IMI-Standpunkt 2011/031 - in: AUSDRUCK (Juni 2011)
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2.6.2011, Jonna Schürkes
Taloqan im Nordosten Afghanistans galt lange als einer der ruhigsten
Flecken im Land, weshalb Die ZEIT ihn noch vor einem Jahr als Kurort -
als „Bad Taloqan“ - betitelte, um damit auf die vermeintlich
erfolgreiche Arbeit des Regionalen Beraterteams der Bundeswehr und die
gute Zusammenarbeit mit der afghanischen Polizei in dieser Region
hinzuweisen (Die ZEIT, 17.05.10). Vor dem Stützpunkt eben jenes
Beraterteams wurden jedoch am 17.Mai bei Protesten gegen die
NATO-Truppen ISAF und die afghanische Regierung mindestens 14 Menschen
von Bundeswehrsoldaten und afghanischen Polizisten erschossen, ca. 80
Menschen wurden verletzt.
Anlass der Demonstration war die Tötung von vier Menschen in der Nacht
zuvor. Der Nachtangriff („night raid“), der nach Angaben der ISAF von
US-Spezialkräften und afghanischen Sicherheitskräften durchgeführt
wurde, war demnach gegen einen Führer der Islamischen Bewegung
Usbekistans gerichtet. Auf dem Gelände, das von den Soldaten angegriffen
wurde, wurde der Gesuchte allerdings offenbar nicht angetroffen.
Stattdessen wurden vier Personen getötet, davon zwei Frauen.
Während ISAF erklärte, bei den vier getöteten Menschen habe es sich um
Aufständische gehandelt, sind nicht nur die Demonstranten sondern auch
der lokale Polizeichef und Präsident Karsai der Überzeugung, dass vier
Zivilisten starben.
Night raids gelten auch dem Auswärtigen Amt zufolge als probates Mittel
zur Aufstandsbekämpfung (Spiegel Online, 22.05.11). Im August 2010
erklärte der ISAF-Kommandeur David Petraeus, innerhalb von 90 Tagen
hätten fast 3000 solcher Nachtangriffe stattgefunden. Die Zahl dieser
Art von Angriffen nimmt weiter zu, obwohl die Trefferquote von Petraeus
selbst als extrem schlecht eingestuft wird: Für jede gesuchte Person,
die getötet oder gefangen genommen wird, würden drei Menschen, die nicht
Ziel der Angriffe sind, getötet und vier weitere festgenommen (IPS-News,
15.09.10). Ein kürzlich erschienener Bericht von Oxfam und anderen NGOs
stuft Night Raids als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung ein: „Auch
wenn es in den letzten zwei Jahren einige Verbesserungen gegeben hat,
schließen Night Raids in vielen Fällen die exzessive Gewaltanwendung,
die Zerstörung und/oder den Diebstahl von Eigentum und die Misshandlung
von Frauen und Kindern mit ein.“(Oxfam: No time to lose, 10.05.11)
Angesichts dessen ist es allzu verständlich, dass die afghanische
Bevölkerung gegen diese Form der Kriegsführung protestiert. Insgesamt
ist festzustellen, dass es in Afghanistan immer häufiger Demonstrationen
gegen die NATO-Truppen und die afghanische Regierung gibt. Die
Bundesregierung hingegen versucht diese Demonstrationen als Ausdruck des
Protestes zu verunglimpfen, indem sie behauptet, sie seien von den
Taliban inszeniert. Diese Darstellung deckt sich jedoch in keinster
Weise mit den Berichterstattungen über diese Proteste.
Die Demonstration vom 17. Mai begann am Morgen mit zunächst ca. 2000
Menschen in der Stadt. Es wurden die Leichen der vier getöteten Menschen
durch die Stadt getragen, die Protestierenden „riefen Schmährufe gegen
die USA und Präsident Hamid Karsai. ‚Tod Karsai! Tod den USA!‘ hieß es“
(Die Welt, 18.05.11). Bereits zu diesem Zeitpunkt ging die Polizei
gewaltsam gegen die Demonstration vor, es gab erste Verletzte und Tote.
„Die Menge sei später auf 15.000 angewachsen, darunter viele Schüler,
die zum Teil bewaffnet gewesen seien, örtliche Einrichtungen angegriffen
und Geschäfte und Autos demoliert hätten. Dabei seien Handgranaten über
die Einfriedung des deutschen PAT [Stützpunkt des Regionalen
Beraterteams] geworfen und nach afghanischen Angaben zwei deutsche
Soldaten und drei afghanische Wachleute verletzt worden“ (taz, 18.05.11).
