Donnerstag, 28. Oktober 2010

Politik und Internationale Sicherheit

IMI-Analyse 2010/037
Planspiel Pol&IS
Bundeswehrwerbung im Wolkenkuckucksheim – oder: wie Militär spielerisch
unverzichtbar gemacht wird
http://www.imi-online.de/2010.php?id=2188
http://imi-online.de/download/IMI-Analye2010-37-POLISa.pdf
25.10.2010, Jürgen Wagner


Mitte Oktober 2010 ergab sich für eine Gruppe Friedensaktivisten
erstmals die Möglichkeit, die Simulation „Politik und Internationale
Sicherheit“ (Pol&IS) zu spielen, deren Regelwerk und Funktionsweise
außerhalb einiger knapper Beschreibungen nicht öffentlich zugänglich
sind. Da man deshalb bislang hauptsächlich auf Sekundärquellen
angewiesen war, bot sich nun an drei Tagen im sauerländischen Winterberg
eine Gelegenheit, sich ein genaueres Bild von der Simulation machen zu
können, mit der die Bundeswehr ihre Sicht auf die Zusammenhänge von
Wirtschaft, Politik und Sicherheit (der Begriff Krieg wird tunlichst
vermieden) vor allem an Schüler der gymnasialen Oberstufe vermittelt.

Das wichtigste Fazit gleich vorweg: Das Spiel zielt keineswegs plump
darauf ab, das Militär oder bewaffnete Eingriffe vorbehaltlos
hochzujubeln.[1] Auf den ersten Blick spielt das Militär eine eher
untergeordnete Rolle – und das ist auch gewollt; politische, ökonomische
und ökologische Aspekte stehen im Vordergrund. Die Etablierung eines
globalen Gleichgewichts, das letztlich zugunsten aller ist, wird als
Ziel des Spiels ausgegeben. Um dies zu verwirklichen, werden die
Teilnehmer von den Jugendoffizieren, die als Seminarleitung fungieren,
zu allerlei Maßnahmen ermutigt, die sich beim besten Willen nicht
kritisieren lassen – sie reichen von der Etablierung gerechterer
Verteilungsmechanismen in der Weltwirtschaft bis hin zu ökologischen
Umbaumaßnahmen und selbst Abrüstung wird (bis zu einem gewissen Grad
versteht sich) gefördert: "Die Teilnehmer der Simulation sind gefordert
ihren Weg zu beschreiten in eine Welt, die sie selber gestalten. -
Create your own world."[2]

So entsteht fast der Eindruck, man sitze in einem Attac-Seminar und
genau dies macht das Spiel so gefährlich, denn eben dies erschwert es
schließlich erheblich, das Spiel pauschal in Bausch und Bogen zu
verdammen. Doch bei näherer Betrachtung steckt der (Bundeswehr-)Teufel
im Detail. Abseits unzähliger kleinerer Dinge, die sauer aufstoßen[3],
sind vor allem zwei Aspekte besonders hervorzuheben. So gibt es zwar
großen Spielraum eine friedlichere, ökologischere und gerechtere Welt zu
schaffen, weshalb dies in der realen Welt jedoch nicht geschieht und
welche Kräfte hierfür verantwortlich sind, lässt man dabei
geflissentlich unter den Tisch fallen – und das in einem Spiel, das
erklärtermaßen den Anspruch erhebt, die Welt möglichst realistisch zu
simulieren.

Außerdem trügt natürlich der erste Eindruck gewaltig, bei Pol&IS handele
es sich fast um ein pazifistisches Spiel. Denn ungeachtet des komplexen
und diffizilen Regelwerks verfügen die Jugendoffiziere über nahezu
vollkommene Freiheiten mittels willkürlicher – weil nirgends im
Regelwerk fixierter – Belohnungen und Bestrafungen "richtige" Schritte
der Spieler zu forcieren bzw. "falsche" Maßnahmen zu sanktionieren. So
lässt sich ein Korridor akzeptablen Handelns vorgeben, in dem letztlich
auch das Militär und speziell die Bundeswehr eine wenn auch nicht
zentrale so – und das ist die Kernbotschaft – doch unverzichtbare Rolle
spielt.

