Donnerstag, 11. Februar 2010

Arbeitslosigkeit und Bundesverfassungsgericht

Hartz IV vor dem Bundesverfassungsgericht: Das Urteil

a) Regelleistungen nach SGB II ("Hartz IV- Gesetz") nicht verfassungsgemäß

„…Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die
Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder
betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen. Die Vorschriften bleiben bis
zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen
hat, weiter anwendbar. Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung auch einen
Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden,
nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II
Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht von den Leistungen nach
§§ 20 ff. SGB II erfasst wird, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist. Bis zur Neuregelung durch
den Gesetzgeber wird angeordnet, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der
Urteilsgründe unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20
Abs. 1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann. (…) Zur
Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen
Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten
Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu
bemessen. (…) Der Gesetzgeber ist ferner verpflichtet, bis spätestens zum
31. Dezember 2010 eine Regelung im SGB II zu schaffen, die sicherstellt,
dass ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf
gedeckt wird. Die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten, bei denen ein
derartiger Bedarf vorliegt, müssen aber auch vor der Neuregelung die
erforderlichen Sach- oder Geldleistungen erhalten. Um die Gefahr einer
Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in der
Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden Härtefallklausel zu
vermeiden, muss die verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab der
Verkündung des Urteils durch eine entsprechende Anordnung des
Bundesverfassungsgerichts geschlossen werden.“ Pressemitteilung des
Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zum Urteil vom 9. Februar
2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09
http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-005

b) Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09
- 1 BvL 3/09 - 1 BvL 4/09)

„1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen
diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische
Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in
seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden
Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen
eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss
eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen
Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen
an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden
Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein
Gestaltungsspielraum zu.
3. Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten
Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage
verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.
4. Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des
menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag
decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren,
laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen
Leistungsanspruch einräumen….“ Das Urteil vom 9.2.2010 im Wortlaut
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

c) Siehe dazu die (ersten) Kommentare:

1) Hartz-IV-Urteil: DGB fordert Programm gegen Verarmung

„Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat das Urteil des
Bundes­verfassungsgerichts zu den Regelsätzen von Hartz IV begrüßt.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte dazu am Dienstag in
Karlsruhe: „Dies ist ein guter Tag für die Kinder und Familien in
Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass Hartz
IV nicht armutsfest ist und die Regelsätze an die Lebenswirklichkeit
angepasst werden müssen. Wir fordern die Politik auf, jetzt rasch und in
einem transparenten Verfahren zu einer Anhebung der Regelsätze zu kommen.
Dazu schlägt der DGB eine unabhängige Kommission vor, über deren
Empfehlungen der Gesetzgeber entscheiden sollte – und nicht wie bisher
Ministerialbürokraten hinter verschlossenen Türen…“ DGB-Pressemitteilung
vom 09.02.2010
http://www.dgb.de/presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=3595

2) ver.di begrüßt Karlsruher Urteil zu Hartz-IV-Regelsätzen

„Als „gute Nachricht für Erwerbslose, Geringverdiener und deren Familien“
begrüßte Elke Hannack vom Bundesvorstand der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) das Bundesverfassungsgerichtsurteil,
wonach die Berechnung der Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig ist.
ver.di hatte eine der klagenden Familien im Rahmen des gewerkschaftlichen
Rechtschutzes in Karlsruhe vertreten. „Wir haben heute einen großen Erfolg
für unsere Mitglieder erzielt“, sagte Hannack…“ ver.di-Meldung vom
9.2.2010
http://presse.verdi.de/pressemitteilungen/showNews?id=ab0797fe-156b-11df-7d1a-0019b9e321e1

3) ‚Hartz IV’-Urteil: Betroffenenverband fordert weitergehende Änderungen

„Die Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen e.V. als bundesweite
Interessenvertretung von Armut und Ausgrenzung betroffener Menschen
begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für eine Neufestsetzung
der ‚Hartz IV’-Regelsätze. Gleichzeitig warnt der Dachverband unabhängiger
Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen vor einer generellen
Diskriminierung auf ‚Hartz IV’-Leistungen angewiesener Menschen und einer
indirekten Absenkung der Regelleistung durch die Vergabe von Gutscheinen…“
Pressemitteilung der BAG Prekäre Lebenslagen e.V. vom 09.02.2010 (pdf)
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/bvg_bag.pdf

