Rosarno, Europa
Mimmo
Rosarno ist eine Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern in der Piana di Gioia Tauro
in der Provinz Reggio Calabria. Am 7. Januar werden hier drei vom Feld
zurückkehrende afrikanische Immigranten, die wegen der Zitrusfruchternte da
sind, darunter ein Asylbewerber aus Togo, von drei »hiesigen Jungs«
angeschossen. Hunderte von MigrantInnen, unterbezahlten saisonalen
LandarbeiterInnen, die unter katastrophalen Bedingungen in zwei stillgelegten
Fabriken und in verlassenen Bauernhäusern wohnen und permanent Opfer von
Aggressionen und Übergriffen werden, gehen in Rosarno auf die Straße und
lassen ihre Wut an Autos und Müllcontainern aus. Die Polizei greift ein. Zwei
Tage lang kommt es zu Auseinandersetzungen mit den kalabrischen Bürgern, die
die ImmigrantInnen zum Teil weiter verprügeln und beschießen und auf den
Feldern Menschenjagden veranstalten.
Am 9. Januar werden 1300 AfrikanerInnen (Regulären1 wie Irregulären) vom Staat
in sogenannte Identifikations- und Abschiebezentren (CIE)2 in Crotone und
Bari deportiert; andere verlassen die Stadt auf eigene Faust und gehen vor
allem nach Neapel und in die norditalienischen Städte. Alle müssen Rosarno
ohne Lohn für die bisher geleistete Arbeit verlassen. Andere verstecken sich
weiter auf den Feldern in der Piana und setzen die Zitrusfruchternte fort,
die noch bis März geht. Insgesamt werden 66 Verletzte gezählt (30
ImmigrantInnen, die teilweise Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen
bekommen, 17 Ortsansässige und 19 Polizisten), sieben ImmigrantInnen und drei
Rosarneser werden festgenommen. Hundert irreguläre ImmigrantInnen werden aus
den CIE in Bari und Crotone abgeschoben.
Wie sich herausstellt, waren die lokalen 'Ndrangheta3-Clans an der Geschichte
beteiligt: Zu den während der Auseinandersetzungen festgenommenen Rosarnesern
gehört auch der Sohn eines lokalen Bosses, und die als »Negerjäger« auf den
Feldern eingesetzten jungen Männer sollen Handlanger der Clans sein. Dazu
gibt es verschiedene Theorien: Die Clans hätten die Wut der Rosarneser
ausgenutzt und sich schließlich zu Verteidigern der Einwohner aufgeschwungen;
oder aber die Clans hätten die Revolte absichtlich inszeniert, nachdem sie
einige Tage zuvor ein massives Attentat auf die Staatsanwaltschaft von Reggio
Calabria verübt hatten, und zwar genau an dem Tag, als die Minister Maroni4
und Alfano5 in Reggio neue Maßnahmen gegen die 'Ndrangheta ankündigen.
Anscheinend kontrollieren die 'Ndrine (die 'Ndrangheta-Clans) die
Saisonarbeit der ImmigrantInnen und die Kapos nicht direkt. Allerdings
kontrollieren sie faktisch die Wirtschaft der Piana (in Rosarno wurden 52
Grundstücke der 'Ndrinen beschlagnahmt), und es ist kaum vorstellbar, dass
sie nicht beteiligt gewesen sein sollen.
Am 10. Januar organisieren einige EinwohnerInnen von Rosarno eine
Demonstration gegen den Vorwurf des Rassismus, auf der sie behaupten, sie
würden mit den MigrantInnen »seit 20 Jahren zusammenleben«. Die Demo sagt
aber nichts gegen die Gewalt gegen die MigrantInnen in den vorherigen Tagen
und muss sich ein unklares Verhältnis zur 'Ndrangheta vorwerfen lassen.