Aus diesen Vorbemerkungen wird bereits ersichtlich, dass Pol&IS mit dem
Argument, es sei offen militaristisch bei weitem nicht beizukommen ist,
weshalb im Folgenden versucht werden soll, eine etwas differenziertere
Kritik zu formulieren. Zuvor soll jedoch herausgearbeitet werden,
weshalb solche Werbemaßnahmen für die Bundeswehr immer weiter an
Bedeutung gewinnen.


1. Warum Pol&IS?

Die Bundeswehr sieht sich derzeit – auch nach eigener Einschätzung –
einer doppelten Herausforderung ausgesetzt. Sie steht vor einem
Akzeptanzproblem und einem Rekrutierungsproblem. So werden die
Auslandseinsätze der Bundeswehr aufgrund wachsender Opferzahlen und
Kosten mittlerweile von einer stabilen Mehrheit der deutschen
Bevölkerung abgelehnt – dies gilt im Übrigen eben nicht nur für den
Krieg in Afghanistan, sondern für nahezu sämtliche Einsätze.
Gleichzeitig sollen aber offensichtlich sowohl Zahl als auch Umfang der
Bundeswehreinsätze weiter erhöht werden. Aktuell befinden sich etwas
über 7.000 Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz, womit die Truppe laut
eigenen Aussagen an ihre Grenzen stößt. Mit der nun anstehenden "Reform"
der Bundeswehr soll die künftige Zielgröße dennoch auf mindestens 10.000
hinaufgeschraubt werden.[4] Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen,
dass die Ablehnung von Auslandseinsätzen weiter zunehmen dürfte und
allein schon deshalb eine Imagekampagne dringend erforderlich sein wird.

Erschwert wird diese Situation aus Sicht des Verteidigungsministeriums
noch dadurch, dass dem steigenden Bedarf nach Rekruten, die es gilt in
Auslandseinsätze zu schicken, eine sinkende Bereitschaft sich beim Bund
zu verpflichten entgegenläuft. Verschiedene Faktoren tragen hierzu bei,
von dem sich abzeichnenden demografischen Knick bis hin zur Tatsache,
dass die Risiken und Zumutungen, die mit den zunehmenden
Auslandseinsätzen verbunden sind, die Bundeswehr für immer weniger
Jugendliche zu einem attraktiven Arbeitgeber machen. Weiter erschwert
wird dies durch die sich abzeichnende Aussetzung der Wehrpflicht, die
bislang ein wesentliches Mittel war, um an neue Soldaten zu gelangen.
Angesichts dieser Schwierigkeiten an Nachwuchs zu gelangen, hat die
Bundeswehr mit unzähligen Rekrutierungs- und Werbemaßnahmen begonnen und
ihre Aktivitäten und Ausgaben in diesem Bereich in jüngster Zeit
erheblich ausgeweitet – Pol&IS ist nur eine davon, allerdings eine
wichtige.[5] So heißt es im aktuellen Jugendoffizier-Bericht: "Die
Simulation 'Politik & Internationale Sicherheit' (POL&IS) galt auch 2009
weiterhin sowohl bei den Jugendlichen als auch in der Lehrerschaft als
hochattraktiv und wurde entsprechend nachgefragt. Mit 365 mehrtägigen
Simulationen und 16.120 teilnehmenden Schülern und Lehrern sowie
Studenten und Referendaren sind die Kapazitäten der POL&IS-Seminare voll
ausgeschöpft. […] So kann erneut festgehalten werden, dass POL&IS ein
wesentliches Kernstück in der Arbeit der Jugendoffiziere ist und bleibt."[6]