4) Größtmögliche Ohrfeige

„Die Art, wie Rot-Grün unter kräftiger Mithilfe von Union und FDP den
angeblichen "Bedarf" angeblicher Menschen berechnet haben, verstößt
eklatant gegen das Grundgesetz. Und zwar nicht gegen irgendeinen hinteren
Artikel, sondern gegen den wichtigsten Satz unserer Verfassung überhaupt:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das ist die größtmögliche
Ohrfeige für Hartz IV. Und jeder, der die Willkür der Politik beim
Abspeisen der Arbeitslosen mit zurechtgetricksten "Regelsätzen" für einen
Skandal gehalten hat, darf sich bei unseren höchsten Richtern bedanken.
(…) Dazu gehörte - in der Theorie - auch eine materielle Ausstattung, mit
der man sich nicht vor der Gesellschaft verstecken muss. Jetzt, endlich,
muss die Politik dieses Versprechen einlösen. Es bleibt ein Skandal, dass
es dazu dieses Urteils bedurfte…“ Kommentar zum Hartz-IV-Urteil von
Stephan Hebel in der FR online vom 9.2.2010
http://www.fr-online.de/top_news/2290185_Kommentar-zum-Hartz-IV-Urteil-Groesstmoegliche-Ohrfeige.html

II. Diskussion > (Lohn)Arbeit: Realpolitik > Hartz IV > Leistungen und
Auswirkungen

a) Regelleistung und Menschenwürde

Berechnung von Reinhold Schramm vom 09.02.2010 (pdf)
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/schramm_regel.pdf

b) IG Metall: Für ein sozialstaatliches Leistungsrecht statt Hartz IV!

„Auch wenn viele Faktoren zur aktuellen Lage auf den Arbeitsmarkt
beigetragen haben, ist nach fünf Jahren deutlich: Hartz IV hat keinen
nachhaltigen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit geleistet, es hat die
vorhanden Probleme verschärft und neue geschaffen. Hartz IV ist eine
Zumutung für die Betroffenen und Türöffner für Lohndumping! Leistungen
müssen bedarfsgerecht gestaltet, Zumutungen müssen beendet werden.
Notwendig ist ein Schutz vor Lohndumping. Ein Abrutschen in Hartz IV muss
vermieden werden. Fazit: Wir brauchen einen arbeitsmarktpolitischen
Neustart…“ Diskussionspapier vom IG Metall Vorstand FB Sozialpolitik vom
04.02.10

Kurzfassung (pdf)
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/100209_hartz_IV_kurzfassung.pdf

Langfassung (pdf)
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/100209_hartz_IV_langfassung.pdf

Siehe dazu auch:

So wollen wir leben! Das bedingungslose Grundeinkommen ein Top-Thema in
der IG Metall-Befragung

„Mit der Kampagne Gemeinsam für ein gutes Leben verbindet sich mit 450.000
TeilnehmerInnen die größte Befragung, die Gewerkschaften je gemacht haben.
Gefragt wurde danach, was die Mitglieder, die Beschäftigten im
Organisationsbereich der IG Metall, die Menschen in Deutschland denken und
fordern, wenn es darum geht, ein sicheres und gutes Leben zu führen. (…)
Leider ignorierte die IG Metall-Führung die Forderung nach einem
bedingungslosen Grundeinkommen: „Für die Hartz-IV-Bezieher und
-Bezieherinnen sind die Regelsätze auf den von den Wohlfahrtsverbänden
geforderten Betrag von 440 Euro zu erhöhen.“ (S. 16) Mit diesen
Forderungen wird nicht nur der Ruf der Mitglieder nach einem
Grundeinkommen ignoriert. Selbst ein möglicher Schritt dahin durch eine
individuell garantierte und armutsfeste Grundsicherung (Regelsatz
mindestens 500 Euro), die prinzipiell sanktionsfrei ist, wird nicht in den
Forderungskatalog der IG Metall-Führung aufgenommen…“ Artikel von Ronald
Blaschke vom 31.01.10 beim Netzwerk Grundeinkommen
http://www.grundeinkommen.de/31/01/2010/so-wollen-wir-leben-das-bedingungslose-grundeinkommen-ein-top-thema-in-der-ig-metall-befragung.html

