Von Kurt Gossweiler
Erschienen in „Streitbarer Materialismus“, Nr. 19 (Dezember 1994), S. 25-82
Quelle: Kurt Gossweiler – Politisches Archiv
Auf Kommunisten-online am 4. März 2011
Vorbemerkung
Der nachfolgende Aufsatz entstand im Anschluss an ein am 18. Juli 1984 von meinem damaligen Institut, dem Zentralinstitut für Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, durchgeführtes Kolloquium, gewidmet dem 40. Jahrestag des 20. Juli 1944 unter dem Titel „Der Platz des 20. Juli 1944 in der Geschichte des antifaschistischen deutschen Widerstandskampfes”. (1)
Dieses Kolloquium markierte eine gewisse Wende in der Beurteilung des 20. Juli 44 insofern, als nunmehr auch der reaktionärste Teil der Verschwörer mit Carl Goerdeler an der Spitze von dem Vorwurf freigesprochen wurde, mit dem Attentat auf Hitler nur beabsichtigt zu haben, den Weg für eine Verständigung mit den Westmächten gegen die Sowjetunion freizumachen, um so den deutschen Imperialismus vor der totalen Niederlage zu bewahren. Es wurde nunmehr behauptet, Goerdeler habe kurz vor dem Attentat seine früheren Positionen verlassen und habe nur noch die Herstellung des Friedens durch Einstellung der Kampfhandlungen an allen Fronten zum Ziele gehabt. Im Hauptreferat, gehalten von Kurt Finker, wurde das noch etwas zurückhaltend mit den Worten zum Ausdruck gebracht, „die Auffassungen dieses konservativen Hitlergegners” hätten sich „unter dem Druck der Ereignisse weiterentwickelt”; „der Goerdeler von 1943 war nicht mehr der Goerdeler von 1944”. (2)
Das war er sicher nicht, aber dass er nunmehr seine Pläne zur Rettung des deutschen Imperialismus durch einen Sonderfrieden mit den Westmächten bei Fortführung des Krieges gegen die Sowjetunion aufgegeben hätte - das wurde nur behauptet, aber nicht belegt.
Diese „Wende” war eben nicht die Folge neuer Forschungsergebnisse, sondern eines Bedürfnisses der Politik, nämlich des Bedürfnisses, eine historische Begründung für die Notwendigkeit und Möglichkeit einer „Koalition der Vernunft” zu liefern, die damals von Erich Honecker als Weg zur Sicherung des Friedens angesehen wurde.
Und so hieß es denn auch am Schluss des Referates von Finker: „Was sich damals angebahnt hatte, war eine Art Koalition der Vernunft. Nur eine solche, über politische und Klassengrenzen hinaufreichende Koalition der Vernunft kann heute den Gefahren der imperialistischen Hochrüstungs- und Konfrontationspolitik wirksam begegnen - darin liegt das Vermächtnis der Gefallenen.” (3)
Also - um des illusorischen Zieles einer Harmonisierung antagonistischer Klasseninteressen willen wurde die Geschichte tatsachenwidrig „harmonisiert”.
Dagegen einfach nur Widerspruch laut werden zu lassen, genügte nicht. Man musste sich schon daran machen, der zweckbestimmten Legendenbildung die historischen Tatsachen entgegenzustellen. Das war der Anlass dafür, dass ich mich diesem Gegenstand, der eigentlich außerhalb meines eigentlichen Forschungsgebietes lag, zuwandte, den vorliegenden Artikel verfasste und ihn im November 1984 der Institutsleitung vorlegte.
Obwohl der damalige Institutsdirektor im Januar 1985 ihn als „ein sehr gutes Manuskript” bezeichnete, erfuhr er in einer im März 1985 durchgeführten Beratung mit Fachkollegen eine kollektive Verurteilung. Die Orientierung auf eine „über die Klassengrenzen hinausgehende Koalition der Vernunft” war von meinen Kollegen so sehr verinnerlicht, dass sie eine Betrachtungsweise, die entgegen dem Harmonisierungsbedürfnis an der Herausarbeitung gegensätzlicher, antagonistischer Klasseninteressen festhielt, nicht anders denn als überholt, dogmatisch und störend empfanden.
Dennoch gelangte der Artikel - allerdings nur in einer um die Hälfte gekürzten Fassung - zur Veröffentlichung, als Beitrag zu einer Festschrift für den Widerstandskämpfer und hervorragenden DDR-Historiker Heinrich Scheel. (4)
In vollem Umfang wird der Artikel hier* erstmals veröffentlicht. Weggelassen sind nur jene Passagen, die sich mit dem damals aktuellen Problem der „Koalition der Vernunft” befassten.
I
Der 20. Juli 1944 ist ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des faschistischen Deutschland, zugleich ein markantes Ereignis in der Geschichte des Widerstands gegen das Hitlerregime. Zu Recht wird diesem Ereignis an seinen Jahrestagen, besonders an den Dezenniums-Jahrestagen, große Aufmerksamkeit gewidmet.
Es gibt nur wenige andere Gedenktage der deutschen Geschichte, an denen so augenfällig abzulesen ist, wie sehr aktuelle Bedürfnisse dazu führen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt jeweils neue Fragen an die Geschichte zu stellen und jeweils andere Seiten des gleichen Ereignisses stärker als früher zu beleuchten.
Eine der wichtigsten alten Fragen, die aber bislang noch keineswegs ausreichend untersucht wurde, ist die Frage nach der Bedeutung des Attentats vom 20. Juli für die Faschismustheorie. Was sagt dieser Ereigniskomplex über den Charakter des faschistischen Regimes in Deutschland aus?
Der vorliegende Aufsatz greift diese Frage in der bescheidenen Absicht auf, einen Diskussionsbeitrag zu leisten und Überlegungen anzubieten, die für eine noch ausstehende gründliche Untersuchung von Nutzen sein könnten.
Für die vorherrschende bürgerliche Geschichtsschreibung ist der 20. Juli eine klare, unwiderlegliche Bestätigung ihrer Auffassung, derzufolge das faschistische Regime in Deutschland und anderswo die Diktatur der faschistischen Partei und ihres Führers über alle Klassen und Schichten der Gesellschaft darstellt. Denn wenn der Faschismus - so ihre Argumentation - nur das Werkzeug der herrschenden Klasse, sein Führer nur ihr Willensvollstrecker sei, wie die Marxisten behaupten, dann sei doch völlig unbegreiflich, weshalb es der herrschenden Klasse nicht möglich war, dieses Werkzeug einfach aus der Hand zu legen und diesen Führer einfach zu entlassen, nachdem er ihren Interessen nicht mehr nützlich war, sondern einer ihren Interessen entsprechenden Lösung, nämlich einer rechtzeitigen Beendigung des Krieges, im Wege stand.
In der Tat ist damit eine Frage gestellt, auf die unsererseits bisher meines Erachtens nach noch keine ausreichende Antwort gegeben wurde; denn der mitunter anzutreffende Hinweis auf eine kriegsbedingte Verstärkung der relativen Selbständigkeit des politischen Überbaus gegenüber der ökonomischen Basis kann nicht als eine befriedigende Antwort angesehen werden.
Eine solche Antwort kann nur gefunden werden, indem die Erklärung für das Verhalten der herrschenden Klasse und ihrer verschiedenen Gruppierungen gegenüber der faschistischen Führung gesucht wird in ihrer Interessenlage und den ihnen - angesichts des Kriegsverlaufes und der innenpolitischen Probleme - noch tatsächlich oder vermeintlich offen gebliebenen Entscheidungsmöglichkeiten.
Eine solche Untersuchung stößt aber auf schwer zu überwindende Hindernisse. So leicht es fällt, das durch die jeweiligen Umstände gegebene objektive Interesse der Führungskräfte des deutschen Imperialismus zu bestimmen, so schwer fällt es, ihnen entsprechende Äußerungen oder gar Handlungen aus den Reihen dieser Führungskräfte zu eruieren. Was in diesen Kreisen gesagt oder getan wurde über und für eine Beseitigung Hitlers von der Führung, ist, soweit überhaupt, nur durch die Vernehmungen der Akteure des 20. Juli und durch Aufzeichnungen, die den faschistischen Häschern in die Hände fielen, ans Tageslicht gekommen; und auf den Historiker ist davon nur das überkommen, was veröffentlicht oder in den Archiven noch einsehbar ist.
Liest man dieses Material durch, dann fällt sehr bald ein merkwürdiger Umstand auf: Obwohl es in den Aussagen der Verhafteten und in den aufgefundenen Dokumenten nicht wenige Hinweise auf Verbindungen der Verschwörer zu Topmanagern des deutschen Monopolkapitals gibt, haben die faschistischen Untersuchungsorgane ihre Nachforschungen in dieser Richtung entweder gar nicht weitergeführt oder, wenn vereinzelt doch, sie sehr bald wieder eingestellt. Dafür nur einige wenige, aber sehr charakteristische Beispiele.
Bekanntlich machte Carl Goerdeler nach seiner Verhaftung gegenüber den faschistischen Inquisitoren „außerordentlich weitgehende Angaben, durch die u.a. zahlreiche Personen, die sich in wichtigen Stellungen des öffentlichen Lebens befinden, belastet” wurden; (5) selbst Gerhard Ritter konnte nicht umhin festzustellen, dass sich Goerdeler „als eine Nachrichtenquelle für die Gestapo erwies, deren Ergiebigkeit Staunen erweckte”.(6) Dadurch und durch andere Quellen wurde bekannt, dass Goerdeler enge Kontakte zu verschiedenen Großindustriellen hatte, und dass Julius Leber in ihm einen „Mann der Großindustrie” sah. (7) Der Gestapo war bekannt, dass leitende Männer des Stuttgarter Bosch-Konzerns und des Krupp-Konzerns seine Auslandsreisen, die der Kontaktaufnahme mit Mittelsmännern zur britischen Regierung dienten, als Reisen in ihrem Auftrage legalisierten. Bekannt war ihr ferner, dass der Krupp-Direktor Löser mit seinem Einverständnis als Finanzminister für eine künftige Regierung Goerdeler vorgesehen war. Dies alles hätte die Sonderkommission zur Untersuchung der Verschwörung doch veranlassen müssen, die großindustriellen Hintermänner der Verschwörung genauso rigoros zu vernehmen und abzuurteilen wie die Verschwörer selbst. Doch nichts dergleichen geschah, Löser wurde zwar verhaftet und verhört, aber nicht zum Tode verurteilt, im Gegensatz zu kleineren Industriellen, wie etwa Walter Cramer, und zu zahlreichen Industrie-Syndici, wie Lejeune-Jung, Syndikus in der Zellstoffindustrie und gleich Löser als Minister (für Wirtschaft) in einer Goerdeler-Regierung vorgesehen. Hans Welz, nach Robert Boschs Tod (März 1942) an der Spitze des Bosch-Konzerns, wurde anscheinend überhaupt unbehelligt gelassen; jedenfalls taucht sein Name in den Berichten über die Untersuchung der Sonderkommission nicht als einer der Vernommenen auf, obwohl er in die Verschwörung eingeweiht war und sie förderte. (8)
Der Gestapo war ferner bekannt, dass Goerdeler des öfteren in den Zusammenkünften des so genannten „Reusch-Kreises”, eines Zirkels von hochkarätigen rheinisch-westfälischen Industriellen, auftrat und dort seine Auffassungen zur Lage vortrug. Im November 1943 sprach er in diesem Kreise in Anwesenheit des langjährigen Hanielkonzern-Generaldirektors Paul Reusch von der Notwendigkeit, Hitler von der Führung zu beseitigen, um zu einer Verständigung mit den Angelsachsen gegen die Russen zu kommen.(9) Obwohl in ähnlich gelagerten Fällen gegen kleinere Leute Todesurteile nur deshalb ausgesprochen wurden, weil sie derartige Äußerungen nicht zur Meldung brachten, geschah Paul Reusch nichts dergleichen.