Die Bundeswehr steht also unter einem erheblichen Legitimationsdruck,
ihre zunehmenden Auslandseinsätze gegenüber der Öffentlichkeit zu
rechtfertigen und gleichzeitig die "Bedarfsdeckung" frischer Rekruten zu
gewährleisten. Vor diesem Hintergrund leitet sich das Aufgabenprofil von
Pol&IS ab: Akzeptanzsteigerung durch Überzeugung von der
Unverzichtbarkeit der Bundeswehr, ohne gleichzeitig durch allzu offen
militaristisches Auftreten ohnehin vorhandenen Vorbehalten in der
Bevölkerung weiter Vorschub zu leisten.


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Kasten: Pol&IS – ein Kurzüberblick

Die Zielgruppe von Pol&IS sind vor allem Schülerinnen der gymnasialen
Oberstufe. Es wird aber auch mit Lehrern, Studenten und anderen Gruppen
gespielt, wodurch sich der Wirkungskreis erheblich vergrößert.
Entwickelt wurde Pol&IS von dem Politikprofessor Wolfgang Leidhold, der
die Rechte an dem Spiel 1989 an die Bundeswehr abtrat. Durchgeführt wird
POL&IS stets von zwei der insgesamt derzeit 94 Jugendoffiziere, deren
generelle Aufgabe es ist, über die Politik der Regierung in Bezug auf
die Armee zu informieren und sie zu legitimieren. Direktes Rekrutieren
ist den Jugendoffizieren offiziell verboten, hierfür sind die
Wehrdienstberater zuständig. Allerdings wäre es naiv zu glauben, die
Jugendoffiziere würden nicht für eine grundsätzlich positive Haltung
gegenüber der Militärpolitik sorgen, wodurch wiederum das Feld für
spätere Rekrutierungsbemühungen der Wehrdienstberater bestellt wird.

Die Pol&IS-Welt ist in dreizehn Regionen aufgeteilt, in denen die Rollen
des Regierungschefs, Staatsministers (Militär), Wirtschaftsministers und
Umweltminister von Spielern übernommen werden (die Opposition spielt,
soweit ersichtlich, eher eine untergeordnete Rolle). Darüber hinaus sind
auch Nichtstaatliche Organisation wie z. B. Greenpeace oder Amnesty
International sowie die Weltbank, die Weltpresse und die Vereinten
Nationen (in Form des Generalsekretärs) eingebunden.

Es gibt je einen Umwelt-, Wirtschafts-, und Militärbereich. Im Zentrum
des Wirtschaftsbausteins steht die Versorgung der eigenen Bevölkerung,
wofür die Produktion in den Sektoren Energie, Rohstoffe, Industrie und
Agrar gesteigert werden muss. Unterversorgungen müssen über den
Weltmarkt gedeckt werden. Wirtschaftswachstum erzeugt wiederum
Verschmutzung, die durch Investitionen in Umweltmaßnahmen abgeschwächt
werden muss – oder man verschifft den Müll in eine der ärmeren Regionen.
Der Militärbereich spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle, da
zwischenstaatliche Kriege gemäß der Spielmechanik äußerst kostspielig
und wenig "profitabel" sind.

Während Militär, Ökologie und Ökonomie nach festen Regeln funktionieren,
werden im politischen Bereich Programme entworfen, die Maßnahmen in
nahezu jedem Politikbereich beinhalten können. Die Bewertung dieser
Programme in Form eines Bonus oder einer Sanktion obliegt den leitenden
Jugendoffizieren, die hierüber einen massiven Gestaltungsspielraum
haben, indem sie Anreize für aus ihrer Sicht "richtige" Maßnahmen geben
können.

