Donnerstag, 14. Juli 2022

Jean-Marc Rouillan zu Holger Meins

Jean-Marc Rouillan Übersetzung: Bärbel Wiemer Das Jahr 1974 begann mit dem Tod meines Freundes und Genossen Salvador Puig Antich, der in einem Korridor des Modelo-Gefängnisses in Barcelona, durch Strangulation, hingerichtet wurde und endete mit dem Todeskampf von Holger Meins im Gefängnis von Wittlich. Salvador war mit uns im Movimiento Iberico de Liberacion (MIL, iberische Befreiungsbewegung) aktiv. Eine Organisation, die seit den ersten Monaten der 70er Jahre den bewaffneten Kampf in Verbindung mit der Arbeiterrätebewegung in Katalonien führte. Zur gleichen Zeit ging Holger zur RAF, die in Deutschland den antiimperialistischen Kampf führte. Wir gehörten derselben Generation junger Aktivisten an, die von Mailand bis Paris, von Frankfurt bis Barcelona überzeugt waren, dass eine konsequente revolutionäre Bewegung nicht auf den Einsatz von Waffen verzichten kann. Salvador wurde durch die Unnachgiebigkeit alter faschistischer Militärs ermordet. (1) Holger wurde durch die Unnachgiebigkeit des eng mit der NATO verbundenen Aufstandsbekämpfungspersonals ermordet. Die Bourgeoisie hatte verstanden, dass diese Form des Widerstands im Keim erstickt werden musste. Es war ihr unerlässlich, um schließlich die gesamte revolutionäre Bewegung und das Proletariat zu zerschlagen und so das Modell der neoliberalen Akkumulation mit all ihren Formen von Prekarität durchsetzen zu können. Auch wenn Viele uns immer wieder auf den alten Provinzialismus der Nationalstaaten zurückwerfen wollten und wollen, waren diese beiden Toten (Folter des Gefängnis bis zum Tod) für die gesamte europäische revolutionäre Bewegung von Bedeutung. Wir, die wir es gewagt hatten, nach 68 zu den Waffen zu greifen, hatten bereits Genossinnen und Genossen im Kampf verloren. Wir lernten, auf dem Partisanenpfad zu gehen. Aber diese beiden Toten standen eindeutig sowohl für unsere Entscheidung bis zum Ende zu kämpfen, als auch für die blutige Natur der autoritären Regime, denen wir gegenüberstanden, seien es das franquistische oder das demokratische. Bereits seit einigen Monaten hatte die ganze Bewegung eine entscheidende Wende vollzogen. Überall kehrten Organisationen der traditionellen extremen Linken entweder in die Reihen zurück (und gaben alle revolutionären Bestrebungen auf) oder zerbarsten an unlösbaren Widersprüchen (zwischen dem Neuen und dem Alten). In Frankreich kündigte die Gauche Prolétarienne ihre Selbstauflösung an, in Italien taten Potere Operaio und Lotta Continua dasselbe … Eine endlich zur Reife gelangte Idee brachte frischen Wind in die revolutionäre Bewegung des alten Europas: Selbstbestimmung und Selbstorganisierung! Historisch gesehen erlebten wir das Ende unseres schönen Monats „Mai 68“, der, wie wir wissen, mehrere Jahreszeiten dauerte, und wir traten alle in eine neue und entscheidende Epoche ein. Das damalige Akkumulationsmodell wurde durch seine Krise und seine Grenzen untergraben, es gab echte revolutionäre Möglichkeiten. Wir wären kriminell gewesen, wenn wir diese Möglichkeiten zur Befreiung nicht ergriffen hätten. Ja, nach Jahren des Kampfes, waren wir alle besiegt … das stimmt … Aber diejenigen, die nicht gekämpft haben, wurden es in zweifacher Weise, damals und heute. Das Foto von Holger, auf seinem Sterbebett liegend, das in allen linken Zeitungen Europas abgedruckt war, prägte grausam unsere ganze Generation von Aktivisten und Aktivistinnen. Abgesehen vom Tod eines politischen Gefangenen enthüllte dieses Foto, wie tödlich das kapitalistische System ist. Sowohl in der Ausbeutung als in der Unterdrückung funktioniert es nur indem es den Tod produziert. Das Leben kann nur aus seiner revolutionären Infragestellung entstehen. Am 9. November starb Holger, ein paar Tage später kam ich in den Knast. (2) (1) Mittlerweile ist bekannt, dass das spanische Militär nicht allein war. Die ganze Phase der Vorbereitung auf den Tod des Diktators Franco und des demokratischen „Übergangs“ (wahrscheinlich einer der blutigsten des Landes, die Forscher berichten von 1000 Toten –Aktivisten, Studenten, Streikenden…) wurde von NATO-Experten und deutschen und französischen Politikern geregelt. (2) Zu seinen Erfahrungen im antifranquistischen Kampf und im Knast: Jean-Marc Rouillan, Aus der Erinnerung, Edition Cimarron 2021.

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