Dienstag, 14. November 2017

Paris: Aktionstag gegen Arbeitsreform

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Mitte des Monats beginnt in Paris der vierte Frankreich-weite Demonstrationstag gegen das Reformpaket vom frisch gewählten Präsidenten Frankreichs Emmanuel Macron. Auf dem Place de la République wo im Frühling 2016 das Agorá namens „Nuit Debout“ aufblühte, duftet es nach würzigem Döner, ambulante Bierverkäufer machen zufrieden ihr Geschäft und Jugendliche fahren Skateboard. Der Platz vor der Delacroixschen Marianne, die für Freihet, Gleichheit und Solidarität mit einem Olivenzweig wedelt, wurde nach der Platzbesetzungen des letzten Jahres zu einem urbanen Skatepark umgewandelt: Heute rutschen laut Kreischende und in ihren Regenjacken eingemummelte Kinder die Grind-Rails hinunter.
Auch die für Frankreich charakteristische Schlange farbenfreudiger Ballons der unterschiedlichen Gewerkschaften beginnt langsam auf einem Boulevard links des Platzes, Form anzunehmen: Wie gewohnt scheint auch heute die CGT mit ihrem kennzeichnenden rot-weißem Anstrich das Zepter zu schwingen. Überraschenderweise stellen sich jedoch auch grell-orange gekleidete Mitglieder der konservativen CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) und der sozialdemokratischen FO (Force Ouvrière) schüchtern hinten an. Die beiden Gewerkschaftsverbände galten bisher als Verschwörer auf der Seite Macrons, aber Knurren unter den eigenen Mitgliedern einerseits und die Streiks im öffentlichen Sektor andererseits, brachten die Führungsspitzen der beiden Organisationen dazu, eine Auswahl an eher zarten Forderungen auf die Tagesordnung zu setzen.

Eine Bank geht zu Bruch, die Polizei Reaktion der Polizei überrascht

Während Macron bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse scheinheilig für eine europäische „Koalition des guten Willens“, die bereit sei „dieses Europa ein wenig umzukrempeln“ plädierte, marschieren laut der CGT 45.000 Menschen durch die Pariser Innenstadt, um ihren Unmut gegen seine nationales, neoliberales Umkrempeln des Arbeitsrechts auf die Straße zu bringen. Auf den ersten Blick scheinen weit mehr Menschen als nur die Angestellten des öffentlichen Dienstes dem Demo-Aufruf zu folgen: Mehrere Flaggen der Basisgewerkschaft Sud-Rail werden von Lok- und Fernfahrern durch die Luft geschwenkt. Rentner, Studenten und Schüler sind auch hier und dort zu sehen. Die Abenteuer-Freudigeren und eher jüngeren Teilnehmer finden im Cortège de Tête ihren passenden Zufluchtsort. Jener Block entstand während des Bewegungszyklus gegen die Loi Travail von François Hollande und wurde im Laufe der Monate zur ersten Adresse für jene quirligen Demonstrantinnen und Demonstranten die sich nicht mit einer schlappen Prozession zufrieden gaben.
So geht von diesem Abschnitt des Demozuges ein erster Débordement (eine „Ausuferung“, wie sie wenig wohlmeinend in der französischen Presse genannt wird) aus: Eine Banque Populaire, die außer im Namen sonst nichts populäres hat, wird zur Zielscheibe von Steinen und Eisengatter. Wie bereits bei den letzten Demonstrationen aufgefallen war, verhält sich die Polizei auch heute extrem zurückhaltend: Ein Dutzend gepanzerte Spezialeinsatzkräfe, sogenannte CRS, hopsen schüchtern vor die Bank und zerstreuen die Menschenmenge mit Tränengas, um sich nach kurzer Zeit in eine Seitengasse zurückzuziehen. Viele Leute sind baff. Denn während letztes Jahr die Polizei immer wieder brutal eingriff, hält sie sich diesmal mehr zurück. Natürlich wirft dieses ungewöhnliche Verhalten der Polizei eine Reihe strategischer Fragen und Rätsel auf, speziell für jene Teile des antagonistischen Gesellschaftskörpers, die in der offenen Konfrontation den Weg für gegenwärtige revolutionäre Praxis behaupten gefunden zu haben.