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2. Weltpolitik bar jeglicher Realität

"'Das Hungerproblem in der dritten Welt ist gelöst,' verkündet stolz der
Präsident Nordamerikas. 'Die Nationen der Welt haben in enger
Zusammenarbeit durch eine gerechte Umverteilung der Weltressourcen das
Überleben aller Menschen dieser Erde für die kommende Generation
gesichert.' Und seine Amtskollegin aus Westeuropa lobt in ihrer Rede
'das konstruktive Zusammenwirken der internationalen Staatengemeinschaft
bei der Lösung dieses Problems.'"[7]

Diese Meldung ist leider zu schön um wahr zu sein und tatsächlich
entstammt sie nicht der realen Welt, sondern einer der
Pol&IS-Simulationen. Wie bereits erwähnt, werden solche Lösungen
globaler Probleme von den Jugendoffizieren bis zu einem gewissen Grad
explizit gefördert. So wird aufgezeigt, wie sich Konflikte auch
nicht-militärisch lösen lassen könnten, wie wünschenswert gerechtere
wirtschaftliche Verteilungsmechanismen wären oder wie zwingend ein
ökologischer Umbau eigentlich sei.

Dabei wird durchaus nicht vor Kritik an existierenden Verhältnissen
zurückgeschreckt, wie sich beispielhaft anhand der Handelspolitik zeigen
lässt. Jedes Land verfügt bei mindestens einer der fünf Handelswaren
(Energie, Rohstoffe, Agrar- und Industriegüter, Müll) über einen
Überschuss bzw. eine Unterversorgung, die es über den Weltmarkt zu
decken gilt, um Wirtschaftswachstum zu erzeugen und die Grundversorgung
der Bevölkerung zu gewährleisten. Die „Handelsware“ Müll spielt
natürlich eine etwas andere Rolle, da dieser von Staaten, die zuviel
produzieren, an andere Staaten verkauft werden kann.

Am globalen Handelstisch, auf dem die Waren per Auktion verdealt werden,
haben Nordamerika, Europa und Japan zu Beginn einer solchen Handelsphase
nacheinander die Möglichkeit, mit den anderen Ländern zu handeln, ohne
dass jemand eingreifen könnte. Damit wird versucht, halbwegs realistisch
die existierenden unfairen Handelsbedingungen abzubilden, die sich dann
auch in der weiteren Auktion fortsetzen. Der Handel findet vor allem am
Kopf des Tisches statt, an dem Nordamerika, Europa und Japan sitzen. So
müssen ökonomisch und machtpolitisch schwächere Länder auch dort ganz
andere Preise bezahlen, um ihre Bedürfnisse decken zu können.

Das Spiel eröffnet – und ermutigt – jedoch friedenspolitisch,
wirtschaftlich und ökologisch weit über die heutigen miserablen Zustände
hinauszugehen, was es nicht zuletzt gegenüber Kritik immunisiert und
seine hohe Attraktivität bis hinein in linksliberalere Kreise ausmacht.
Wenn die Spieler nur eine bessere Welt wollen, so ist dies auch im
Rahmen gewisser von den Spielregeln bzw. Jugendoffizieren gesetzter
Grenzen möglich, so die Botschaft. "Generell haben wir in der
Pol&IS–Welt kein Versorgungsproblem, sondern ein Verteilungsproblem, wie
in der wirklichen Welt auch", so einer der Jugendoffiziere beim Seminar
in Winterberg. Als Positivbeispiel, wie diesem Problem begegnet werden
könnte, berichtete der Seminarleiter weiter, in einer seiner
Simulationen hätten die Spieler etwa entschieden, ihre sämtlichen
Ressourcen in die Mitte zu werfen und sich anschließend lediglich das
herauszunehmen, was sie benötigt hätten – das Verteilungsproblem wurde
somit adäquat adressiert, ein Schritt in eine bessere Welt war getan.