Gerade Rosarno war in den 50er und 60er Jahren Schauplatz von
LandarbeiterInnenkämpfen für Arbeit und dann ab den 70er Jahren gegen die
Mafia. Nach einem Wahlsieg der Kommunistischen Partei wurde 1980 Giuseppe
Valarioti, ein im Kampf gegen die Clans engagierter lokaler Parteiführer,
ermordet. Giuseppe Lavorato, ein Genosse von Valarioti, der dann von 1994 bis
2003 Bürgermeister war, führte das Engagement gegen die Mafia fort und wurde
auch zum Ansprechpartner für die saisonalen ImmigrantInnen.6 Seit 2008 wurde
die Kommunalverwaltung von Rosarno aber wie in vier weiteren Nachbargemeinden
wegen Unterwanderung durch die Mafia aufgelöst und einer kommissarischen
Verwaltung unterstellt. Die 'Ndrangheta hat die Kontrolle über Stadt und Land
zurückgewonnen.
Überrascht sein kann eigentlich niemand über die Ereignisse von Rosarno. Die
Situation der SaisonarbeiterInnen von außerhalb der EU in der Zitrusernte und
die landwirtschaftliche Ökonomie der Piana di Gioia Tauro im allgemeinen
wurde in den letzten Jahren bereits in vielen Recherchen und Untersuchungen –
von Forschern, Journalisten, Gewerkschaftern und NGOs, aber auch von Teilen
der Institutionen – beschrieben und aufgezeigt.7
Zu den schiefen und widersprüchlichen Mechanismen dieser Ökonomie gehört nicht
nur der Einsatz von irregulären ImmigrantInnen. Viele Betriebe produzieren
Obst nicht für den Markt oder für die Weiterverarbeitung, sondern von
vornherein für die Vernichtung, um Gelder, vor allem EU-Gelder, zu kassieren;
meist läuft das über Betrug und gefälschte Rechungen. Eine andere bekannte
Masche sind die »falschen Tagelöhner«: Leute, die in Absprache mit (echten
oder angeblichen) Firmen angeben, sie hätten 51 oder 101 Tage im Jahr
gearbeitet, und dafür Arbeitslosengeld, Mutterschaftsgeld usw. kassieren.
Nach Angaben des Istituto nazionale di economia agraria (INEA) gibt es in der
Gegend 1500 falsche LandarbeiterInnen; andere Schätzungen gehen von bis zu
7000 aus. Da es tausende von (falschen) Arbeitslosen gibt, werden auch
kaum »Quoten« für SaisonarbeiterInnen von außerhalb der EU im Rahmen der
jährlich von der Regierung festgesetzten Kontingente vergeben. 2005 wurden
der ganzen Region Kalabrien nur 400 SaisonarbeiterInnen zugestanden; 2007
waren es immerhin 6400. Auch wenn der »Quoten«-Mechanismus in Norditalien mit
mäßigem Erfolg eingesetzt wird (etwa in der Apfelernte im Trentino und in der
Weinlese im Piemont), enthält er doch verschiedene Widersprüche (etwa die
verspätete Ankunft der SaisonarbeiterInnen), deren Darstellung hier zu weit
führen würde.
Die Gewerkschaft CGIL, die seit Jahren die Situation beklagt, schätzt, dass es
2007 20 000 irreguläre gegenüber 6400 regulären SaisonarbeiterInnen in der
ganzen Region gegeben habe. Es wird geschätzt, dass jedes Jahr 8000 bis
15 000 Irreguläre zur Zitrusernte in die Piana di Gioia Tauro kommen, allein
nach Rosarno zwischen 1500 (Fondazione Field)8 und 4000 (MSF)9. Laut INEA10
werden sie vor allem in den mittelgroßen Betrieben (kleiner als 20 ha)
beschäftigt, während die großen Betriebe keine EU-Ausländer einstellten.