Als Mitwisser der Putschpläne Goerdelers wurden auch der Direktor der Deutschen Bank, Oswald Roesler, und das Vorstandsmitglied der Allgemeinen Deutschen Kreditgesellschaft, Schoen von Wildeneck, vorübergehend verhaftet. Auf nähere Auskünfte über die Zukunftsvorstellungen in den Chefzimmern der großen Industrie- und Bankkonzerne war die Sonderkommission jedoch offenbar gar nicht begierig. Roesler und v. Wildeneck bestritten, wie es im Bericht über ihre Vernehmung heißt, „glaubwürdig jede Kenntnis der Goerdeler’schen Pläne”, und wurden alsbald auf Antrag des Oberreichsanwaltes freigelassen. (10) Aus diesem Anlass erhielt der Deutsche Bank-Direktor Roesler zahlreiche Glückwünsche, darunter auch von einem der prominentesten Nazi-Industriellen, Albert Pietzsch; dieser schrieb ihm am 13. 12. 1944: „Zu meiner großen Freude entnehme ich einer Mitteilung des Aufsichtsrates der Deutschen Bank, dass Sie nunmehr Ihre Tätigkeit aufgenommen haben. Wir alle waren davon überzeugt, dass das Untersuchungsergebnis nicht anders ausfallen konnte.”(11)
In der Tat: Wenn Wirtschaftskapitäne ganz ausnahmsweise doch einmal von den Untersuchungsorganen des SD erfasst wurden, dann konnte das Untersuchungsergebnis eben „nicht anders ausfallen”, denn es gab eine unsichtbare Barriere, vor der die Todesmaschinerie des faschistischen Regimes Halt machen musste. Ein entsprechendes Haltesignal wurde z.B. durch die schriftliche Weisung für die Begrenzung der Anwendung „verschärfter Vernehmungen”, d.h. der Folterung zur Erpressung von Geständnissen, auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich „Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Saboteure, Terroristen, Angehörige der Widerstandsbewegung, Fallschirmagenten, Asoziale, polnische oder sowjetische Arbeitsverweigerer oder Bummelanten” (12) gegeben. Hochrangige Wirtschaftskapitäne fielen generell unter keine dieser Kategorien, auch nicht unter die der „Angehörigen der Widerstandsbewegungen”; denn auch dann, wenn sie nicht nur Mitwisser, sondern sogar Anreger von Aktivitäten wie derjenigen Goerdelers waren, blieben sie doch diesen Aktivitäten selbst fern: das Prinzip der Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik wurde gerade bei derartigen Unternehmungen strikt gewahrt.
Mit anderen Worten: Die Spitzenkräfte der großen Bank- und Industriemonopole waren für die Gestapo tabu. Dies ist der entscheidende Grund dafür, dass wir zwar recht genau über Beweggründe und Aktionen der Verschwörer Bescheid wissen, über Vorstellungen und Handlungen der „Wirtschaftsführer” dagegen nur sehr vage Nachrichten besitzen.
Diese geringen Kenntnisse haben ihre Ursache also in einem Sachverhalt, der allerdings ganz und gar nicht die These jener stützt, die uns glauben machen wollen, Hitler habe als allmächtiger Diktator alle Klassen und Schichten gleichermaßen seiner Tyrannei unterworfen.
Wir können uns also bei unserer Untersuchung des Verhältnisses der herrschenden Klasse zum faschistischen Regime nach dem Umschwung im Kriegsverlauf, da man nicht mehr darüber im Zweifel sein konnte, dass der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen war (also etwa beginnend mit 1943), (13) nur auf gesicherte Forschungsergebnisse zu zwei Problemkreisen stützen: zum einen auf die bekannten Fakten über den Komplex des 20. Juni, zum anderen auf die Ergebnisse der relativ jungen Forschungen über die Nachkriegsplanungen und die Überlebensstrategie von Kreisen und Institutionen der deutschen Monopolbourgeoisie in den letzten Jahren und Monaten der faschistischen Diktatur. (14)
Diese Tatsachen alleine erlauben aber noch nicht, aus Mosaiksteinchen ein zusammenhängendes, deutlich umrissenes Bild zu entwerfen. Es muss ergänzend versucht werden, die inneren Zusammenhänge durch Rekonstruktion der objektiv gegebenen Interessen der herrschenden Klasse Deutschlands in jener Zeit nachzuzeichnen; um hier die Möglichkeit subjektiver Fehldeutungen so gering wie möglich zu halten, ist es darüber hinaus von Nutzen, den Blick nicht nur auf die Jahre 1943 bis 1945 zu richten, sondern ihn auch zurückschweifen zu lassen, um den Weg und seine wichtigsten Stationen verfolgen zu können, der zum 20. Juli führte.
II
Eine Situation, in der der Repräsentant des Staates und Oberste Kriegsherr ein Hindernis für den rechtzeitigen Abbruch eines nicht mehr gewinnbaren Krieges wird, war für die imperialistische deutsche Bourgeoisie keine Premiere. (15) Im ersten Weltkrieg war es der Kaiser – der übrigens viele Züge mit Hitler gemein hatte: beide zeichneten sich durch ein bizarres, von den Realitäten weit entferntes Weltbild, durch eine bis ins Groteske gesteigerte Überschätzung der eigenen Kräfte und daraus entspringende maßlose Eroberungsziele sowie durch ein krankhaft bis zum Größenwahn gesteigertes Selbstbewusstsein aus, und beide stellten sie damit geradezu die ideale Verkörperung der hervorstechendsten Eigenschaften des deutschen Imperialismus dar -, Wilhelm II. also war es damals, dessen rechtzeitigen Rücktritt die deutschen Monopolherren und die einsichtigsten Generale zu erreichen suchten, worüber sich der Kaiser in einem Brief vom 3. November 1918 an einen Vertrauten bitter beklagte: „Es war schon alles so schön aufgeteilt, ganz Belgien, Nordfrankreich usw. Die Schwerindustrie hatte auch schon Beschlag auf alles gelegt, und nun kommt es mit einmal anders, und jetzt schimpfen sie natürlich, als wenn ich schuld wäre. Und die Rheinische Schwerindustrie, ... die verhandelt jetzt mit der Entente, lieber einen guten Frieden ohne mich, als einen weniger guten mit mir - weg werfen sie mich. ... Und das sage ich Ihnen, wenn nur das geringste passiert, dann schreibe ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mein eigenes Schloss zerschieße; aber Ordnung soll sein!” (16)
Auch damals war es nicht gelungen, den lästig Gewordenen rechtzeitig loszuwerden; erst als die Revolutionswelle Berlin erreichte, rafften sich die Generale auf und erklärten dem Uneinsichtigen, dass das Heer nicht mehr hinter ihm stehe und er abzudanken habe.
War es für die herrschende Klasse schon damals schwierig gewesen, dem Obersten Kriegsherrn, als er hinderlich wurde, „einfach” den Laufpass zu geben, so war dies noch um vieles schwieriger gegenüber Hitler. Darauf wies die illegale Landesleitung der KPD in ihrem Dokument vom Juni 1944 „Am Beginn der letzten Phase des Krieges” hin, in dem es hieß: „Aber angesichts der unabwendbaren militärischen Niederlage des deutschen Faschismus beginnen sich alle Vorteile, die das faschistische System bisher dem Finanzkapital bot, in Nachteile zu verwandeln, ohne dass diejenigen, die Hitler holten, ihn heute einfach wieder wegschicken könnten.” (17)
Warum konnten sie es nicht, worin bestand jetzt die Schwierigkeit? Wir erwähnten bereits die Erklärung bürgerlicher Historiker und Publizisten, die ihren plastischen Ausdruck in dem einprägsamen Bild vom „Ritt auf dem Tiger” gefunden hat: Wer auf dem Tiger reitet, läuft Gefahr, beim Absteigen von der Bestie zerfleischt zu werden. Dies sei die Situation des deutschen Bürgertums gewesen, als es sich von Hitler und seinem Regime trennen wollte. Gemeint ist damit, dass Hitlers Terrorregime so stark war, dass es jeden Versuch der herrschenden Klasse, ihn fallen zu lassen, gewaltsam zu vereiteln vermochte.
Nun ist es sicher richtig, dass Hitler 1944 sehr viel größere Möglichkeiten besaß, das zu praktizieren, was Wilhelm II. 1918 in seinem ohnmächtigen Zorn zu tun androhte, um sich an der Macht zu halten. Aber genau so sicher ist, dass die Wehrmacht - wenn sie von einer entschlossenen Führung geschlossen gegen die nazifaschistischen Formationen eingesetzt worden wäre -, mit diesen in kurzer Zeit hätte fertig werden können. Der Beweis wurde am 20. Juli 1944 in Paris geliefert. Die Schwierigkeit bestand also nicht in einer überlegenen Stärke der Hitler zur Verfügung stehenden Kräfte der Waffen-SS und der anderen Naziformationen - eine solche Überlegenheit gab es nicht. Sie bestand vielmehr in der Unmöglichkeit, die Wehrmachtführung zu einem einheitlichen, geschlossenen Handeln zubringen.
Diese Unmöglichkeit kann nicht mit einer Furcht vor der Auseinandersetzung mit der SS erklärt werden: wie sollte sie sich davor gefürchtet haben, einen unterlegenen Gegner mattzusetzen, da sie sich doch in Friedens- und Kriegszeiten unaufhörlich damit beschäftigt hatte, mit gleichstarken oder gar überlegenen Gegnern fertig zu werden? Zudem lagen ja ausreichende Beweise dafür vor, dass Himmler bereit war, mit den Verschwörern mitzumachen, zumindest in der Weise, dass er seine SS von einem Vorgehen zum Schutze Hitlers abhielt. Schon im Frühjahr 1941 hatte Himmler durch einen Vertrauensmann bei dem Schweizer Diplomaten C.J. Burckhardt nachfragen lassen, ob England mit ihm, Himmler, anstelle Hitlers Frieden machen würde. (18) Und am 25. Juli 1943 schrieb Goerdeler in einem Briefentwurf für den Generalfeldmarschall Kluge: „Ich kann Ihnen auch, wenn Sie es wollen, Herrn Goebbels oder Herrn Himmler zum Bundesgenossen machen: denn auch diese beiden Männer haben längst begriffen, dass sie mit Hitler verloren sind.” (19) Mag bei derartigen Versicherungen Goerdelers auch allerhand Übertreibung im Spiele gewesen sein (20), um damit Kluges Zaudern zu überwinden, so kann doch an Himmlers Bereitschaft, Hitler preiszugeben, um die eigene Haut zu retten, kein Zweifel bestehen.
Weshalb also schreckten die meisten Generale und nicht weniger der meisten Generaldirektoren davor zurück, durch eine entschlossene Aktion Hitler von der Führung zu beseitigen?
Der Grund dafür ist einfach genug: So sehr Hitler ein Hindernis war für die Anknüpfung von offiziellen Verhandlungen mit den Westmächten, so unentbehrlich war er für den inneren Gebrauch. Wenn der Terror das Hauptmittel war, die aktiven Antifaschisten zu liquidieren und die passiven Unzufriedenen in der Passivität der Furcht verharren zu lassen, so war Hitler das Hauptintegrationsmittel, das die Mehrheit des Volkes in blindgläubigem Vertrauen zum „Führer” und damit in einem Zustand willenloser Gefolgschaft - entsprechend dem Nazislogan „Führer befiehl, wir folgen Dir!” - hielt. Neben dem Terror war Hitler also der wirkungsvollste Wall, um die herrschende Klasse vor dem zu schützen, was sie am meisten fürchtete - mehr noch als die militärische Niederlage und die bedingungslose Kapitulation: ein zweites 1918, die Revolution.
Wie aber war es dazu gekommen, dass ein solch irrationaler Wunderglaube an diesen einen Mann zu einem politischen Faktor von solch enormer, erstrangiger Bedeutung hatte werden können?
In den bürgerlichen Medien wird als Antwort auf diese Frage absichtsvoll die Legende vom angeblich unwiderstehlichen Charisma Hitlers oder gar von seiner „Dämonie” verbreitet. Um die tatsächlichen Ursachen für die Integrationswirkung Hitlers zu erkennen, müssen wir kurz deren Entwicklung verfolgen.
III
Die deutschen Monopolisten und Junker, die im November 1932 von Hindenburg die Berufung Hitlers als Kanzler forderten, begründeten diese Forderung mit der Feststellung, die angestrebte Verfassungsänderung müsse von einer „breitesten Volksströmung” getragen sein, deshalb müsse die Kabinettsumbildung „in einer Weise erfolgen, ... die die größtmögliche Volkskraft hinter das Kabinett bringt”, und das mache erforderlich, „die größte Gruppe dieser nationalen Bewegung führend an der Regierung” zu beteiligen. (21)
In dieser Eingabe kommt in komprimierter Form die Hauptsorge der deutschen Monopolbourgeoisie seit den Tagen des Zusammenbruchs ihrer Herrlichkeit im ersten Weltkrieg und seit den Tagen des schmählichen Scheiterns des Kapp-Putsches zum Ausdruck, und zugleich auch die fundamentale Lehre, die sie aus den Erfahrungen seit 1914 gezogen hatte: um eine neue Runde des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt vorzubereiten und erfolgreich zu bestehen, musste im Innern eine stabile Massenbasis geschaffen und dauerhaft gesichert werden. Hitler war der Mann, der es am besten verstanden hatte, Millionenmassen für das imperialistische Expansionsprogramm zu mobilisieren. Deshalb konnte die deutsche Monopolbourgeoisie in ihrer Gesamtheit auf die Dauer nicht die Forderung jener aus ihren Reihen zurückweisen, die wie Schacht und Thyssen nicht einen erprobten Konservativen wie etwa Papen oder Hugenberg, sondern den schillernden Emporkömmling Hitler zu ihrem Kanzlerkandidaten erkoren hatten.