Soweit, so gut! Allerdings funktioniert dies nur, weil sich die Schüler
und Simulation eben nicht an der Realität orientieren: "Die Schüler
verfolgen nicht nationalpolitische Interessen, wie in der Wirklichkeit",
so war zu hören. Die Frage also, weshalb solche und andere
begrüßenswerte Schritte in der Realität nicht erfolgen, wird nicht
adressiert - nationalstaatliche Interessen, Machtpolitik und
kapitalistische Konzerninteressen, v.a. innenpolitische Lobbygruppen,
kurz: die Systemfrage wird ausgeblendet. Insofern verwundert es
natürlich nicht, dass auch für Strategien, wie die Widerstände auf dem
Weg zu einer sozialen, friedlichen und ökologischen Welt überwunden
werden können, keinerlei Raum existiert. Von einem Spiel der Bundeswehr
eine derart kritische Herangehensweise zu verlangen, ist womöglich
zuviel verlangt, in jedem Fall wird hierdurch aber der erklärte
Anspruch, weltpolitische Zusammenhänge möglichst wirklichkeitsnah zu
simulieren, ad absurdum geführt. "POL&IS heißt: Realitätsnah ein paar
Tage Weltpolitik zu spielen."[8] Genau dies geschieht bei Pol&IS jedoch
gerade nicht. Das Spiel entwirft vielmehr ein globales
Wolkenkuckucksheim, das mit den realen Gegebenheiten herzlich wenig
gemein hat.

Es fängt bereits bei einer der zentralen Grundannahmen an: das Spiel
basiert darauf, dass die Versorgung der Bevölkerung ausschließlich durch
Wirtschaftswachstum gewährleistet werden kann und – noch besser -, dass
es möglich sei, dies global für alle auch zu gewährleisten.
Konsequenterweise besteht die Aufgabe der Weltbank – der Internationale
Währungsfonds ist hier implizit integriert – ausschließlich darin, für
eine global sinnvolle Verteilung der Güter und Ressourcen zu sorgen,
ohne dass ihre tatsächliche Rolle in der Aufrechterhaltung globaler
Ungerechtigkeiten thematisiert würde. Welche mächtigen Lobbygruppen und
welche Mechanismen in der realen Welt dafür sorgen, die Hierarchie- und
Ausbeutungsstrukturen der Weltwirtschaft ad infinitum
aufrechtzuerhalten, findet keinerlei Erwähnung.

Die innenpolitische Opposition spielt ebenfalls kaum eine Rolle, wobei
auch interessant ist, dass diese für Europa laut Spielvorgabe nur
„konservativ“ oder „liberal“ sein kann. Das heißt „Soziale Bewegungen“,
die es direkt nicht gibt, erscheinen im Spiel lediglich als Streik oder
Aufstand wie ein schädliches Ereignis, nicht wie eine Chance auf
Umverteilung und demokratische Teilhabe von unten. Damit bildet das
Spiel aber ähnlich genau die Realität ab, wie wenn Monopoly gespielt
würde, um genau zu sein, sogar noch schlechter: "Bei Pol&IS gibt es
keine Gewinner oder Verlierer. Wie im echten Leben geht es darum, für
das Wohl der eigenen Region zu sorgen und gleichzeitig Mitverantwortung
für den Rest der Welt zu tragen."[9]

So kommen zwar erfreuliche, aber bedauerlicherweise vollkommen
unrealistische Meldungen wie die zu Anfang des Kapitels zustande. Sie
verdecken, welche Kräfte eine friedlichere, gerechtere und ökologischere
Welt verhindern und dass eine solche Welt erkämpft und durchgesetzt
werden muss – und zwar nicht am Verhandlungstisch, sondern zuallererst
auf der Straße.