Ebenfalls laut INEA11 besitzt von den in der Zitrusernte (aber auch der
Tomaten-, Fenchel- und Olivenernte) in Kalabrien eingesetzten ImmigrantInnen
niemand einen regulären Arbeitsvertrag, und die Löhne betragen 16-20 Euro am
Tag für Frauen und 20-25 Euro am Tag für Männer (für normalerweise 250 Kilo
Tomaten am Tag) im Vergleich zu einem tariflichen Lohn, der etwa 39 Euro am
Tag betragen sollte. Die Aussagen der ins CIE von Bari verlegten MigrantInnen
gegenüber einer Migreurop-Delegation am 15. Januar bestätigen diese Angaben
und beklagen ein Klima von Gewalt und Einschüchterung.
Auf der Suche nach Tagelöhnerarbeit stellen sich die MigrantInnen morgens an
den Straßen im Ort auf; andere werden direkt von den Kapos kontaktiert,
häufig Leute aus ihren eigenen Ländern, die sie auf den Feldern einteilen.
Der Kapo bekommt einen beträchtlichen Teil des Tageslohns (oftmals 5 von 25
Euro). Im Mai 2009 wurden drei Landwirtschaftsunternehmer aus Rosarno und
drei bulgarische Kapos unter dem Vorwurf festgenommen, einer Organisation zur
Ausbeutung meist aus Zentralafrika stammender illegaler EinwanderInnen für
die Zitrusernte anzugehören.
Bis in die 70er/80er Jahren wurde der Arbeitskräftebedarf zur Erntezeit durch
Tagelöhner, Hausfrauen, Rentner und Schüler aus dem Ort oder der Gegend
gedeckt; diese wollen nicht mehr arbeiten, weil sie den Tageslohn zu niedrig
finden. Die Landwirtschaftsunternehmer wiederum sagen, sie könnten keine
höheren Löhne zahlen, da der Preis der Zitrusfrüchte zu niedrig sei (in
diesem Jahr zwischen 12 und 22 Cent pro Kilo). Im übrigen werden die Märkte
für Agrarerzeugnisse und die Zitrusfruchtverarbeitung häufig von den Clans
der 'Ndrangheta kontrolliert, die die Preise festlegen.
Andere ArbeiterInnen, vor allem Frauen aus Osteuropa und Afrika, arbeiten
dagegen in der Weiterverarbeitung (z.B. beim Entkernen von Orangen für die
Saftherstellung) und werden im Akkord bezahlt (laut MSF12 bekommen sie 15
Cent pro Kilo, was einen Tagesverdienst von etwa 15 Euro bedeutet).
Letztlich entladen sich auf den Saisonarbeits-ImmigrantInnen alle Widersprüche
einer verzerrten Agrar-Ökonomie; durch die unterbezahlte (oder wie bei vielen
von denen, die im Januar 2010 aus Rosarno weggejagt wurden, gar nicht
bezahlte) Arbeit können die kalabrischen Betriebe sich auf einem Markt
halten, von dem sie ansonsten durch die Konkurrenz der spanischen und
nordafrikanischen Zitrusfrüchte verdrängt würden. Das aber verhindert, dass
der Sektor ernsthaft reformiert wird und sich moderner aufstellt.
Wer sind die MigrantInnen, die jedes Jahr von November bis März zur Orangen-
und Mandarinenernte in die Piana di Gioia Tauro kommen?
Als erste kamen in den 80er Jahren Maghrebiner; dann kamen Afrikaner aus dem
subsaharischen Afrika und in den letzten zehn Jahren schließlich Osteuropäer
hinzu (zuerst Polen, dann Rumänen, Bulgaren, Ukrainer), so dass schon von
einer »Verdrängung von Arbeitskräften« gesprochen wurde (die Osteuropäer
verdrängen die Afrikaner)13.