Es muss hier unerörtert bleiben, auf welche Weise es Hitler und seinen Förderern in der Weimarer Republik gelungen war, der NSDAP den Millionenanhang zu verschaffen. (22) Es muss genügen, auf eine wesentliche Besonderheit der Massenbearbeitungs- und Massengewinnungsmethode der NSDAP hinzuweisen: sie trat als Partei der Rettung aus dem Sumpf auf, in den die anderen Parteien das Land hineingeritten hätten, und ihr Führer präsentierte sich den Massen als Messias, den die Vorsehung dem Volke gesandt hatte. Sie ließ keinerlei Erörterung des Kurses der Parteiführung durch die Gefolgschaft zu, sondern verlangte blinden Glauben an den Führer und dessen Unfehlbarkeit. Sie setzte nicht auf Vernunft und wirkliche Interessen der Massen, sondern auf irrationale Sehnsüchte nach Erlösung aus dem gegenwärtigen Elend und lenkte alle Hoffnungen auf die übermenschlichen, wundertätigen Fähigkeiten eines einzigen Mannes. Der als „Wunder” präsentierte Aufstieg Hitlers vom „unbekannten Gefreiten des Weltkriegs” zum „Führer der größten Partei der deutschen Geschichte” musste als Beweis dafür herhalten, dass er auserwählt war und dafür, dass mit ihm der Sieg über Not und Elend wie über alle Feinde gewiss war. Kurzum, Führermythos und Führerglaube waren das Bindemittel, das die Gefolgschaft mit der Parteiführung am stärksten zusammenkittete. Die Nazipartei setzte damit in ihren Reihen ein Prinzip durch, das auch in dem von den Monopolherren erstrebten „starken Staat” zu herrschen hatte, den sie schon mit dem Kanzler Papen zu erreichen gehofft und zu dem ihnen nach dessen Scheitern Hitler verhelfen sollte, das Prinzip der widerspruchslosen Unterordnung des Volkes unter die Staatsführung. Nur so, durch Beendigung der „Parteienwirtschaft”, durch straffe Zentralisierung der Staatsmacht und Bündelung aller Energien und Potenzen des Volkes durch einen einzigen Willen, bestand Aussicht, in einem zweiten Anlauf die weitgreifenden Expansionsziele des deutschen Imperialismus zu erreichen.
Mit der Ernennung Hitlers zum Kanzler war aber noch lange nicht ausgemacht, dass er und seine Partei nicht nur formal, sondern auch tatsächlich die Staatsmacht in den Händen halten sollten. Für viele war er nur der Mann, der die Massenbasis des „starken Staates” zu liefern und dessen Bürgerkriegsgarde, die SA, den Widerstand der Arbeiterbewegung gegen die Errichtung der offenen Monopoldiktatur zu brechen hatte, um damit den Weg zu einer Restauration der Monarchie freizumachen, in der die tatsächliche Macht - so die weit verbreitete Vorstellung in den Reihen der Monopolherren und Junker - in den Händen der Generalität, der Führung der Wehrmacht, liegen sollte.
Das Diktaturregime einer herrschenden Klasse, deren größte Furcht die Furcht vor den Massen, vor der Entfesselung ihrer revolutionären Potenzen ist, besitzt indessen eine Eigengesetzlichkeit, die dazu zwingt, demjenigen immer mehr Machtvollkommenheit einzuräumen, der sich auf die Kunst der Massenbeherrschung am besten versteht. Und das war unzweifelhaft Hitler. Und der war sich durchaus bewusst, worin seine Unersetzlichkeit für die Herrschenden bestand, wie zahlreiche seiner Äußerungen bezeugen. (23) Aber diese seine Fähigkeit war an die Voraussetzung gebunden, dass der Glaube an die Auserwähltheit und Erlösungsmission des Führers erhalten und ständig vergrößert wurde, und dies wiederum konnte nur gewährleistet werden, wenn dieser Glaube immer neue Nahrung erhielt. Damit aber war die Erhaltung und ständige Steigerung des Führermythos zur Voraussetzung und Bedingung für die Stabilität der Massenbasis der offenen, terroristischen Diktatur der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals geworden.
Die Monopolherren und Junker mussten somit einen hohen Preis zahlen für die Dienste, die ihnen Hitler und seine Partei leisteten, nämlich den Preis der unlösbaren Verknüpfung ihres Schicksals mit dem Hitlers in dem Unternehmen, für dessen Ingangsetzung und Durchführung er engagiert worden war. Dessen waren sie sich allerdings keineswegs bewusst, als sie Hitler auf den Kanzlerstuhl hievten. Aber diese innere Logik des Machtsicherungsmechanismus, den sie mit der Errichtung der faschistischen Diktatur installiert hatten, setzte sich in allen Situationen durch, in denen Entscheidungen über die weitere Ausgestaltung sei es der Staatsform, der Staatsführung oder des militärischen Oberbefehls zu treffen waren.
Diese innere Logik verlangte, dass der „Führer” - um das Maximum an Massenwirksamkeit zu erzielen - die oberste Spitze der Staatsmacht bildete. Das Führerprinzip und der Führermythos waren unverträglich mit der Unterstellung Hitlers unter ein anderes menschliches Wesen. Über ihm durfte es nur noch die „Vorsehung” geben.
Symptomatisch dafür war die Regelung der Nachfolge Hindenburgs durch Hitler als Staatsoberhaupt. Hindenburg hatte sich stets als den Statthalter für die Hohenzollern betrachtet, und große Teile der konservativen Politiker sahen in Übereinstimmung mit maßgeblichen Kräften in der herrschenden Klasse und der Reichswehrführung die Sache nicht anders. Deshalb brachte das Frühjahr 1934 mit der Erkrankung Hindenburgs eine Belebung der Aktivität monarchistischer Kreise und eine bis an Hitler herangetragene Erörterung der nunmehr vermeintlich auf der Tagesordnung stehenden Restauration der Monarchie. Der Vizekanzler Papen arbeitete emsig für dieses Ziel und erhielt zunächst auch die Unterstützung des Oberbefehlshaber des Heeres, General v. Fritsch.
Der Umstand, dass die Wiedererrichtung der Monarchie im Volke kaum Unterstützung finden, aber bei großen Teilen der Bevölkerung, gerade auch bei jenen, die in Hitler den berufenen Führer des deutschen Volkes sahen, auf Unverständnis und Widerstand stoßen würde, hatte Blomberg und Reichenau indessen schon frühzeitig veranlasst, der Nachfolge Hitlers anstelle der Wiedererrichtung der Monarchie den Vorzug zu geben, unter der Bedingung allerdings, dass Hitler dafür sich im Rivalitätenkampf zwischen Reichswehr und SA eindeutig auf die Seite der Reichswehr stellen und sich in Fragen der Reichswehrführung nicht einmischen würde. (24) Diese Beweggründe veranlassten schließlich auch Fritsch, den Bemühungen um Wiedererrichtung der Monarchie seine Unterstützung zu entziehen. Aber nicht genug damit, dass die Reichswehrführung Hitler zum Staatsoberhaupt und damit zum Obersten Befehlshaber der Streitkräfte machte: Reichenau ergriff auch die Initiative für die Abänderung der Eidesformel (25); entsprechend dieser neuen Formel wurden die Wehrpflichtigen nun nicht mehr auf „Volk und Vaterland”, sondern auf Treue zur Person des Führers vereidigt, um damit ein „ähnliches Verhältnis wie zum Kaiser” zu begründen und die Person Hitlers aus jeder kritischen Betrachtung auszunehmen, wie Fritsch auf einer Befehlshaberbesprechung erläuterte. (26) Dies geschah keineswegs aus dem Gefühl einer Schwäche Hitler gegenüber, sah sich doch die Reichswehrführung als eigentlicher Sieger des 30. Juni 1934 nicht nur über Röhm, sondern auch über Hitler.
Welche Befürchtungen in Wahrheit der Option für Hitler und zugleich auch der unziemlichen Eile zugrunde lagen, mit der das Gesetz über die Einsetzung Hitlers als Staatsoberhaupt - noch zu Lebzeiten Hindenburgs! - angenommen wurden, das geht sehr klar aus einem Brief vom 12. 8. 1934 des späteren Generalmajors und Beteiligten am Attentat vom 20. Juli 1944, Helmuth Stieff, hervor, der dort schrieb: „Die sofortige Regelung der Nachfolge halte ich aus staatspolitischen Gründen für absolut zwingend notwendig. Es durfte keine Minute zweifelhaft bleiben, wer das neue Staatsoberhaupt ist. Unser gesamtes Staatswesen steht z.Zt. auf so schwankenden Füßen, dass jede Unklarheit und jedes Interregnum von gefährlichster Bedeutung hätte werden können. Dazu lag der 30. Juni noch viel zu dicht heran.” (27)
Die Furcht vor einem Interregnum, das auch nur einen Spalt für unberechenbare Reaktionen der Massen öffnen könnte - diese Furcht war die treibende Kraft, die 1934 Hitlers weiteren Aufstieg vorantrieb, wie sie 1944 seine Beseitigung durch die Verschwörer verhinderte.
Das Bestreben, keine Beeinträchtigung der integrierenden Wirkung des Hitlermythos zuzulassen, gab letzten Endes auch den Ausschlag für den Ausgang der berüchtigten Fritsch-Krise zu Beginn des Jahres 1938.
Oberflächlich betrachtet handelte es sich dabei um eine Intrige Görings und Himmlers, eingefädelt zu dem Zweck, Blomberg als Kriegsminister und Fritsch als dessen voraussichtlichen Nachfolger bei Hitler unmöglich zu machen, um damit für Göring den Weg ins Kriegsministerium und für die SS die Bahn für deren Umwandlung in eine Art vierter Waffengattung frei zu machen. (28) Diese Ziele wurden nicht erreicht. Blomberg und Fritsch mussten zwar ihren Abschied nehmen. Aber Nachfolger Blombergs als Oberbefehlshaber der Wehrmacht wurde nicht Göring, sondern Hitler selbst. Für den kam die ganze Affäre sehr überraschend. Er hatte keineswegs von sich aus auf eine solche Lösung hingearbeitet, wollte vielmehr einen anderen General, - anfangs Fritsch - als neuen Kriegsminister. Der Vorschlag, Hitler selbst solle das Oberkommando übernehmen, kam pikanterweise von dem gerade erst entlassenen Blomberg. (29) Welche persönlichen Beweggründe Blomberg für diesen Vorschlag auch immer gehabt haben mag - er fand die Billigung der Wehrmachtgeneralität, weil er der Logik der ständigen Steigerung des Führermythos entsprach: je näher der Zeitpunkt des Übergangs von der Expansionsplanung zum bewaffneten Vorgehen rückte, um so lebenswichtiger wurde die Gewährleistung eines sicheren Hinterlandes durch eine Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit fest hinter der Staatsführung stand, und einer Armee, die durch bedingungslosen Gehorsam und blindes Vertrauen zur Führung immun gegen „zersetzende Einflüsse” und ein zuverlässiges Instrument in den Händen der Vorgesetzten war.
Obwohl eingeleitet durch eine Intrige lagen die Ursachen für die Fritsch-Krise viel tiefer. Sie stand eigentlich am Abschluss einer Auseinandersetzung innerhalb der Führung des faschistischen Deutschland, die schon 1935/36 begonnen hatte und schon im November 1937 zur Entlassung Hjalmar Schachts als Reichswirtschaftsminister geführt hatte. Schacht war dann auch die Schlüsselfigur dieser Auseinandersetzungen. Seine Ernennung zum Reichswirtschaftsminister im Juli 1934 (unmittelbar nach dem Blutbad des 30. Juni) verdankte dieser Vertrauensmann der britischen und US-amerikanischen Hochfinanz vor allem dem Umstand, dass Deutschland in der Phase seiner militärischen Unterlegenheit im Vergleich zu Frankreich für die forcierte Aufrüstung die Rückendeckung durch die USA und Großbritannien gegenüber etwaigen Sanktionsabsichten Frankreichs brauchte. In dieser Zeit war Schacht faktisch der Wirtschaftsdiktator Deutschlands, der sich von Hitler ebenso wenig in seine Domäne hineinreden ließ, wie die Reichswehrführung in die ihrige. (30) Seine Ernennung zum Generalbevollmächtigten für die Kriegswirtschaft im Mai 1935 brachte seine beherrschende Position auch nach außen zum Ausdruck.