3. Gestaltungsspielräume für die Unverzichtbarkeit des Militärs

Liest man die grob irreführende Beschreibung der Aufgaben der
Jugendoffiziere, so drängt sich der Eindruck auf, sie hätten lediglich
beratende Tätigkeit und würden für wenig mehr als die Einhaltung der
Spielregeln sorgen: "Um die Komplexität der Simulation zu strukturieren
und besser zu organisieren, ist der Ablauf in Phasen eingeteilt. Als
Simulationsleiter überwachen die Jugendoffiziere die Einhaltung dieser
Phasen, geben Anregungen und Hilfestellungen zu Problemlösung und
Hinweise zu den Spezifika der jeweiligen Phase."[10]

Insofern war die größte Überraschung des Winterberg-Seminars die
Erkenntnis, dass die Spielleiter – und im Falle von Pol&IS sind dies nun
einmal Jugendoffiziere und damit Militärs – über nahezu unbeschränkte
Befugnisse verfügen, in ihrem Sinne das Spiel zu lenken. Denn neben den
strikt im Regelheft festgehaltenen Wirkungsweisen von Ökonomie, Ökologie
und Militär gibt es sozusagen noch ein Spiel im Spiel. Die Spieler sind
gehalten, für nahezu jeden erdenklichen Bereich Programme zu entwerfen,
um aus ihrer Sicht vorteilhafte Entwicklungen anzustoßen. Hierfür werden
ein, zwei Ziele angeführt und Maßnahmen angegeben, wie diese Ziele
erreicht werden können. Die Spielleiter in Form der Jugendoffiziere
bewerten dann wiederum, ob das Programm "gut" oder "schlecht" ist und
vergeben auf dieser Grundlage Spielboni oder Sanktionen: „Es liegt im
Ermessen des Jugendoffiziers/Spielleiters, bei Programmen, die in den
Sand gesetzt wurden, zu sanktionieren oder nicht", so die Aussage auf
dem Seminar.

Es wäre naiv zu glauben, Jugendoffiziere könnten eine „neutrale“
Position einnehmen, sie werden stets – und dies verständlicherweise –
die Sicht des Militärs vermitteln, alles andere wäre ja grotesk.
Erscheint den Jugendoffizieren etwas als "falsch", so folgt also die
Sanktion auf dem Fuße. Hierdurch eröffnet sich den Jugendoffizieren die
Möglichkeit, das Geschehen in die "richtigen" Bahnen zu lenken: "Da
wollen wir natürlich gestalten" oder: das Ziel ist "gestaltend in die
Simulation einzugreifen", so die Aussagen auf dem Seminar. Entscheidend
ist, dass aus dem Regelheft nicht hervorgeht, nach welchen Maßgaben
"gestaltend" eingegriffen wird. Auf Nachfrage wurde bestätigt, dass es
hierfür keinerlei Vorgaben gäbe. Die Bewertung, was "gut" und "schlecht"
ist, erfolgt nach Gutdünken der Jugendoffiziere ohne ersichtlichen
Begründungsrahmen, also von Militärs mit einer bestimmten Weltsicht,
nämlich derjenigen der Bundeswehr, die sie ausgebildet hat.

Die Jugendoffiziere entscheiden damit letztinstanzlich darüber, welche
Maßnahmen und Schritte erfolgreich und damit "realistisch" sind und
welche eben nicht; sie geben damit den Grad des Akzeptablen vor. Zwar
wird etwa ein Auge zugedrückt, wenn abgerüstet wird, um Ressourcen zu
sparen, teils wird dies sogar ermuntert, zu weit dürfen solche Schritte
jedoch nicht gehen. Insgesamt wird die Pol&IS-Welt nämlich keineswegs
als besonders friedlicher Ort portraitiert: "Die nachlassende
Ordnungskraft von den Staaten führt zur Zunahme von Kriegen und
Konflikten - weltweit dauerhaft instabile Regionen drohen. Die Reaktion
auf diese Bedrohung bedarf eines neuen Mixes von robusten Fähigkeiten."[11]