Es geht um MigrantInnen mit unterschiedlichen Geschichten. Laut
MSF-Untersuchung14 folgen einige den sogenannten »saisonalen Kreisläufen«:
Sie leben in Kampanien, wo sie im Winter und Frühling in den Treibhäusern
arbeiten; von Juli bis September ziehen sie zur Tomatenernte weiter in die
Gegend von Foggia; dann ernten sie Oliven in Apulien oder Kalabrien; im
November kommen sie zur Zitrusernte in die Piana di Gioia Tauro und bleiben
bis Februar. Hierbei handelt es sich vor allem um afrikanische ImmigrantInnen
(aus Côte d'Ivoire, Ghana, Mali, Sudan, Äthiopien, Senegal, Nigeria, Burkina
Faso, Togo), die keine Aufenthaltserlaubnis haben oder einen Asylantrag
gestellt haben und, sobald sie die Aufenthaltserlaubnis bekommen, in andere
Teile Italiens oder Europas und in andere Beschäftigungssektoren gehen.
Andere kommen aus den Städten im Norden herunter, wo sie den Rest des Jahres
in der Fabrik oder auf dem Bau oder als Straßenhändler arbeiten. In diesem
Jahr hat die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit mehr ImmigrantInnen
wegen der Ernte in den Süden getrieben, was teilweise die Revolte vom 7.
Januar erklären könnte: Viele dieser ImmigrantInnen sind nämlich
Gewerkschaftsmitglieder und an eine größere Achtung ihrer Rechte bei der
Arbeit gewöhnt. Ein anderer Anstoß für die Revolte war möglicherweise die
Anwesenheit von MigrantInnen aus Castel Volturno in Kampanien, wo es schon im
Oktober 2008 eine Revolte gegen die Camorra-Clans gab, die sechs Afrikaner
ermordet hatten.
Andere in der Ernte beschäftige MigrantInnen kommen aus Osteuropa und haben
Familienangehörige oder Freunde in der Gegend wohnen. Sie kehren zu
Saisonende in ihre Heimatländer zurück.
Wenige wohnen dauerhaft in Rosarno, und zwar vor allem die OsteuropäerInnen.
Per 31.12.2008 waren nur gut 1000 AusländerInnen in Rosarno gemeldet (6,5%
der EinwohnerInnen gegenüber durchschnittlich 3,6% in der Provinz), 200
weniger als im Vorjahr. In den letzten zwei, drei Jahren sind vor allem die
MaghrebinerInnen aus Rosarno weggegangen, während der legale Aufenthalt von
Rumänen und Bulgaren zugenommen hat, auch aufgrund der EU-Osterweiterung.
Einige Beobachter haben darüber spekuliert, ob die verjagten Afrikaner jetzt
durch ArbeiterInnen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ausgeglichen werden, die
genauso billig sind, aber bei Kontrollen durch die staatliche
Arbeitsinspektion weniger Probleme machen.
Obwohl die Situation seit Jahren von verschiedenen Seiten beklagt wird, auch
von den MigrantInnen selbst, organisieren die lokalen Institutionen keinerlei
Unterküfte für die SaisonarbeiterInnen, es werden auch keine Lagerplätze oder
Zeltstädte eingerichtet. Die SaisonarbeiterInnen wohnen wie gesagt in
stillgelegten Fabriken und verlassenen Bauernhäusern ohne fließendes Wasser,
Strom oder sanitäre Anlagen. Nur Hilfsorganisationen haben im Laufe der Jahre
ihre Unterstützung angeboten, besonders Medici Senza Frontiere hinsichtlich
der Gesundheitsversorgung, die Associazione Omnia und andere haben sich um
Schlafsäcke oder warme Mahlzeiten gekümmert. Die Regierung hat zwar im
letzten Jahr Mittel für die Organisierung von Unterküften zur Verfügung
gestellt, aber diese wurden nicht abgerufen.