Nachdem - vor allem dank Schachts führender Mitwirkung bei der forcierten Rüstung Deutschlands - die Phase der militärischen Schwäche gegenüber Frankreich durchlaufen war, nahmen die maßgeblichen Monopolkreise des deutschen Imperialismus - mit der Deutschen Bank und den IG-Farben an der Spitze - die nächste Etappe ihres Fahrplanes zur Welthegemonie in Angriff, nämlich die Erringung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, insbesondere der Unabhängigkeit hinsichtlich der Rohstoffversorgung aus Übersee.
Bereits 1930 hatte der Deutsche Bank-Direktor Kehl in einem Vortrag gefordert, an der Spitze aller Überlegungen müsse die politische Handlungsfreiheit stehen; durch eine Art deutschen Fünfjahresplans solle sich das deutsche Volk (!) „freimachen von ausländischer Hilfe”. (31)
Nunmehr war der Zeitpunkt für die Verwirklichung dieser Forderung gekommen. Die Vierjahresplan-Denkschrift vom August 1936 (32), deren Konzept den IG Farben-Direktor Carl Krauch zum Verfasser hatte (33), die aber entsprechend den Erfordernissen des Führerprinzips als Denkschrift Hitlers zur Annahme vorgelegt wurde, forderte ganz im Sinne der Ausführungen Kehls einen „Mehr-Jahresplan der Unabhängigmachung unserer nationalen Wirtschaft vom Ausland” und enthielt scharfe Ausfälle gegen die einem solchen Autarkiekurs widerstrebende Argumentation des Reichswirtschaftsministers Schacht.
Die Autarkiebestrebungen des Vierjahresplanes waren ein eindeutiger Beweis dafür, dass die hinter diesem Plan stehenden Kreise des deutschen Imperialismus Deutschland „blockadefest” machen wollten, um somit die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Blitzfeldzüge nicht nur in Richtung Osten, sondern bei günstiger Gelegenheit in alle Richtungen führen zu können, falls unvermeidlich, auch als Zweifrontenkrieg. (34)
Im September 1936 wurde auf dem Nürnberger Parteitag der Vierjahresplan von Hitler verkündet, im Oktober 1936 Göring mit der Durchführung des Vierjahresplans beauftragt, wodurch Schachts Kompetenz empfindlich eingeschränkt wurde.
Wie aufmerksam in den USA die Entwicklung in Deutschland verfolgt und mit welcher Besorgnis jedes Anzeichen sinkenden Einflusses von Schacht in Washington und New York registriert wurde, geht aus einem Gespräch hervor, das am 23. September 1935 in der USA-Botschaft zwischen dem US-amerikanischen Generalkonsul S.R. Fuller und Hjalmar Schacht stattfand (35) und dessen Inhalt umgehend dem Präsidenten Roosevelt telegrafisch übermittelt wurde. Der Teil des Gespräches, der in unserem Zusammenhang besonders interessiert, hat folgenden Wortlaut:
F(uller): Einige Ausländer haben das Gefühl, dass Sie Gefahr laufen, Ihre Macht zu verlieren. Sie bemerken einen Kampf zwischen Goebbels und Streicher auf der einen und Ihnen und der Armee auf der anderen Seite.
S(chacht): Die Armee steht hinter dem Führer. ...Ich werde nicht fallen. Um sich an der Macht zu halten, muss man stets konservativ sein. ...Ich bin konservativ, und die Armee ist immer konservativ.
F: Wo wird Hitler stehen? Wird er auf Seiten der Armee stehen?
S: Zweifellos.
F: Wird die Armee mit ihm sein?
S: Zweifellos. Das deutsche Volk braucht Hitler. Die Deutschen sind zu 95% für Hitler. Sie mögen unzufrieden sein mit seiner Umgebung, (disagree as to the regime which surrounds him), aber sie wollen und brauchen Hitler.
F: Nochmals: will die Armee ihn wirklich?
S: Zweifellos. Hitler ist eine Notwendigkeit für sie und für Deutschland.
F: Wird Hitler sich der konservativen Seite zuwenden?
S: Zweifellos. Um an der Macht zu bleiben, muss ein Staatsmann konservativ sein.
Die weitere Entwicklung zeigte, dass die ausländischen Skeptiker die Labilität der Position Schachts besser einzuschätzen vermochten als er selbst. Später beklagte sich Schacht bitter darüber, dass ihn die Wirtschaftsführer und überhaupt das Bürgertum im Stich gelassen hätten. Die Wirtschaftsführer seien, als sie sahen, dass er in der Wirtschaft nichts mehr bedeutete, aus seinen Vorzimmern verschwunden und hätten sich in die Vorzimmer Görings gedrängt. (36)
Schacht verwechselt hier absichtlich Wirkung und Ursache: Nicht, weil er seine Macht verlor, wandten sich die Wirtschaftsführer von ihm ab, sondern weil sich die Wirtschaftsführer von ihm und seinem Konzept abwandten, verlor er seine Macht. Und sie wandten sich in ihrer Mehrzahl von seinem Konzept ab, weil es vorsah, die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands von den USA aufrechtzuerhalten, um von vornherein eine andere Stoßrichtung als die gen Osten, gegen die Sowjetunion, auszuschließen und die Gefahr eines Zweifrontenkrieges erst gar nicht wieder aufkommen zu lassen. Dem lag die zutreffende Einschätzung zugrunde, dass Deutschlands Kräfte für die Führung eines lang anhaltenden Krieges gegen die in jeder Hinsicht weit überlegenen angelsächsischen Mächte und deren Verbündete genau so wenig wie im ersten Weltkriege ausreichten. Diese Ansicht wurde von einem erheblichen Teil der Monopolherren - insbesondere von Fritz Thyssen - wie auch von maßgeblichen Militärs geteilt, die aber dennoch in beiden Bereichen eine Minderheit darstellten.
Das Gros der deutschen Monopolisten sah nicht nur die Gefahren, die aus einem möglichen Zweifrontenkrieg hervorgehen konnten, sondern auch jene, die aus einer Abhängigkeit von den Westmächten und von deren leicht durchschaubaren Absichten ausgingen, Deutschland im Kriege gegen die Sowjetunion die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Sie waren sich durchaus darüber im klaren, dass Stalins auf dem 18. Parteitag der KPdSU vorgetragene Analyse der hintergründigen Absichten, die von den Westmächten mit ihrer Nichteinmischungspolitik verfolgt wurden (37), den Nagel auf den Kopf traf. Hitler sprach in seiner Rede vor den Oberbefehlshabern am 22. August 1939 - einen Tag vor dem Abschluss des Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion -, nur aus, worüber sich seine Zuhörer ohnehin klar waren, wenn er sagte: „Nun bestand bei den Westmächten die Hoffnung auf das Mitmachen von Russland. ...Der Entschluss, Blut einzusetzen, ist schwer. Man fragt dann leicht: Warum gerade ich? So richtete sich die Hoffnung Englands auf Russland. Aber nur ein blinder Optimist konnte glauben, Stalin würde so wahnsinnig sein, den Gedanken Englands nicht zu durchschauen: nämlich wie im Weltkrieg im Westen eine Art Stellungskrieg zu führen und im Osten Russland die Blutlast des Krieges tragen zu lassen.” (38) Hitler brauchte dem nicht hinzuzufügen, dass auch er nicht so wahnsinnig sei, Großbritanniens Absicht, Nazideutschland als Festlandsdegen gegen die Sowjetunion einzusetzen und dabei ausbluten zu lassen, nicht zu durchschauen.
Die deutschen Imperialisten und Generale hatten zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehegt, ihre Armeen gegen die Sowjetunion marschieren zu lassen, nur um damit am Ende die Reichtümer des Sowjetlandes für Großbritannien und die USA als lachende Dritte erobert zu haben. Deshalb entschieden sie sich 1936 in ihrer Mehrheit für den Vierjahresplan als Voraussetzung für eine Kriegsführung auf eigene Rechnung und zum eigenen Nutzen, also für Göring und gegen Schacht. Zwar wurde in Hitlers Denkschrift der Vierjahresplan ausdrücklich mit der Notwendigkeit eines Ausrottungsfeldzuges gegen den Bolschewismus begründet, und das war keineswegs nur ein Vorwand. Aber wenn man die Früchte des Sieges alleine ernten wollte, dann durfte man nicht auf die Versorgung und Unterstützung aus Übersee angewiesen bleiben. Dann durften aber auch nicht jene Hemmschuhe unter den Militärs und in der Regierung in ihren Ämtern bleiben, die nichts mehr fürchteten als kriegerische Verwicklungen mit den Westmächten und die mit ihren ewigen Warnungen und Unkenrufen die forcierte Vorbereitung auf die Ausnützung jeder günstigen Situation, in welcher Richtung sie sich auch bieten würde, störten und behinderten, also Leute wie Fritsch und der Generalstabschef Beck, Schacht und der Außenminister Neurath.
Treibende Kräfte bei dieser „Säuberung” waren bezeichnenderweise jene beiden Naziführer, die über die engsten Kontakte zu den Spitzen der deutschen Monopolbourgeoisie verfügten - Göring (zu den IG-Farben) und Himmler (über den so genannten „Freundeskreis Reichsführer SS”).
Die widerstandslose Hinnahme der unglaublichen Intrige gegen den Oberkommandierenden des Heeres durch die Generalität hatte tief greifende Auswirkungen auf Hitlers Verhältnis zur Wehrmachtführung. Er hörte auf, die Spitzenmilitärs mit dem Respekt des Laien gegenüber hoch qualifizierten Fachleuten zu betrachten; anstelle seiner früheren Befangenheit ihnen gegenüber erfüllte ihn immer mehr ein Gefühl der Überlegenheit, gepaart mit Verachtung ob der Servilität eines Keitel und anderer sowie wegen der von ihm als „Kriegsscheu” qualifizierten Bedenken des Generalstabschefs Beck und seines Nachfolgers Halder. Er begann, sich nicht nur als der politische Führer, sondern auch als der Feldherr zu sehen, der den verkalkten Spezialisten erst einmal beibringen musste, wie ein moderner Krieg geführt wird.
Bei den wenigen Militärs wie Beck und Thomas (39) und Politikern wie Goerdeler und Hassell (40), die aufgrund ihrer genauen Kenntnis des tatsächlichen weltpolitischen und militärischen Kräfteverhältnisses - soweit es den imperialistischen Teil der Welt betraf - ihre Nüchternheit bewahrten, rief die ab Frühjahr 1938 zunehmend abenteuerliche und geradezu provokatorische Politik der politischen und militärische Führung helles Entsetzen hervor. In zahlreichen Denkschriften und Memoranden an Hitler wiesen sie die Unmöglichkeit für Deutschland nach, einen lang andauernden Mehrfrontenkrieg zu führen. (41) Das blieb jedoch sowohl auf Hitler als auch auf die Mehrzahl der Generale und die hinter dem Vierjahresplan stehenden Monopolherren ohne Eindruck, da ihr Konzept, an dessen Durchführbarkeit sie fest glaubten, nach Krauchs Worten vorsah „rasche Kriegsentscheidung durch Vernichtungsschläge gleich zu Beginn der Feindseligkeiten” (42) zu erzwingen. Und da die von den „Hemmschuhen” vorhergesagten katastrophalen Folgen sowohl in der „Sudetenkrise” als auch nach der Besetzung Prags ausblieben, beide Unternehmen vielmehr mit einem triumphalen Erfolg für Hitler endeten, stiegen sein Ansehen im Volk und der Glaube an seine Unfehlbarkeit auf eine neue Höhe, und selbst unter den Generalen wuchs die Zahl derer ständig, die ihn für einen meisterlichen Strategen hielten. Sie übersahen völlig, dass es lediglich der Beschwichtigungspolitik der Westmächte zuzuschreiben war, wenn die von den oppositionellen Politikern und Militärs vorausgesagten katastrophalen Folgen ausblieben, und dass diese Politik der Westmächte nicht etwa ein Ausdruck der Schwäche und Kampfunfähigkeit war, sondern dem Wunsche entsprang, Deutschlands innere Stabilität nicht zu erschüttern, bevor es seine Aufgabe, die Sowjetunion zu überfallen und zu überwältigen, in Angriff genommen hatte. Deshalb nahm man in London die Informationen aus den Reihen der Opposition über Vorbereitungen zum Sturz Hitlers zwar interessiert zur Kenntnis, dachte aber überhaupt nicht daran, Hitler die zur Unterstützung ihres Vorgehens erbetenen außenpolitischen Schwierigkeiten zu bereiten. (43) Der Abschluss des Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion am 23. August 1939 war im deutschen Volk in anderer Weise populär als die vorhergehenden Aktionen. Zum ersten Male war es kein Akt der Aggression und Expansion, sondern ein echtes Friedenssicherungsabkommen (wenn es ernst gemeint war), mit dem die Naziführung das deutsche Volk überraschte. Die Erleichterung darüber war womöglich noch größer als die Überraschung und reichte bis in konservative Kreise hinein. Hitler hatte dort zusätzliches Vertrauen gewonnen, weil er - so meinte man - nun doch an die bewährten Maximen Bismarckscher Außenpolitik anknüpfte.