Zunächst hieß es, die Bundeswehrsoldaten hätten „nur“ Warnschüsse
abgegeben und auf die Beine von gewaltbereiten und bewaffneten
Demonstranten geschossen. Erst später gab das Einsatzführungskommando
der Bundeswehr bekannt, in mehreren Fällen hätten die Soldaten auf den
„Rumpfbereich beziehungsweise Arme und Hände“ und den „Hals-Kopfbereich“
geschossen.
Am nächsten Tag demonstrierten die Menschen erneut vor einer
Polizeistation in Taloqan, wieder versuchte die Polizei die
Demonstration gewaltsam aufzulösen, erneut wurden Menschen verletzt.
Obwohl in den Berichten alles darauf hindeutet, dass sich die Proteste
gegen das Vorgehen der NATO und der afghanischen Polizei richteten,
wurde auch in diesem Fall vonseiten der Bundesregierung versucht, die
Demonstration zu delegitimieren und damit zugleich ihre Niederschießung
zu rechtfertigen. So sprach Verteidigungsminister De Maizière von einer
von den Taliban inszenierte Demonstrationen (NDR, 30.05.11). Werner
Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, führte diese Behauptung am 25.
Mai im Bundestag weiter aus: „[Es] liegen Erkenntnisse vor, dass diese
Gewaltausbrüche von regierungsfeindlichen Kräften und lokalen
Machthabern langfristig geplant waren. Das war keine spontane Aktion,
die aus der vorangegangenen Erfahrung vom Vortag erwachsen ist. Es war
eine geplante Aktion“.
Inwiefern allerdings die von der Bundeswehr getöteten Zivilisten dabei
eingeplant gewesen sein sollten, die den Anlass für die Proteste gaben,
hierauf ging Hoyer nicht ein (BT-Drs. 17/12549).
Noch widersprüchlicher wird die Argumentation der Bundesregierung
allerdings, wenn Hoyer nur wenige Sätze später behauptet, die
Protestaktion hätte „offensichtlich eher etwas mit einer Unzufriedenheit
von Teilen der afghanischen Gesellschaft zu tun..., die auf den geringen
Möglichkeiten zur Partizipation an politischen und ökonomischen
Prozessen beruht. Von daher war das gar nicht gegen ISAF gerichtet “.
Nur wenige Tage später, am 28. Mai traf sich der deutsche
ISAF-Kommandeur Markus Kneip mit dem Gouverneur von Taloqan, dem
örtlichen Polizeichef und dem Polizeikommandeur, um über das weitere
Vorgehen nach der Niederschlagung der Proteste zu beraten. Ein
Sprengsatz in dem Gebäude tötete neben den beiden Polizeichefs auch zwei
deutsche Soldaten und zahlreiche weitere Menschen, Kneip wurde verletzt.
Auch hier wurde schnell von der Bundesregierung behauptet, der Anschlag
habe der afghanischen Polizei, nicht aber dem deutschen General
gegolten. Zugespitzt sei die Bombe also eher zufällig gerade zu dem
Zeitpunkt explodiert, als hochrangiger ISAF-Besuch anwesend war.
Offensichtlich versucht die Bundesregierung mit ihren
Falschdarstellungen, den Misserfolg ihrer Strategie zu verleugnen. Weder
die Schüsse auf Demonstranten, noch der Anschlag könnten Deutschland
davon abbringen, diese Strategie in Afghanistan weiter zu verfolgen,
erklärte Westerwelle eilig (NZZ, 29.05.11). Ernst-Reinhard Beck,
verteidigungspolitischer Sprecher der CDU, forderte hingegen, die
Bundeswehr müsse nun reagieren (obwohl sie doch gar nicht gemeint war),
und dass nun ein entsprechender Gegenschlag gegen die
Taliban-Organisation in dieser Provinz erfolgen müsse (Spiegel Online,
30.05.11). Offenbar setzt die Bundeswehr weiter auf Eskalation und
Aufstandsbekämpfung im klassischen Sinne, bei der alle Gegner der
Besatzer oder reine Sympathisanten zu Taliban und damit zu militärischen
Gegnern erklärt werden. Mit weiteren zivilen Opfern, (gewalttätigen)
Demonstrationen und deren Niederschießungen wird also zu rechnen sein.
--
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