MSF15 wies schon auf die zahlreichen Fälle von Misshandlungen und gegen Frauen
gerichtete sexuelle Gewalt hin. So viele, dass die afrikanischen
Immigrantinnen schon in der letzten Erntesaison im Dezember 2008 eine
Protestdemonstration in Rosarno organisierten, nachdem zwei Ivorer von
örtlichen Jugendlichen mit Schüssen verletzt worden waren.
Die Ereignisse von Rosarno von Januar 2010 stellen also nichts Neues dar. Sie
tragen höchstens dazu bei, Licht auf Prozesse und Mechanismen der
Migrationsarbeit in der italienischen und europäischen Landwirtschaft zu
werfen. Immer mehr ImmigrantInnen in Europa arbeiten in der Landwirtschaft
und vor allem in den saisonalen Erntekampagnen, wie unter anderem eine
Ausgabe der französischen Zeitschrift Études rurales (Nr. 182/2009) gezeigt
hat, die den saisonalen ArbeitsmigrantInnen in der europäischen
Landwirtschaft gewidmet war. Polen in Deutschland, Frankreich und Italien,
Rumänen in Deutschland, Spanien und Italien, Maghrebiner in Spanien,
Frankreich und Italien, subsaharische Afrikaner in Italien; Lateinamerikaner
in Spanien und Frankreich. INEA16 schätzt, dass in der italienischen
Landwirtschaft 170 000 Ausländer arbeiten, drei Viertel davon
SaisonarbeiterInnen.
In vielen landwirtschaftlichen Zentren Süditaliens sieht die Situation ähnlich
aus wie in Rosarno: Häufig sind praktisch sämtliche ArbeiterInnen irregulär.
In Norditalien spielt die Irregularität ebenfalls eine Rolle, aber eine
begrenztere, laut INEA etwa 10-15%.17 In anderen Teilen Europas spielt die
Irregularität eine geringere Rolle, weil es verschiedene von Land zu Land
unterschiedliche saisonale Verträge gibt, mit denen Arbeitskräfte in formalem
Rahmen angeworben werden.
Wie die Untersuchungen von Alessandro Leogrande18 und Anselmo Botte19 gezeigt
haben, gibt es das Kaposystem auch in anderen Teilen des Südens, z.B. in
Apulien und in Kampanien. Hinsichtlich der Tomatenernte in der Provinz Foggia
fand 2007 und 2008 der erste Strafprozess in Europa gegen das transnationale
Kaposystem statt, nachdem die Antimafia-Staatsanwaltschaft (DDA) in Bari
gegen Menschenhändler ermittelt hatte, die polnische MigrantInnen in Apulien
in Halbsklaverei gehalten hatten.
Es ist auch nicht neu, dass diese ImmigrantInnen in stillgelegten Fabriken und
baufälligen Bauernhäusern schlafen. Im Süden wird ganz einfach nichts für die
Unterbringung der ausländischen SaisonarbeiterInnen getan: In Kalabrien wie
in der Basilicata, in Sizilien, Apulien und Kampanien wohnen sie zu
zehntausenden unter katastrophalen Bedingungen. Ganz selten werden sie von
Unterkünften unter der Leitung von Institutionen oder Hilfsorganisationen
(wie in Alcamo in Sizilien oder in Palazzo San Gervasio in der Basilicata)
aufgenommen, und diese sind fast immer mangelhaft und unzureichend. Diese
Unterkünfte sind einer der Gründe für ihre Ausbeutung, da sie faktisch den
Kontakt mit der lokalen Bevölkerung verhindern.
Seit Jahren kommt es immer wieder zu Gewalt gegen ImmigrantInnen, die in der
Landwirtschaft arbeiten. 1989 wurde in Villa Literno (Caserta) der
Südafrikaner Jerry Masslo ermordet. Ebenfalls in Villa Literno legten die
Camorra-Clans 1994 Feuer in einem von hunderten von afrikanischen
ImmigrantInnen bewohnten Bauernhaus. In der Region Foggia sind in den letzten
Jahren dutzende von polnischen und rumänischen Tagelöhnern von Kapos ermordet
worden.20 In Cassibile (Siracusa) hat im Juni 2006 am Ende der Kartoffelernte
jemand Feuer in der Zeltstadt gelegt, in der die ArbeitsimmigrantInnen
lebten.