Ganz anders allerdings sah man in den Kreisen um Schacht und Thyssen, Goerdeler und Hassell die Dinge. Für sie war der Nichtangriffspakt das schlimmste aller Verbrechen Hitlers. Am 2. September 1939, nach dem Abschluss des Nichtangriffspaktes und dem Überfall der deutschen Truppen auf Polen, verließ Fritz Thyssen mit seiner Familie „Großdeutschland” und sandte am 1. Oktober an Göring einen Brief, in dem er die Gründe für seine Emigration darlegte. Darin hieß es über den Abschluss des Nichtangriffspaktes: „Selbst vom Standpunkt einer pragmatischen Politik (practical politics) kommt diese Politik einem Selbstmord gleich, denn der einzige, der davon profitiert, ist der gestrige Todfeind und heutige Freund des Nationalsozialismus, Russland, das Land, von dem des Führers engster Berater Keppler in einer Rede vor dem Verwaltungsrat der Reichsbank vor einigen Monaten sagte, es müsse bis hin zu den Bergen des Ural germanisiert werden. Alles, was ich jetzt tun kann ist, an Sie und den Führer dringendst zu appellieren, nicht länger eine Politik zu verfolgen, die, falls erfolgreich, Deutschland in die Arme des Kommunismus treiben, und im Falle des Scheiterns das Ende Deutschlands bedeuten wird.” (44)
Ullrich v. Hassell notiert unter dem Datum des 10. Oktober 1939 in seinem Tagebuch folgendes über den Inhalt eines Gespräches mit Goerdeler: „Meiner Grundauffassung stimmt er in jeder Hinsicht zu. Auch nach seiner Ansicht ist die Kriegspolitik ein verbrecherischer Wahnsinn und die Politik mit Russland in dieser Form eine ungeheure Gefahr. In der Lage ohne Ausweg, in die uns Hitler und Ribbentrop hineinmanövriert hatten, haben sie als einziges Auskunftsmittel die Kooperation mit den Sowjets gesehen, ... Alles tritt aber zurück gegen die unbekümmerte Auslieferung eines großen Teiles des Abendlandes ... an denselben Bolschewismus, den wir angeblich im fernen Spanien auf Tod und Leben bekämpft haben. ... Die ganze Lage führt mich zu dem Schlusse, dass es hohe Zeit wird, den hinabrollenden Wagen zu bremsen.” (45)
Zunächst aber schien der Wagen unaufhaltsam auf der Siegesstraße voranzurollen, dem Endsieg entgegen: Norwegen, Belgien, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland - wo immer die deutschen Streitkräfte angriffen, warfen sie den Gegner in einem Blitzfeldzug nieder - in Kürze war Hitlerdeutschland Herr von fast ganz Europa. Mit jedem neuen Sieg wuchs Hitlers blendender Ruhm weiter an und stieg bis ins Unermessliche, als die deutschen Panzerarmeen auch nach dem Überfall auf die Sowjetunion scheinbar unaufhaltsam vorrollten. Im August 1941, im Zenit seiner Erfolge, rühmten ihn nicht nur die Nazipropagandisten als den größten Feldherrn aller Zeiten, der von Alexander dem Großen bis zu Napoleon alle seine Vorgänger in den Schatten stellte; dies glaubte bis auf wenige Ausnahmen ein ganzes Volk, und dies glaubten auch viele Menschen im Ausland, die sich voller Angst und Verzweiflung fragten, ob es denn überhaupt noch eine Kraft gebe, um Hitler und seine Armeen zu stoppen.
Hitler war aber damit auch zum wichtigsten und stärksten, durch nichts und niemanden zu ersetzenden Faktor der inneren Stabilität, der Erhaltung der Kriegsbereitschaft und Durchhaltemoral im deutschen Volk geworden.
Das Interesse an der Bewahrung dieser Moral und Ruhe an der „Heimatfront” erforderte die Bewahrung der Wirkung des Hitlermythos auch und erst recht nach dem Umschwung im Kriegsverlauf, als das Vertrauen an der Front und in der Heimat in die Führung durch die ununterbrochene Kette von Niederlagen schweren Belastungen ausgesetzt wurde. Nicht nur Hitlers Eitelkeit und Ehrgeiz, auch die „Staatsraison” bedurfte der Sündenböcke für die Niederlagen in Gestalt „unfähiger” Generale, die in die Wüste geschickt wurden, als erster Brauchitsch.
Hitler blieb unverzichtbar, jetzt zwar nicht mehr als der Garant des Sieges, aber doch als Träger aller Hoffnungen auf ein Wunder, das den Sieg trotz allem noch herbeiführen könnte; war er doch der Mann, der durch ein Wunder aus dem Nichts zum Gipfel einer beispiellosen Macht emporgestiegen war, dem deshalb auch das Wunder zugetraut werden konnte, sich selbst und das Land vor dem Versinken ins Nichts zu bewahren.
Solange sich das Volk in seiner Mehrheit an die Hoffnung Hitler klammerte, waren die Herrschenden davor gesichert, dass es einen Ausweg durch eigenes Handeln suchen würde, abgeschirmt vor der Gefahr einer Wiederholung des November 1918.
Hitler blieb also auch und gerade in der Krise des faschistischen Regimes der „Wert-Faktor”, als den er sich selbst bezeichnet hatte, bevor er den Startschuss für die Auslösung des Zweiten Weltkrieges gab.
Aber zugleich war Hitler das entscheidende Hindernis dafür, mit den Westmächten über einen Verständigungsfrieden zu verhandeln, solange Deutschland in einem Handel noch etwas in die Waagschale zu werfen hatte: militärische und wirtschaftliche Stärke und riesige besetzte Gebiete als Faustpfänder.
In diesem Dilemma mussten sich die widerstrebenden Interessen innerhalb der herrschenden Klasse in widerstreitenden Tendenzen der Suche nach einem Ausweg niederschlagen. Grob gesehen lassen sich drei Varianten imperialistischer Haltung angesichts der drohenden Niederlage ausmachen: (46)
Erste Variante: Das Allerwichtigste ist die Revolutionsverhinderung. Jedes Vorgehen gegen Hitler birgt das Risiko eines Dammbruches mit unabsehbaren Folgen in sich, deshalb ist es besser, den Weg mit Hitler bis zu Ende zu gehen. Wie der Krieg auch ausgeht - die unnatürliche Koalition der Westmächte mit der Sowjetunion muss früher oder später an ihren inneren Gegensätzen zerbrechen, und um so rascher, je größer die Erfolge der Roten Armee sind und je näher diese der deutschen Grenze kommt. Deutschland wird für die Westmächte immer als Bollwerk gegen den Bolschewismus unentbehrlich sein. Deshalb ist selbst eine bedingungslose Kapitulation einem Vorgehen gegen Hitler mit dem Risiko einer revolutionären Erhebung vorzuziehen, denn diese würde kaum ein zweites Mal so glimpflich auslaufen wie die Novemberrevolution: damals gab es noch keine Kommunistische Partei, und die Sowjetunion musste um des Überlebens willen das Brester Diktat akzeptieren. Jetzt aber ist die KPD die einzige organisierte Gegenkraft, und die Rote Armee würde als Siegermacht auf deutschem Boden stehen. Eine Revolution wäre also mit ziemlicher Sicherheit das Ende des Kapitalismus in Deutschland, die Kapitulation dagegen mit Hilfe der Westmächte nur eine Niederlage mit der Chance des Neubeginns. Deshalb sollte als einziges Mittel, die Westmächte zu Verhandlungen geneigt zu machen, die Verstärkung der militärischen Anstrengungen eingesetzt werden, um ihnen klar zu machen, dass die Fortführung des Krieges auch von ihnen einen ungeheuren Blutzoll fordern würde. Sollte sich aber doch eine Situation ergeben, in der Hitler nicht mehr da ist und sich dadurch der Weg für Verhandlungen mit den Westmächten öffnet, dann wäre das natürlich eine sehr erwünschte Gelegenheit, die unbedingt genutzt werden müsste. Darauf darf man indessen nicht warten. Man muss jetzt schon eine Überlebensstrategie für die Zeit nach dem Kriege entwickeln. Dies war in etwa die Position, die von einem Teil der deutschen Monopolisten und natürlich von den offiziellen Institutionen - z.B. der Reichsgruppe Industrie, dem Reichswirtschaftsministerium, dem Speer-Ministerium - eingenommen wurde. Zeugnisse dafür sind die inzwischen aufgedeckten und bereits erwähnten Nachkriegsplanungen. (47)
Zweite Variante: Natürlich ist die Revolutionsverhinderung das Allerwichtigste. Aber zugleich darf man nicht auf den Versuch verzichten - durch eine Verständigung mit den Westmächten -, von dem, was im Krieg erobert wurde, und an militärischer Macht so viel zu retten wie irgend möglich. Man muss das Interesse der Westmächte daran, dass den Russen der Weg nach Europa verlegt wird, ausnutzen und ihnen anbieten, die ganze militärische Macht des Deutschen Reiches an die Ostfront zu werfen, als Gegenleistung für den Verzicht auf bedingungslose Kapitulation und für einen Frieden, der Deutschland als selbständige Macht bestehen lässt, mit Grenzen, die alle Deutschen oder möglichst viele von ihnen in Mitteleuropa umschließen. Das ist mit Hitler nicht zu erreichen. Deshalb muss ein Weg gefunden werden, Hitler von der Spitze zu beseitigen, sei es auf dem italienischen Wege, durch Verhaftung und Absetzung, sei es durch ein Attentat. Auf welchem Wege auch immer, gesichert werden muss, dass der Wechsel an der Spitze schlagartig und mit Blitzesschnelle erfolgt, um auch nicht für eine Sekunde ein Machtvakuum entstehen zu lassen. Die Soldaten und die Bevölkerung dürfen davon erst erfahren, wenn die neue Regierung schon installiert ist. Jede Bewegung von unten muss verhindert und es muss gesichert werden, dass den Anweisungen und Befehlen von oben bedingungslos Folge geleistet werde. Dies ist um so notwendiger, als der Krieg im Osten auf jeden Fall, im Westen wenigstens bis zum Beginn von Verhandlungen weiterzuführen ist.
Ein Vorgehen gegen Hitler ist natürlich riskant. Es kann nur gelingen, wenn die militärische Führung, zumindest maßgebliche bekannte und populäre Heerführer, mitmachen, und es darf nur in Gang gesetzt werden, wenn vorher von den Westmächten die Zusicherung vorliegt, dass von einer Regierung ohne Hitler keine bedingungslose Kapitulation gefordert, sondern mit ihr über einen Verständigungsfrieden verhandelt wird.
Die Formulierung eines solchen, sich natürlich im Verlauf des Krieges modifizierenden, aber im Grundlegenden gleich bleibenden Konzeptes finden wir vor allem in den zahlreichen Denkschriften Carl Goerdelers.
„Grundlage seiner Anschauungen war der Antikommunismus”, schreibt Kurt Finker über Goerdeler und fährt fort: „In einer Denkschrift vom 1. Juli 1940 malte er das Bild eines unter der Zwangsherrschaft Hitlers verelendenden Europas, dessen notleidende Massen den besten Nährboden für ‘bolschewistische Ideen’ bieten würden. ...Goerdeler wollte das faschistische Regime nicht beseitigen, er wollte es reformieren. ...In der Ende 1940 und Anfang 1941 verfassten Denkschrift ‘Das Ziel’ breitete Goerdeler seine Ansichten bis ins Detail aus. Doch handelte es sich nach wie vor nur um eine Variante der reaktionären und aggressiven Vorherrschaftsstrategie des deutschen Imperialismus, eine Variante, die allenfalls durch mehr Elastizität und Flexibilität gekennzeichnet war.” (48) Diese Einschätzung wird durch längere Ausführungen aus der Denkschrift belegt. So hieß es dort z.B.: „Der für Deutschland in Betracht kommende Großwirtschaftsraum ist sicherlich Europa. Aber abgesehen davon, dass er zumindest für die beiden nächsten Jahrzehnte infolge der Rückständigkeit Russlands nicht ausreicht, wäre es schwächlicher Verzicht, wenn wir nicht unsere Leistungsfähigkeit auch in den übrigen Teilen der Welt ausnutzen wollten. ...Die zentrale Lage, die zahlenmäßige Stärke und die hochgespannte Leistungsfähigkeit verbürgen dem deutschen Volk (?! K.G.) die Führung des europäischen Blocks, wenn es sie sich nicht durch Unmäßigkeit oder durch Machtsuchtmanieren verdirbt.