Vor diesem Hintergrund ist es ausgeschlossen, dass alle Mitspieler auf
ihre Armeen verzichten, es ist in diesem Fall davon auszugehen, dass die
Spielleitung willkürlich Krisen und Konflikte entstehen lassen würde, um
solche Schritte zu sanktionieren. Hierfür lässt sich beispielhaft der
Afghanistan-Konflikt anführen. Die Spielleitung bewertete auf dem
Seminar das Programm eines Spielers, das eine Erhöhung der
Entwicklungshilfe, gleichzeitig aber auch den Verbleib der Truppen
vorsah, mit "gut". Begründet wurde dies folgendermaßen: "Die Soldaten
abziehen und hoffen, dass das dann funktioniert, das wird zu einfach
sein." Insofern hätte eine Erhöhung der Entwicklungshilfe bei
gleichzeitigem Truppenabzug vermutlich eine Sanktion nach sich gezogen.

Nicht zuviel Militär, aber auch keinesfalls zu wenig, das ist die
Botschaft, die von den Spielleitern mal mehr mal weniger subtil
transportiert wird. Sie können immer wieder Aufgaben einstreuen, die
gelöst werden müssen, um eine Sanktion in Form geringerer
Wirtschaftstätigkeit abzuwenden. Eine solche Aufgabe bestand auf dem
Seminar in Winterberg in der Bewältigung des Piraterieproblems vor der
Küste Somalias. Die Versorgung der Industriestaaten werde hierdurch
beeinträchtigt und gehe zurück – es bestehe Handlungsbedarf, so das
Szenario. Explizit erwähnt wird die Ursache des Konfliktes, nämlich das
leerfischen der Region durch westliche Fischkutter: "Seit über 20 Jahren
gibt es in Somalia keinen funktionierenden Staatsapparat. Bisher hat das
die internationale Gemeinschaft recht wenig gestört. Seit einiger Zeit
versuchen sich allerdings Mittellose als Piraten. Hierbei sind sie sehr
erfolgreich. Dies trifft besonders die Industrieregionen. Auffällig ist
hierbei, dass einige der gefassten Piraten aussagen, dass sie vorher
Fischer waren und aufgrund von chinesischem und europäischem Fischfang
keine Perspektive mehr sehen. Nordamerika und Japan verlieren 10
Polisdollar und China und Russland 5$ an Lösegeldern."

Belohnt wird dann, wenn der Spieler hierauf einerseits mit einer
Erhöhung der Entwicklungshilfe reagiert, um so die Konfliktursachen
anzugehen. Allerdings argumentierten die Jugendoffiziere weiter, dass
Entwicklungshilfe lange dauere bis sichtbare Erfolge zu verzeichnen
seien und auch unmittelbar "etwas getan" werden müsse. Ohne die
Entsendung von Kriegsschiffen gäbe es also unmittelbare Folgen für die
Wirtschaftsleistung der Industrienationen, so die Jugendoffiziere,
kurzfristig gäbe es dazu keine Alternative, auch wenn dies "tatsächlich
die Bekämpfung von Symptomen ist, das ist uns allen klar." Die ebenfalls
eingeforderte Ursachenbekämpfung erfolgt in der Realität jedoch nicht,
befragt, weshalb dies der Fall sei, antwortete einer der Jugendoffiziere
lediglich mit einem viel sagenden Schulterzucken, mehr gibt auch Pol&IS
zur Beantwortung dieser entscheidenden Frage leider nicht her.


Fazit

Pol&IS gelingt auf Grundlage von systemimmanenten und
herrschaftsorientierten Rahmenbedingungen ein schwieriger Balanceakt:
kritisch und bisweilen regelrecht progressiv, um linksliberaler Kritik
den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber nicht so kritisch – bzw.
realistisch -, dass ansonsten grundsätzliche Fragen oder sogar die
Systemfrage gestellt werden müsste; nicht allzu offen militaristisch, in
Ansätzen sogar „friedensfördernd“[12], gleichzeitig aber Korridore
absteckend, die das Militär als unverzichtbare Notwendigkeit
legitimieren helfen.