Zu gewalttätigen Übergriffen kam es nicht nur in Italien: In El Ejido in der
spanischen Region Almeria, einer landwirtschaftlichen Region mit tausenden
von Hektar Gewächshäusern, unternahm die lokale Bevölkerung ein tagelanges
Pogrom gegen marokkanischen ArbeiterInnen, die auf die Gewalt mit einem
Generalstreik antworteten. Als Reaktion auf den Streik heuerten die lokalen
Unternehmer ArbeiterInnen aus Osteuropa und Lateinamerika an.21
In dieser Situation lässt das Engagement der Gewerkschaften zu wünschen übrig,
wenngleich es einige Protestdemonstrationen (in Salerno am 25.9.2006, in
Foggia am 21.10.2006) und von der CGIL organisierte Mobilisierungen und
Kongresse gegen die Schwarzarbeit gab (im März 2009 in Rosarno selbst, im
August 2008 und 2009 in der Gegend von Foggia).
Eine letzte Anmerkung zur italienischen Migrationspolitik. Innenminister
Maroni (der von 2001 bis 2006 auch Arbeitsminister war) hat erklärt, Schuld
am »Niedergang« in Rosarno trage die Duldung der »illegalen Einwanderung«,
gegen die die Berlusconi-Regierung aber tätig werde. Das Instrument, mit dem
die italienischen Regierungen seit 2002 (seit dem sogenannten
Bossi-Fini-Gesetz) die Migrationsströme in der Landwirtschaft regeln, sind
wie gesagt die jährlichen Kontingentverordnungen, mit denen Region für Region
und Branche für Branche »Quoten« von Saison- wie anderen ArbeiterInnen
festgelegt werden. Die Quoten decken den Arbeitskräftebedarf aber nicht
vollständig, und vor allem im Süden hängt die Beschäftigung von irregulären
ImmigrantInnen mit den niedrigen Preisen der Produkte in der
Verarbeitungskette zusammen. Der verheerendste Aspekt dieses Gesetzes ist,
dass es die ArbeiterInnen ohne Aufenthaltserlaubnis völlig den Kapos und
Arbeitgebern ausliefert, sie daran hindert sich zu regularisieren oder
Anzeige zu erstatten (da sie die sofortige Abschiebung riskieren). So gesehen
ist die Irregularität kein Fehler im System, sondern im Gegenteil notwendig
und funktional für die Senkung der Produktionskosten und für die Kontrolle
über die Arbeitskräfte.
Den fortschrittlichsten Vorstoß auf institutioneller Ebene stellt
wahrscheinlich ein auf Druck von Regionalpräsident Vendola im Oktober 2006
erlassener Beschluss der Region Apulien dar, mit dem die Regularisierung der
irregulären Arbeit in der Landwirtschaft gefördert werden soll, indem
kommunale, nationale und regionale Mittel nur noch an
Landwirtschaftsunternehmer vergeben werden sollen, die beweisen können, dass
sie die Tarifverträge einhalten.
Das eigentlich Neue an den Ereignissen in Rosarno ist vielleicht die Tatsache,
dass die ausländischen ArbeiterInnen, vor allem aus Afrika, die Übergriffe
und Diskriminierungen nicht mehr hinnehmen. Ihre Empörung hatte sich schon im
Dezember 2008 öffentlich in Rosarno und im Oktober 2008 in Castel Volturno
gezeigt. Diesmal war die Wut zerstörerischer. Und es stellt sich die Frage,
was während der bevorstehenden Erntekampagnen in Villa Literno, in der Piana
del Sele und in Foggia passieren wird ...
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Redaktion Wildcat
www.wildcat-www.de
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