...Tut man gar alles, um die Führung unsichtbar zu machen, lässt man anderen bei Äußerlichkeiten betont den Vortritt, so kann man spielend die europäischen Staaten zum gemeinsamen Wohl führen, ... Es ist nicht zu kühn gesagt, dass bei rechtzeitigem Handeln, d.h. Abbruch des Krieges zugunsten eines sinnvollen politischen Systems, der europäische Staatenbund unter deutscher Führung in 10 bis 20 Jahren Tatsache wird... Im Osten kann eine fruchtbare wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit einem bolschewistischen Russland sich nicht entfalten. ...Das Ziel muss sein, Russland allmählich in eine europäische Zusammenfassung einzubeziehen.” (49)
Goerdeler erkannte sehr klar, dass Deutschland einen lang dauernden Krieg nicht gewinnen konnte, und er war sich auch darüber im klaren, dass die von den deutschen Armeen (in seiner Diktion: von Hitler) praktizierte Politik und Kriegsführung Verbrechen auf Verbrechen häufte und deshalb nur Sturm ernten konnte; das hinderte ihn jedoch nicht, große mit dieser Politik und dieser Kriegsführung eroberte Gebiete auch für das Deutschland nach Hitler zu beanspruchen. Das wird sehr deutlich an seinem so genannten „Friedensplan” vom 30. Mai 1941, der für die englische Regierung bestimmt war. (50)
Einleitend wird gesagt, eine „Gruppe deutscher Persönlichkeiten, der führende Männer aller Lebensgebiete angehörten”, sei „bereit, die Verantwortung für die Bildung einer Regierung zu übernehmen”. Die „maßgebenden Persönlichkeiten” wünschten aber „schon jetzt Klarheit darüber zu gewinnen, ob alsbald nach erfolgter Einsetzung einer solchen, den Nationalsozialismus ablehnenden Regierung gemäß früheren Versicherungen der britischen Regierung (51) Friedensverhandlungen aufgenommen werden können”. Sodann werden die „von der deutschen Gruppe verfolgten Friedensziele”, die „Grundlage von Verhandlungen” sein sollten, formuliert, darunter:
...
„2. Bestätigung der vor dem Kriege erfolgten Anschlüsse von Österreich, Sudetenland, Memelland an Deutschland.
3. Wiederherstellung der Grenzen Deutschlands von 1914 gegenüber Belgien, Frankreich, Polen.
...
5. Rückgabe der deutschen Kolonien oder gleichwertiger Kolonialgebiete unter gleichzeitiger Einrichtung eines internationalen Mandantarsystems für alle Kolonien.
6. Keine Kriegsentschädigung, gemeinsamer Wiederaufbau.”
Noch erstaunlicher als die Selbstverständlichkeit, mit der hier Elsass-Lothringen, Eupen-Malmedy und der sogenannte „Polnische Korridor” für Deutschland reklamiert wurden, sind allerdings die „Friedens-Vorschläge”, die Goerdeler noch lange nach Stalingrad, im Herbst 1943, den umworbenen britischen Verhandlungspartnern zumuten zu können glaubte. Man liest da: (52)
„Wir gehen davon aus, dass
1. Deutschland um des deutschen Volkes, der Völker Europas und des Friedens willen moralisch und materiell stark sein muss;
2. dass zwischen England und Russland Interessengegensätze von Ostasien bis zum Mittelmeer, vom Mittelmeer bis zum Nordatlantik bestehen, die in der Natur der Verhältnisse begründet sind;
3. dass Europa eine Sicherung gegen russische Übermacht braucht;
4. dass diese Sicherung zur Zeit nur durch England oder Deutschland auf längere Zeit sichergestellt werden kann;
5. dass es zweifelhaft ist, ob Amerika dauernd Kräfte für diese Sicherung zur Verfügung stellen wird;
6. dass es daher sinnvoll und geboten ist, die natürliche Interessengemeinschaft zwischen England und Deutschland zu verwirklichen, weil sie alle jene Voraussetzungen erfüllen würde;
7. dass diese Verwirklichung nur erfolgen kann, wenn die europäischen Völker in Freiheit und Selbständigkeit sich zu einem ewigen Friedensbund zusammenfinden, in dem weder Deutschland noch eine andere Macht Vorherrschaft beansprucht;
8. dass kein weißes Volk dazu beitragen darf, Japan eine Ausdehnung auf Kosten anderer weißer Völker oder Chinas zu ermöglichen; ...”
Von diesen Prämissen ausgehend, kommt Goerdeler zu folgenden deutschen Forderungen:
„Alle Pläne, Deutschland aufzuteilen, müssen immer wieder Spannungen in Deutschland und damit in Europa erzeugen... Als deutsche Grenzen kommen in Betracht:
- im Osten etwa die Reichsgrenze von 1914;
- im Süden die in der Konferenz von München 1938 anerkannte Grenze einschließlich Österreichs; auch muss Südtirol, ein rein deutsches Land, bis zur Grenze Bozen-Meran zu Deutschland zurückkehren. ...;
- im Westen ist die Elsass-Lothringen-Frage schwer zu lösen; es gibt keine Ruhe, wenn Elsass-Lothringen in seinem alten Bestand zu Deutschland oder Frankreich geschlagen wird; es gibt zwei andere Möglichkeiten: a) entweder Elsass-Lothringen wird ein autonomes Land etwa in der Stellung der Schweiz, oder b) durch eine neutrale Kommission wird die Sprachgrenze ermittelt, wie sie 1918 und 1938 war. Zwischen diesen beiden Linien muss die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland liegen; ...
- im Norden muss in ähnlicher Weise wie im Westen die gerechte Grenze gegenüber Dänemark ermittelt werden. ...
Dieser territoriale Bestand des Deutschen Reiches setzt eine Verständigung über (über, nicht: mit! K.G.) Polen voraus. Soweit sich jetzt übersehen lässt, ist der Bestand Polens davon abhängig, dass die deutsche Front im Osten die polnische Ostgrenze von 1938 (also einschließlich Westbjelorussland und Westukraine! K.G.) hält. Bricht sie zusammen, so ist Polen an Russland verloren. ...Polen kann Ersatz für Westpreußen und Posen durch eine Staatsunion mit Litauen (also einer Sowjetrepublik! K.G.) erhalten. Dadurch wird beiden Völkern geholfen und Polen der Zugang zum Meer geschaffen. ...
An eine Wiedergutmachung des durch den Hitlerismus den europäischen und anderen Völkern zugefügten Schadens ist nicht zu denken. Deutschland ist durch Hitler schon vor diesem Kriege in ungeheure Schulden gestürzt. ...
Zur Zeit besteht in Russland ein gleichmäßiges bolschewistisches System. ... Wenn das heutige Russland Vorherrschaft über Europa ausübt, werden die mittel- und westeuropäischen Völker, durch den Krieg geschwächt, durch Leidenschaft bewegt, vor schier unerfüllbaren Aufgaben stehend, zunächst dem radikalen Bolschewismus verfallen. Das wäre der Tod der europäischen Kultur und der Geltung Europas, wäre wohl auch für England eine große Gefahr. Noch gefährlicher aber wird Russland, wenn es zu den wahren Gesetzen der Wirtschaft und der Politik allmählich zurückfindet. Denn dann wird seine Kraft noch größer. Russland dürfte die einzige Macht auf der Erde sein, die ohne eine große Flotte das englische Empire lebensgefährlich treffen könnte. Es ist selbstverständlich eigenste Sache Englands, diese Lage zu prüfen und jede Schlussfolgerung zu ziehen, die es in seinem Interesse für notwendig erachtet. Wir können nur unsere Meinung sagen, und die besteht darin, dass alle europäischen Völker westlich Russlands sich gegen eine russische Übermacht und Vorherrschaft sichern müssen. Weder Frankreich noch Italien noch ein Zusammenschluss der kleineren Völker kann diese Sicherung zur Zeit gewähren. Deutschland kann es eben noch, wenn es rechtzeitig die Verbrecher zum Teufel jagt und bestraft, und wenn ihm England und Amerika die Möglichkeit gewähren, den Krieg ohne Zusammenbruch zu liquidieren. Ein Hemmnis hierzu ist die Forderung der bedingungslosen Kapitulation. Die Ereignisse in Italien sollten warnen. Jedenfalls ist eins mathematisch sicher: Wird Deutschland im entscheidenden Moment bedingungslose Kapitulation abgefordert, so legt der deutsche Soldat auch im Osten genau so die Waffen nieder, wie es jeder andere Soldat der Welt tun würde. Damit würde Russland der Vormarsch freigegeben werden. Wo er zum Stehen kommt, weiß kein Mensch. ...Am schnellsten erhalten die angelsächsischen Reiche die meisten Kräfte für Ostasien frei, wenn die europäische Sicherung gegen Russland durch Europa selbst erfolgen kann. ...Es wird notwendig sein, hierzu die europäischen Völker zusammenzubringen, aber das erfordert Zeit. Inzwischen wäre es Aufgabe Deutschlands, diesen Schutz zu übernehmen. Das ist wieder nur möglich, wenn man nicht die Forderung auf totale Entwaffnung stellt.”
Am Charakter dieses so genannten Friedensplanes kann nicht der geringste Zweifel bestehen: es ist dies nichts anderes als die Wiederholung des Versuches von 1918, für den deutschen Imperialismus einen „milden” Frieden zu erlangen durch das Angebot zur Übernahme der Rolle des Bollwerks gegen den Bolschewismus. Man vergleiche mit dem obigen Memorandum Goerdelers die nachfolgenden Auszüge aus den Aufzeichnungen Albert Ballins für Wilhelm II. von Anfang September 1918: (53)
„Noch könnte alles Wesentliche gerettet werden ... Wir haben große Trümpfe in der Hand:
1. Die besetzten Länder. Wir können sagen, wenn ihr in einen würdigen Frieden und Völkerbund mit uns eintretet, geben wir die besetzten Gebiete heraus und ersparen euch die furchtbar schwere, vielleicht in Jahren kaum zu bewältigende Aufgabe, uns hinauszuwerfen.
2. Die rasche und kluge Modernisierung (der Ausdruck ist richtiger und giftloser als Demokratisierung) des Reiches. Diese Modernisierung ist zugleich das einzige Mittel, die Dynastie für Dauer zu sichern.
Wir haben im gegnerischen Lager die folgenden Aktiven: ...Das allgemeine Bedürfnis, die in Russland investierten Milliarden zu retten und die russischen Bodenschätze vor Zerstörung zu bewahren und die Länder Europas vor Verseuchung durch die Bolschewisten zu schützen.
Was brauchen wir und müssen wir zu erhalten trachten?
1. Fairplay in der Rohstoffverteilung ...
2. Sicherung des territorialen Reichsbestandes und eines ergiebigen Kolonialbesitzes.
3. Die innere Modernisierung des Reiches muss möglichst vollzogen sein, ehe man Verhandlungen beginnt, sonst erscheint sie von den Gegnern erzwungen und gefährdet die Dynastie.” (54)
Es ist geradezu verblüffend, wie sehr sich Geist und Inhalt beider Aufzeichnungen von so verschiedenen Männern mit so verschiedener Herkunft und so verschiedenem Charakter gleichen. Das liegt daran, dass beide das gleiche Klasseninteresse in einer ähnlichen Grundsituation zum Ausdruck bringen.
Die Aufgabe, die vor Goerdeler 1943/44 stand, war indessen womöglich noch komplizierter und unlösbarer, als diejenige Ballins im September 1918.
Goerdeler und seine Freunde in der Wirtschaft mussten, um ihr Ziel zu erreichen, nicht nur einen Gegner - die angelsächsischen Mächte - dazu überreden, auf den bereits sicheren Sieg über den deutschen Konkurrenten zu verzichten, um diesem statt dessen die Möglichkeiten zu belassen, erneut die Führung in Europa an sich zu reißen; sie mussten unter der deutschen Generalität auch die Leute finden, die erstens in der Lage waren und die sich zweitens dazu überreden ließen, das Haupthindernis für Verhandlungen mit den Westmächten, Hitler, aus dem Weg zu räumen. Die Verhandlungen mit den Westmächten einzuleiten war Sache der Politiker, Diplomaten, Geschäftsleute und Kirchenmänner. Die innenpolitische Voraussetzungen für Verhandlungen konnten jedoch nur von den Militärs geschaffen werden.