Und genau dies scheint letztlich das Ziel zu sein, wie aus einer
Spielbeschreibung der Bundeswehr deutlich hervorgeht: "Den Teilnehmern
wird deutlich, warum falsches Handeln interne und externe Krisen
auslösen kann, warum Staaten Konflikte austragen, warum
Ressourcenknappheit einen Staat ruinieren kann, warum Ökologie und
Ökonomie zusammenhängen und warum Sicherheitspolitik unabdingbar
ist."[13] Oder in den Worten eines der Jugendoffiziere beim Seminar in
Winterberg: „Militär ist ein politisches Mittel, das leider hier und da
in der Welt eingesetzt werden muss.“


Anmerkungen:

[1] "Es gibt Simulationen, in denen [im militärischen Bereich] kaum
etwas passiert", teilte einer der Jugendoffiziere auf dem Seminar mit.
"Bei Pol&IS ist vieles machbar, aber das Ziel des Spieles ist,
friedliche Möglichkeiten zur Konfliktlösung zu finden", betont Karl
Wichmann, ein anderer Pol&IS-Spielleiter. Kursell, Gregor: Im Zeichen
von Eule und Igel, Die Zeit, Nr. 4/1994.

[2] Die Geschichte von POL&IS, o.j. (Hervorhebung im Original):
http://www.polis.jugendoffizier.eu

[3] Um nur ein Beispiel zu nennen, werden Entwicklungshelfer im Spiel
"auf- und abgerüstet", womit ihr Zweck mehr als deutlich signalisiert
wird, nämlich sicherheitspolitischen Mehrwert zu erbringen.

[4] Vgl. Pflüger, Tobias: Die Reform der Bundeswehr. Sachstand und
friedenspolitische Forderungen, in: AUSDRUCK (Oktober 2010), S. 4-5.

[5] Vgl. zu den zahlreichen Bundeswehr-Rekrutierungsmaßnahmen Glaßer,
Michael Schulze von: An der Heimatfront: Öffentlichkeitsarbeit und
Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln 2010.

[6] Bundesministerium der Verteidigung: Jahresbericht der
Jugendoffiziere der Bundeswehr 2009, Berlin, 31. Mai 2010, S. 4f.:
http://www.bundeswehr-monitoring.de/fileadmin/user_upload/media/Jugendoffiziere-Bericht-2009.pdf


[7] Bundesministerium der Verteidigung: POL&IS: Eine Simulation zu
Politik und internationaler Sicherheit, Erleben. Verstehen. Gestalten:
http://www.polis.jugendoffizier.eu/fileadmin/user_upload/POLIS_Broschuere.pdf


[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Die Geschichte von POL&IS aaO.

[11] Ebd.

[12] Das kann soweit gehen, dass allzu aggressive, kriegerische
Handlungen sanktioniert werden. Ein solches Verhalten brauche dann eine
gute Erklärung, so die Aussage eines der Jugendoffiziere. "Ich greife
an, weil die blöd sind, genügt da nicht." In solchen Fällen habe er die
Simulation auch schon einmal unterbrochen und auf die Folgen blinder
Aggression aufmerksam gemacht. Auch hier zeigt sich der immense
Gestaltungsspielraum, der mit Realismus überhaupt nicht zu tun hat. In
diesem Fall stimmt nämlich entweder die Einschätzung der
Friedensbewegung und zahlreicher Experten, das Länder nicht "aus dem
Buch heraus" angreifen oder die - offizielle – westliche Bewertung von
Ländern wie Nordkorea oder dem Iran ist grundfalsch, denen genau dies
vorgeworfen wird.

[13] Bundesministerium der Verteidigung: POL&IS deutsch-französisch in
Bremen, 22.12.2008 (Hervorhebung JW): http://tinyurl.com/2u62azl Diese
Formulierung findet sich inzwischen in zahlreichen Beschreibungen, u.a.
auch im Pol&IS-Wikipedia-Eintrag.

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