Food Riots. Diese Proteste
begleiten den Neoliberalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21.
Jahrhunderts ähnlich wie sie den Wirtschaftsliberalismus des 18./19.
Jahrhunderts begleiteten. Doch während Food Riots vor 200 Jahren eine
frühe Form des collective bargaining waren, mit dem kurz gesteckte Ziele
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zur Verhandlung gebracht wurden,
gibt es Indizien dafür, dass die heutigen Proteste in den afrikanischen,
asiatischen und lateinamerikanischen Ländern Teil eines komplexen
gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind. Häufig werden sie von
Basisinitiativen, Gewerkschaften und anderen oppositionellen Gruppen
vorbereitet und organisiert. Diese Analyse scheint von den Zentren der
Macht geteilt zu werden, denn die stereotyp wiederholte Behauptung, Food
Riots seien chaotische Gewaltausbrüche (womit der Einsatz staatlicher
bzw. internationaler Repression legitimiert wird), lässt darauf
schließen, dass man die drohende gesellschaftliche Transformation ernst
nimmt. Da "Armutsbekämpfung das heiligste Ziel der internationalen
Rhetorik" ist und der Reflex des herrschenden Systems in technological
fixes besteht, um der "Knappheitsschere" zu begegnen,27 statt tragfähige
gesellschaftliche Lösungen durchzusetzen, scheint das Riot-Potenzial für
die Zukunft gesichert zu sein.


ANMERKUNGEN:

1 De Schutter, O. (2010) : Herausforderungen des Agrarhandels im
Spannungsfeld der Ernährungs-, Klima- und Wirtschaftskrise. Keynote.
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.
2 "Biosprit-Anbau lässt Reispreise steigen", 04.04.2008, www.tagesschau.de
3 Rudloff, B.(2009): Aufstand der Ausgehungerten. Internationale Politik
Nr. 11/12, S. 38-44.
4 Marischka, C. (2008): Haiti und der Krieg gegen die Armut, Ausdruck,
Juni 2008, http://www.imi-online.de/download/CM-HaitiHunger-juni-08.pdf
5 NATO Brief 5/2008, http://www.nato.int/docu/review/2008/05/DE/index.htm
6 Sumpsi Viñas, J. M. (2008): Ein hungriger Mann ist ein zorniger Mann,
NATO Brief 5/2008.
7 "Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?", Interview mit
Vertretern der UNAMA, NATO Brief 5/2008.
8 "Ernährung und Sicherheit -- Fragen und Antworten", NATO Brief 5/2008.
9 Informationsstelle Militarisierung (2009): Frontex -- Widersprüche im
erweiterten Grenzraum,
http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf
10 Walton, J., Seddon, D. (1994): Free markets and food riots. The
politics of global adjustment. Oxford UK & Cambridge USA.
11 Thompson, E.P. (1971): The moral economy of the English crowd in the
eighteenth century. Past and Present 50, S. 76-136.
12 Pedersen, K. (2008): Die weltweiten Hungerrevolten (Food Riots)
2007/2008. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 76, Dez. 2008, S.
42-50.
13 Peltzer, R. (2008): Neue Brotaufstände? Die Proteste in Kamerun. Im
Schatten steigender Lebensmittel- und Ölpreise, in: Informationsbrief
Weltwirtschaft & Entwicklung, 4.3.2008.
14 Wiedemann, C. (2008): Dunkle Krawalle. Freitag Nr. 27, 04.07.2008.
15 "Burkina Faso", 24.10.2008, www.labournet.de.
16 Sprague, J. (2008): Hunger-Proteste auf Haiti,
http://zmag.de/artikel/hunger-proteste-auf-haiti
17 "Brotpreis, Streiks und Staatsgewalt: Ein Regime zittert - und
schlägt um sich...", 11.04.2008, http://www.labournet.de
18 "Gabun", 24.10.2008, www.labournet.de
19 "Communique de Presse des Organisations de la Societe Civil
Gabonaise", 29.04.2008, www.presseafricaine.info
20 "Privatisierung und Widerstand", 21.11.2008, www.labournet.de
21 Schmid, B. (2007): Marokko nach den jüngsten "Brotrevolten",
02.10.2007, www.labournet.de
22 "Gafsa: Ben Alis Polizei kann Proteste nicht stoppen - seine Partei
auch nicht", Interview mit Adnan Birbaoun, 18.04.2008, www.labournet.de
23 Boyle Saidi, B. (2008): Food crisis: the rising human cost.
http://www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/html/food-crisis-interview-270508
24 Hoering, U. (2009): Weltgipfel Ernährungssicherheit: Hauen und
Stechen. http://www.globe-spotting.de/comments.html#anker
25 Martínez-Torres, M.E., Rossett, P.M. (2010): La Vía Campesina: the
birth and evolution of a transnational social movement. J. Peasant
Studies 37, S. 149-175.
26 Klare, M.T. (2009): Von Haiti bis Wladiwostok. Eine Weltkarte der
Krise. Le Monde Diplomatique, Ausgabe v. 8.5.2009.
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/05/08.mondeText.artikel,a0022.idx,21

27 Sachs, W. (2010) : Von Doha nach Rom, Genf und Kopenhagen -- wie geht
es weiter mit dem internationalen Agrarhandel? Einführung.
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.

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