Deshalb verfasste Goerdeler schon kurz nach Stalingrad eine Denkschrift für die Generalität (55) in der er mit eindringlichsten Worten die Notwendigkeit einer Aktion gegen Hitler und die Möglichkeit einer Übereinkunft mit den Westmächten darlegte. Er leitete diese seine Denkschrift damit ein, dass er aus einer Aufzeichnung aus dem Sommer 1918 an General Ludendorff Auszüge zitierte, die in der Tat sehr geeignet waren, seiner eigenen Argumentation den Nachdruck historisch erhärteter Wahrheit zu geben. In dieser Denkschrift von 1918 hatte deren Verfasser - ein Major Niemann - Ludendorff die unterschiedlichen Aufgaben des militärischen und des politischen Führers vor Augen geführt: „Der Soldat muss an den Sieg glauben, und eine oberste Heeresleitung, die den Glauben und Willen nicht hätte, die Widerstandskraft des Feindes mit Waffengewalt zu brechen, würde ihrer Aufgabe nicht gewachsen sein.
Der Politiker, der die Waffenerfolge in ihrer Wirkung für das zukünftige Weltbild auszuwerten hat, sieht die militärischen Erfolge unter einem anderen Gesichtswinkel. ...Lassen sich die Waffenerfolge so steigern, dass die Hilfskräfte des Feindes erschöpft werden können, dann ist die Aufgabe des Politikers verhältnismäßig einfach. ...Anders und komplizierter wird die Aufgabe, wenn die Waffengewalt zur radikalen Beseitigung des feindlichen Willens nicht ausreicht. Der Waffenerfolg kann dann nicht mehr als politisches Zwangsmittel, sondern nur noch als Druckmittel gewertet werden... Dauert der Krieg weiter, dann müssen wir den absteigenden Ast der Kurve betreten. ...Wir müssen unsere militärischen Kräfte als Druckmittel ausnutzen, solange wir die militärische Überlegenheit noch besitzen.
Treten wir im Zeichen des Abstiegs an den Verhandlungstisch, dann spielen wir ohne Atouts. Das Druckmittel wird dann von Tag zu Tag wirkungsloser.” (56)
Dies war der Hauptgedanke und das schwerwiegendste Argument Goerdelers, um die Generalität von der Notwendigkeit des Handelns gegen Hitler zu überzeugen: Wenn man noch länger zögert, wird es zu spät sein, die militärische Macht noch als Druckmittel einzusetzen. „Entscheidend ist die Tatsache”, kommentierte er die Nutzanwendung aus den Niemann’schen Ausführungen, „dass jetzt die deutschen Kräfte auf allen Gebieten sich dem Zustand des Verbrauchtseins nähern, dass wir uns in der absteigenden Linie befinden, während der Kräfteeinsatz der Gegner noch einer erheblichen Steigerung fähig ist.” (57)
Um dies den Generalen recht nachdrücklich vor Augen zu führen, gab Goerdeler eine drastische Schilderung des allgemeinen Niedergangs auf innenpolitischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet, der nur in einem völligen Zusammenbruch, noch schlimmer als der von 1918, enden könne, wenn er nicht durch eine entscheidende Tat aufgehalten werde. Bezeichnend ist dabei, dass Goerdeler offenbar als eines der wirkungsvollsten Argumente die Behauptung betrachtete, durch Hitlers Führung werde „unser Vaterland nicht nur wirtschaftlich, sondern sittlich allmählich bolschewisiert.” (58) Zum anderen reibt er den Generalen die zahlreichen Demütigungen unter die Nase, die sie sich von Hitler hatten gefallen lassen müssen: Hitler sei kein Feldherr, das Feldherrntum sei ihm nur durch Propaganda angedichtet worden; die wirklichen Feldherren aber habe er „abgefunden, wie es ihm passte, hier mit Beförderungen, dort mit vorschnellen Entlassungen, ja mit Bestrafungen. Er hat sich nie gescheut, ihnen die Verantwortung für das Unglück von Moskau (Winter 1941/42) zuzuschieben und verbreiten zu lassen, dass es nur seinem persönlichen Eingreifen auf dem Schlachtfeld (er habe Generalen die Schulterstücke abgerissen, er habe Verwundeten die Pelze der Offiziere gegeben und sie verbunden!!) gelungen sei, die Katastrophe zu wenden.” (59)
Als Fazit seiner Lagebeurteilung forderte Goerdeler, „rechtzeitig die Folgerungen zu ziehen, die allein das heranrückende Unheil abwenden können”. An die Stelle des militärischen Tuns müsse man nun, da man den Krieg nicht mehr gewinnen und eine günstigere Situation für Verhandlungen nicht mehr herbeiführen könne, das politische Tun setzen. Das sei mit der gegenwärtigen Staatsführung nicht möglich, deshalb müsse sie „weichen”. Die Lage sei noch zu retten „durch Zusammenwirken anständiger und verständiger politischer und militärischer Führung.” Es stünden geschulte politische Köpfe in genügender Anzahl in Deutschland zur Verfügung, „allerdings zur Zeit nicht an offiziellen Stellen.” (60)
Nachdem Goerdeler derart die Notwendigkeit zum Staatsstreich begründet hatte, legte er seinen Adressaten dar, welches die positivsten Ziele sein müssten, und begründete, weshalb und unter welchen Voraussetzungen diese Ziele noch erreichbar seien. Diesen Passagen gebührt das größere Interesse, weil aus ihnen der imperialistische Charakter des Goerdeler-Programms am unverhülltesten hervortritt.
Als Ziele, die noch durch richtiges Handeln erreichbar seien, nannte Goerdeler an erster Stelle den „Bestand des Reiches in den Grenzen von 1914, vermehrt um Österreich und Sudetenland”. Mit den Franzosen müsse man sich im Hinblick auf eine künftige europäische Politik, bei der „rechtzeitige Schonung von Empfindlichkeiten gewaltige Früchte bringen” könne, vielleicht auf eine Sprachgrenze einigen.
Als zweites noch erreichbares Ziel nannte Goerdeler „die führende Stellung Deutschlands auf dem Kontinent”, als drittes die Wiedergewinnung Südtirols. Dazu meinte er, die Westmächte würden „es heute mit Vergnügen an Deutschland zurückfallen lassen, wenn wir selbst fähig sind, es zu besetzen.”(!)
Hinsichtlich der Kolonien fand Goerdeler, der Zeitpunkt, „Kolonien jetzt zu erwerben” sei verpasst. Dagegen sei noch zu erreichen, sich mit den Siegermächten nach einiger Zeit über eine Beteiligung Deutschlands „an Verwaltung und Besitz von Kolonien ... zu verständigen. ...Allmählich lässt sich bei energischer und geschickter Zielverfolgung koloniale Betätigung Deutschlands erreichen.” (61)
Goerdeler sah sich dann veranlasst, die Realisierbarkeit dieser verwegen-optimistischen Zielansprüche zu begründen. Diese Ziele, so führte er aus, seien noch erreichbar wegen der Interessenübereinstimmung der angelsächsischen Mächte mit Deutschland:
„a) England und USA haben dasselbe Lebensinteresse wie Deutschland, dass Europa so bald wie möglich zur Ruhe kommt, um ihnen die überquellenden Rohstoffe und Nahrungsmittel abtauschen zu können. ...Ein solches geordnetes, friedlich arbeitendes Europa ist aber nur zu haben, wenn sein Zentrum Deutschland befriedet und befriedigt ist. (Hervorhebung von mir, K.G.)
b) Die beiden angelsächsischen Weltreiche haben wie Deutschland ein Lebensinteresse daran, dass der Bolschewismus nicht weiter nach Westen vordringt. Nur Deutschland kann den Bolschewismus aufhalten. Wenn Deutschland durch Kriegsverlust und ungünstigen Frieden geschwächt wird, dann findet der Bolschewismus leichteren, vielleicht allzu leichten Weg nach dem Westen.
c) England hat ein Lebensinteresse daran, dass kein starkes Russland aus diesem Kriege hervorgeht, denn dieses Russland kann als einzige Macht England auch ohne Flotte ... empfindlich treffen.”
Die Engländer würden sehr klar sehen, „dass Frankreich kein Damm mehr auf dem Festland sein kann”, weshalb sie „nunmehr entschlossen sein müssen, ein neues Gleichgewicht zu erstreben, das da etwa lautet: Europa mit deutscher Stärke gegen Russland”.
Goerdeler beschloss die Darlegung der Gründe für die Erreichbarkeit der von ihm genannten Ziele mit der Feststellung, nach der notwendigen Änderung in der Führungsspitze des Reiches könnten die nächsten Schritte „dann einer Entspannung mit den Westmächten gewidmet sein, die es ermöglichen, alle Kriegskräfte des deutschen Volkes auf den Osten zu konzentrieren.” (62)
Voraussetzungen für all dies sei aber:
„a) Unsere Wehrmacht darf noch nicht unfähig erscheinen, weiter Krieg zu führen; der Sieg darf dem Gegner noch nicht in der Nähe winken. Insbesondere muss die deutsche Wehrmacht fähig bleiben, die Ostfront nicht weiter westlich als die alte Ostgrenze Polens zu halten. Dies ist wichtig, weil wir dann sowohl den Polen wie den Angelsachsen gegenüber den Schlüssel für das Geschick Polens in den Händen halten.
b) Unser Rüstungspotential darf nicht weiter durch Zerstörung und durch Unsachlichkeit vermindert werden.
c) Deutschland muss eine anständige, sachkundige Führung erhalten.”
Kennzeichnend für den Charakter des Goerdeler’schen Programms sind auch seine Vorstellungen über die Zukunft Polens. „Die Eingliederung Polens in Deutschland wäre auch für uns kein Segen. Ein selbständiges, richtig behandeltes Polen wird ganz von selbst wirtschaftlich und politisch Anschluss an Deutschland suchen müssen.” (63)
Um die Bedenken der Generale gegen den geforderten Staatsstreich aus dem Wege zu räumen, führte Goerdeler zusätzlich noch zwei weitere Argumente ins Feld, nämlich erstens, „dass man sich auch in führenden Parteikreisen darüber klar geworden ist, dass es weder persönlich noch sachlich so weitergeht”, woraus sich für die Wehrmacht die Möglichkeit ergebe, „mit diesen Kräften der Partei zusammenzugehen”, und zweitens, dass in der Arbeiterschaft ein Prozess der Radikalisierung im Gange sei, der, wenn man ihn durch Untätigkeit weiter fortschreiten lasse, „sehr viel schlimmere Folgen annehmen (wird) als 1918.” (64)
Wir haben aus den Goerdeler-Denkschriften so ausführlich zitiert, um den Nachweis zu führen, dass die in ihnen niedergelegte Zielsetzung exakt dem entspricht, was wir als zweite Variante einer imperialistischen Haltung gegenüber der drohenden Niederlage skizzierten.
Eine wichtige Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen Variante eins und Variante zwei.
Zweifellos besteht ein großer Unterschied zwischen einer Haltung, die aus Furcht vor der Revolution es vorzieht, mit Hitler durch Dick und Dünn zu gehen in der vagen Hoffnung, die Antihitlerkoalition werde noch vor der eigenen totalen Niederlage auseinander fallen, und der durch Goerdeler repräsentierten Haltung, den Bruch der Antihitlerkoalition aktiv zu beschleunigen durch einen Staatsstreich gegen Hitler und „Modernisierung” des Regimes.
Eine Suche nach den Motiven dieser unterschiedlichen Haltungen wird feststellen können, dass im ersten Falle die Furcht vor den unvorhersehbaren Folgen des Verschwindens der Integrationswirkung des Führermythos größer ist als die Furcht vor den Folgen der Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation. Oder positiv ausgedrückt: im ersten Falle ist das Vertrauen in die Wirksamkeit der Klassensolidarität der imperialistischen Sieger mit dem imperialistischen Verlierer größer als das Vertrauen in die Möglichkeit eines Staatsstreiches hinter dem Rücken des Volkes, eines Staatsstreiches ohne das Risiko der Auslösung von Bewegungen von unten bis hin zum Bürgerkrieg. Bei der zweiten Variante liegen die Dinge nahezu umgekehrt.
Es liegt nahe, an solche Feststellungen Betrachtungen darüber anzuknüpfen, ob hinter solch unterschiedlichen Verhaltensweisen nicht unterschiedliche ökonomische Interessen oder Beziehungen zu vermuten sind, etwa derart, dass die erstgenannte Haltung kennzeichnend sei für solche Unternehmen und ihre Leiter, die während des ganzen Krieges hindurch ihre Geschäftsverbindungen zum US-Kapital aufrechterhalten konnten und die deshalb selbst von einem totalen Zusammenbruch nicht so hart betroffen werden würden wie andere.