Katalanische Flaggen und antifranquistische Lieder bespielen den Platz

Bei schleppendem Schritt und brummendem Margen ziehen wir zum Platz der Nation. Eine mindestens 20-köpfige Fanfare intoniert die schaudernde Melodie eines antifranquistischen Protestlieds von Lluis Llach: „Wenn wir zusammen daran rütteln, wird der Pfahl (des Faschismus) fallen“, so hallt es auf katalanisch über den Platz, der Schall umhüllt die Marianne, die mit ihren unantastbaren Werten erneut über unseren Köpfen thront. Eine Stimme übermittelt flüsternd und in Papierform eine brisante Nachricht: Es soll heute Abend eine Besetzung stattfinden! Hippelig wie kleine Kinder, die einen Ball entdecken, laufen wir kreuz und quer über den Platz auf der Suche von weiteren Infos, die nicht lange auf sich warten lassen: 18 Uhr am Platz des Panthéon, kommt uns von einer vertrauten Quelle zu Ohren. In Hast und Eile stürzen wir uns in die erste U-Bahn in Richtung Innenstadt.
Als wir unser Ziel erreichten, hatte sich dort bereits eine Gruppe von etwa 200 bis 300 Menschen in kleinen Grüppchen versammelt: Ausschließlich Studierende, Schülerinnen und Schüler scheinen den Weg hierhin gefunden zu haben, von den Gewerkschaften, die bis kurz vorher den Demozug gefüllt haben, scheint sich niemand angeschlossen zu haben. Eine gewisse Unruhe herrscht vor Ort: das herkömmliche, blecherne Gerappel des Abendverkehrs und die laut brausende Touristengruppen, die schneeflockenförmig durch die Straßen schwirren, vermittelten uns das Gefühl wir hätten dort etwas wichtiges zu tun, ohne aber genau zu wissen, was. Plötzlich tut sich etwas: Mehrere Menschengruppen begeben sich dem Panthéon entlang die Straße hinunter, und biegen links in die Rue Saint-Jacques ein. Innerhalb kurzer Zeit werden wir auch vom aufklärerischem Geflüster erreicht: Das Geographie-Institut der Université 1-Sorbonne soll besetzt werden. Bevor wir die Info erst richtig einordnen können, stehen wir schon vor dem prächtigen, mit verschiedenen Wasserspeiern geschmückten Altbau.

Die Besetzung findet ein jähes Ende – und hinterlässt viele Fragen

Viele Leute tummeln um das Gebäude herum. Ohne richtig zu wissen, was eigentlich passiert, lassen wir uns vom Menschenstrom nach Innen, durch das winzige Foyer in einen engen und steilen Hörsaal treiben. Selbstverständlich suchen wir uns einen Platz, um einem Vortrag über die Meeresgeographie zuzuhören. Nachdem er erstmals entsetzt und staunend an seinem Tisch sitzen blieb, begreift auch der Professor allmählich, was sich dort vor seinen Augen abspielt. Innerhalb kürzester Zeit füllt sich der Saal komplett. Es werden Flyer verteilt, ein paar Transparente zur Solidarität mit den von Repression betroffenen Camarades werden gehisst und das Mikro gekapert. Während Stück für Stück alle Geographie-Studierenden den Hörsaal verlassen, melden sich die Ersten zu Wort. Das Ziel der Besetzung sei es, einen Raum zu schaffen, in dem während der nächste Tage organisationsübergreifend über den Kampf gegen Macrons neoliberale Agenda diskutiert wird.
Die Besetzung will eine von den gewerkschaftlichen und Mélonchon‘schen Mobilisierungen unabhängige Zeitlichkeit des Kampfes einrichten. Es herrscht eine aufbrausende Stimmung: Es wird gesungen, erstes Barrikadematerial wird herangeschafft und eine Vokü für den Abend wird organisiert. Dennoch hält die Euphorie nicht lange an: Knapp 20 Minuten nachdem wir in den Hörsaal gestürmt sind, erscheint das unruhige Blinzeln der ersten Polizeiwagen an den Fenstern. Vielen wird das zu viel – sie machen die Biege. Wir bleiben. Ruck, zuck sind alle Eingänge und Fluchtwege von der Polizei abgeriegelt. Wir sind gefangen. Es wird mit dem Institutsdirektor verhandelt, uns bleibt keine Wahl. Die Aktion ist noch vor Mitternacht vorbei und scheint eher neue Fragen aufgewühlt als alte beseitigt zu haben. Wie kann ein für die Kämpfe katalysierendes Feld geschaffen werden? Wie soll die Konvergenz der Kämpfe aussehen? Was kann man von der Bewegung des letzten Jahres lernen? Wie kann ein neuer Bewegungszyklus entfachen, der die Platzbesetzungen von Nuit Debout als „bloßes Auftreten“ einer neuen subalternen Klasse aufhebt? Caminando preguntamos, fragend schreiten wir voran.

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