III. Diskussion > (Lohn)Arbeit: Realpolitik > Grundsätzliches zur
aktuellen Sozialpolitik

a) Der verachtete Sozialstaat

„In deutschen Feuilletons wird plötzlich wieder gefragt, ob unser
Sozialstaat denn überhaupt zum Status freier Bürger passt und ob er wohl
noch zu rechtfertigen sei. Man will ihm an die Wurzeln. Debattiert wird,
als hätte er keine Geschichte…“ Text der Sendung von Thomas Meyer im
Deutschlandradio
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1119768/

b) Wie die Grundlagen unseres Sozialstaates zerfallen

„Die weltweite Wirtschaftskrise und ihre Folgen für den deutschen
Arbeitsmarkt stehen derzeit im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion.
Alle Signale werden vor allem auf Wachstum und weiteren Strukturwandel
gestellt. Dabei werden die negativen Folgen fortschreitender
Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt, von
Stellenabbau, Einkommenskürzungen, Verschlechterung von
Arbeitsbedingungen, für die Produktivität, Innovation und soziale
Sicherheit häufig ausgeblendet…“ Artikel von Walter Edenhofer bei den
Nachdenkseiten
http://www.nachdenkseiten.de/?p=4472

c) "Der Rückblick auf die Alten macht einfach schlauer"

„Das Thema Gerechtigkeit spielt momentan in unserer Gesellschaft eine
große Rolle. Gerechtigkeit wird bei den Verwerfungen der kapitalistischen
Wirtschaft vehement eingefordert, aber kaum einer kann genau erklären, um
was es sich dabei überhaupt handelt. Gerechtigkeit scheint emotional ein
sehr starker Begriff und analytisch eine recht verschwommene Kategorie zu
sein. In seinem neuesten [extern] Buch "Tschüss ihr da oben. Vom baldigen
Ende des Kapitalismus" hat sich der Journalist und Philosoph Peter Zudeick
neben einer Beschreibung der politischen und sozialen Widersprüche im
gegenwärtigen Crashkapitalismus sowie Vorschläge zu deren Lösung dem
gerechtigkeitstheoretischen Diskurs von Aristoteles bis zu John Rawls
gewidmet und versucht, das ideologische Knäuel zu entwirren…“ Interview
mit dem Philosophen Peter Zudeick über Gerechtigkeit von Reinhard Jellen
in telepolis vom 10.01.2010
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31761/1.html

Aus dem Text: „…Und damit komme ich auf meinen Lieblingssatz: Es ist nicht
die individualpsychologische Verfasstheit von einzelnen Akteuren, sondern
das System, an dem es mangelt. Auf der einen Seite ermöglicht, ermuntert
und honoriert das System diese raffgierige und verantwortungslose Art des
Wrtschaftens, während auf der anderen Seite der Hartz-IV-Empfänger mit
allem haftet, was er hat, obwohl er unverschuldet in
Langzeitarbeitslosigkeit gekommen ist. Wenn das keine schreiende
Ungerechtigkeit ist, weiß ich überhaupt nicht mehr, was wir mit dem
Begriff anfangen sollen….“

IV. Diskussion > (Lohn)Arbeit: Realpolitik > Arbeitsamt und Arbeitszwang >
Bundesanstalt für Arbeit - Agentur wofür? > Jobcenter-Reform auch ohne das
kooperative Jobcenter

a) Debatte um Verfassungsänderung: Bundesagentur für Arbeit hat Plan B für
Jobcenter

„Die Union ist sich zwar einig, für eine Reform der Jobcenter das
Grundgesetz zu ändern. Behördenvorstand Alt fährt dennoch zweigleisig, wie
er der FTD sagte - denn die Sozialdemonkraten stellen Bedingungen…“
Artikel von Maike Rademaker und Thomas Steinmann in der FDT vom 9.2.2010
http://www.ftd.de/politik/deutschland/:debatte-um-verfassungsaenderung-bundesagentur-fuer-arbeit-hat-plan-b-fuer-jobcenter/50071566.html

b) Aktion mit "verfassungsrechtlichen Risiken". Neuordnung der Argen als
Sprengstoff für die "Grundsicherung für Arbeitssuchende"

„Vorwärts, wir müssen zurück. Nach diesem Motto reformiert derzeit die
Politik die Arbeitsmarktreform Hartz IV. "Die Zusammenführung der
unterschiedlichen Kompetenzen birgt enorme Chancen für eine ganzheitliche
Betreuung, hat allerdings auch aufwändige personelle und organisatorische
Findungsprozesse zur Folge", handele es sich doch um einen "rechtlich sehr
komplexen Prozess", war 2005 in einer Broschüre des damaligen
Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit zu lesen. Wie rechtlich
komplex dieser Prozess der Zusammenlegung von Arbeitsagenturen und
Kommunen wirklich war, hatte damals im Hause von Arbeitsminister Wolfgang
Clement (SPD) freilich niemand erkannt…“ Artikel von Rudolf Stumberger in
telepolis vom 26.01.2010
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31969/1.html

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