Die Schwierigkeit besteht indessen darin, dass alle derartigen Vermutungen pure Spekulation bleiben müssen aus Mangel an beweiskräftigen Unterlagen. Wohl kennen wir einige Namen von Monopolherren, die mit Sicherheit Goerdelers Pläne kannten, vielleicht sogar zu deren Inspiratoren gehörten. Aber damit wissen wir noch gar nichts über die Haltung all der anderen, ob sie diese Pläne kannten und wenn ja, wie sie zu ihnen standen.
Mit Bestimmtheit können wir nur sagen, dass es sicherlich keinen einzigen deutschen Wirtschaftskapitän gab, der angesichts der abzusehenden militärischen Niederlage nicht Überlegungen darüber angestellt hätte, welchen politischen Ausweg es aus der militärischen ausweglosen Lage geben könnte, und der dabei nicht seine Hoffnungen auf die Westmächte gesetzt hätte, genauer, auf die Ausnutzung des Wunsches der Westmächte, den Vormarsch der Roten Armee so weit wie möglich im Osten zum Halten zu bringen. Ob jedoch die Mehrheit der deutschen Monopolherren die erste oder die zweite der genannten Varianten eines imperialistischen Ausweges bevorzugte - das lässt sich kaum mit Bestimmtheit sagen. Gewiss, vieles scheint dafür zu sprechen, dass das Gros der deutschen Wirtschaftsführer sich hinter die erste Variante stellte. Aber es kann genauso gut auch anders gewesen sein, denn die Option für eine der beiden Varianten brauchte für das praktische Handeln keinerlei Auswirkungen zu haben, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens aufgrund der bereits erwähnten Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftsführern, Politikern und Militärs. Auch für den Monopolherren, der auf einen Staatsstreich setzte und zu dessen Initiatoren gehörte, blieb es Sache der Politiker und der Militärs, das Unternehmen vorzubereiten und durchzuführen; sein eigener Anteil konnte sich auf eine mehr oder weniger diskrete Förderung beschränken.
Zweitens: Ob Option für Variante I oder II - für ihr ureigenstes Tätigkeitsgebiet stand vor den Wirtschaftsführern in beiden Fällen - wie wir bereits gesehen haben - die gleiche Aufgabe, nämlich die höchste Leistungsfähigkeit der deutschen Kriegswirtschaft zu sichern.
Ähnlich stand es auch um die Nachkriegsplanung. Die Überlegungen darüber, mit welcher Strategie die deutsche Wirtschaft (i.e. das deutsche Monopolkapital) möglichst ungeschoren aus dem Kriege hervorgehen und möglichst rasch die unvermeidlichen Verluste kompensieren könnte, waren gegenüber der Art und Weise, wie der Krieg zu Ende ging und wann, weitgehend neutral. Dadurch, dass der Putsch fehlschlug, die Planungen aber natürlich weitergingen und immer konkretere Gestalt annahmen, erscheint es hinterher so, als hätten alle an diesen Planungen Beteiligten - also fast alle maßgeblichen Kreise der deutschen Monopolbourgeoisie - an einen Staatsstreich überhaupt nicht gedacht, als hätten sie allesamt nur die erste Variante in Betracht gezogen. Doch ist dies eine Retrospektive, die über den wahren Sachverhalt durchaus täuschen kann.
Drittens: Etwa bis Frühjahr 1944 galt als unbedingte Voraussetzung für eine volle, aktive Unterstützung eines Staatsstreiches gegen Hitler selbst im Kreise der Verschwörer, erst recht bei den monopolistischen Sympathisanten, die Zusicherung durch die Westmächte, im Falle der Beseitigung Hitlers mit seinen Nachfolgern einen Sonderfrieden zu für Deutschland günstigsten Bedingungen abzuschließen. (65) Die Festlegungen Roosevelts und Churchills in Casablanca im Januar 1943, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und Japans zu führen, waren ein harter Schlag für alle Hoffnungen, eine solche Zusicherung zu erhalten. Von jetzt ab bestand die Hauptaufgabe der Verschwörer vom Standpunkt der sie unterstützenden Monopolherren darin, in den zahlreichen Verhandlungen mit den Mittelsmännern und Politikern der Westmächte die Zurücknahme der Casablanca-Formel zu erreichen. (66) Da diese Bemühungen erfolglos blieben - und erfolglos bleiben mussten, weil der Krieg längst ein Krieg der Völker gegen die faschistischen Mächte geworden war -, blieben auch die monopolistischen Sympathisanten den Verschwörern gegenüber in einer zurückhaltenden Abwartestellung.
Bei Goerdeler selbst und anderen Teilnehmern der Verschwörung führte jedoch die Ergebnislosigkeit der Versuche, die erhoffte Zurücknahme der Forderung nach „unconditional surrender”, nach der bedingungslosen Kapitulation, zu erreichen, zur Annäherung an die dritte Variante.
Diese dritte Variante war die so genannte „Westlösung”. Sie sah vor, die Front im Westen zu öffnen, um den Truppen der Westalliierten den raschen, ungehinderten Vormarsch nach Osten zu erlauben, damit sie bei der Besetzung Deutschlands und vor allem Berlins der Roten Armee zuvorkamen. (67) Ihrem Wesen nach bedeutete diese „Lösung” die unerklärte bedingungslose Kapitulation den Westmächten gegenüber, bei verstärkter Weiterführung des Krieges gegen die Sowjetunion. Diese Variante wurde im Kreise der Verschwörer von Schacht und dessen Vertrauten, dem Doppelagenten Hans Bernd Gisevius, verfochten. Gisevius, 1935 unterlegener Rivale Rudolf Diels’ als Leiter von Görings preußischer Geheimer Staatspolizei, war seit 1943 Vizekonsul und Abwehragent beim deutschen Generalkonsulat in Zürich und zugleich Agent des amerikanischen Office of Strategie Service (OSS), das von Allan Dulles geleitet wurde. Dulles, der seit Ende 1942 in der Schweiz, in Bern, residierte, um von dort aus ein Agentennetz in Europa knüpfen zu können, benutzte Gisevius, um die Verschwörer für die „Westlösung” zu gewinnen. (68)
Diese Lösung erschien Goerdeler und anderen im Juli 1944 als einzig mögliche übrig geblichen zu sein. Gerhard Ritter schrieb dazu: „Die Oppositionsführer waren jetzt nahezu bereit, die Formel ‘bedingungslose Unterwerfung’ den Westmächten gegenüber anzunehmen - freilich immer noch im Vertrauen darauf, dass in deren Lager doch zuletzt nüchterne Staatsraison über den nackten Vernichtungswillen siegen, dass gemeinsame Interessen an der Erhaltung der abendländischen Kultur sich durchsetzen und den deutschen Staat vor dem Schicksal totaler Vernichtung retten würden. Offensichtlich war nicht nur an einen Waffenstillstand mit Verkürzung der Westfront ... gedacht, sondern an eine Art Vereinigung deutscher und angelsächsischer Streitkräfte - zum mindesten an eine sofortige Besetzung ganz Deutschlands von Westen her, ehe die Roten Armeen auch noch Polen überrannt und die östlichen Reichsgrenzen erreicht hätten.” (69)
Der imperialistische, klassenegoistische Charakter auch dieser Konzeption, der das Leben der Soldaten, die im weiterführenden Krieg gegen die Sowjetunion verheizt werden sollten, völlig gleichgültig war, weil ihr alleiniger Richtpunkt in der Erhaltung des kapitalistischen Eigentums bestand, springt in die Augen. (70) Dennoch entsprach diese Variante am allerwenigsten von allen Dreien dem, was die meisten deutschen Monopolisten zu diesem Zeitpunkt für zweckmäßig erachteten. Sie waren nicht bereit, alle Faustpfänder an besetzten Gebieten und militärischer Macht ohne jede Gegenleistung aus der Hand zu geben; selbst im Kreise der Verschwörer wurden Schacht und Gisevius wegen ihrer Propagierung der Auslieferung auf Gedeih und Verderb an die Amerikaner mit Argwohn und Misstrauen betrachtet und vom Kern der Verschwörung ferngehalten. Soviel zu den drei Varianten einer imperialistischen Antwort auf die drohende Niederlage.
Im Kreise der Verschwörer existierten aber bekanntlich auch andere als imperialistische Bestrebungen und Vorstellungen, solche nämlich, denen es nicht vorrangig um die Erhaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, sondern um die Beseitigung eines Regimes des Verbrechens, um die rascheste Beendigung des Krieges und um die Schaffung einer neuen, sozial gerechteren und humanen - wenngleich natürlich bürgerlichen - Nachkriegsordnung in Deutschland ging. Diese Richtungen, die mit dem Offizierskreis um den Obersten Claus Graf Schenk von Stauffenberg und mit dem Kreisauer Kreis umrissen werden können, sind durch mehrere Veröffentlichungen bekannt, so dass es nicht notwendig ist, ihr Konzept im einzelnen darzulegen. (71) Um den grundlegenden Unterschied ihrer Position zu der des Goerdeler-Kreises zu unterstreichen, sei lediglich auf folgende Fakten hingewiesen:
Während für Goerdeler angesichts der Unmöglichkeit, zu einer Verständigung mit den Westmächten zu gemeinsamem Vorgehen gegen die Sowjetunion zu gelangen, das Hauptmotiv für ein Vorgehen gegen Hitler entfallen war und er die Meinung vertrat, nunmehr müsse man die Dinge eben treiben lassen (72), trat einer solchen Auffassung der Mitstreiter Stauffenbergs, Generalmajor Henning von Tresckow, mit folgenden Worten entgegen: „Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.” (73)
Während durch den Goerdeler-Kreis Kontaktaufnahme mit der sowjetischen Seite nur als Druckmittel gegenüber den Westmächten projektiert wurde (74), trat die Stauffenberg-Gruppe für echte Verhandlungen über Friedensbedingungen mit beiden Seiten, mit den Westmächten und der Sowjetunion, ein. (75) Bezeichnenderweise kam eine Einigung darüber, künftige Verhandlungen nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit der Sowjetunion zu führen, erst am 16. Juli, in einer Zusammenkunft in der Wohnung Stauffenbergs, zustande, bei der Goerdeler nicht anwesend war. (76)
Während für die Goerdeler-Gruppe unverrückbares Ziel der einseitige Sonderfriede mit den Westmächten und Weiterführung des Krieges gegen die Sowjetunion blieb, trat die Stauffenberg-Gruppe für die sofortige Beendigung des Krieges an allen Fronten ein.
Obwohl Stauffenberg und seine engsten Freunde in den Wochen und Tagen vor dem 20. Juli und beim Attentat selbst Motor und Seele der Aktion waren, trug die Anlage des Staatsstreiches doch unverkennbar den Stempel der großbürgerlich-imperialistischen Teilnehmer an der Verschwörung. Das schwierigste Problem bestand für sie darin, wie bei einer Beseitigung Hitlers eine Erschütterung der Massenbasis zu vermeiden und eine Kompensation für den Wegfall der Wirkung des Hitlermythos zu schaffen wäre, um jede selbständige Bewegung von unten auszuschließen. Im Gegensatz dazu hätte eine konsequent demokratisch-antifaschistische Aktion gegen Hitler daran interessiert sein müssen, den Erfolg durch Mobilisierung aller Hitlergegner im Lande sichern zu helfen. Gerade die Mobilisierung der Massen fürchteten Goerdeler und seine Gruppe jedoch am meisten. Deshalb waren sie entschieden dagegen, dass die Basis der Aktion gegen Hitler durch Einbeziehung auch der Kommunisten erweitert werden würde. Und der eigentlich nahe liegende Gedanke, über die Kirchenobrigkeit sofort nach der Aktion an die Masse der Gläubigen heranzutreten und sie zur Unterstützung der Aktion aufzurufen, wurde nicht einmal erwogen.
Von der Furcht vor den Massen waren auch andere Planungen und Entscheidungen bestimmt.
Lange Zeit war umstritten, auf welche Weise Hitler auszuschalten wäre, durch Verhaftung oder durch ein Attentat. Den Ausschlag für das Attentat gab die Überlegung, einerseits sei Hitler im Volk und in der Armee noch so populär, dass man so lange er noch am Leben sei, mit Befehlsverweigerung bei jenen Offizieren und Mannschaften rechnen musste, die gegen ihn und die Naziführung aufgeboten werden würden; andererseits aber könnte die Absetzung und Verhaftung Hitlers zu einer unerwünschten Verstärkung der Aktivität der antifaschistischen Kräfte führen, insgesamt also zu einer Polarisierung im Volke und in der Armee und zur Gefahr des Bürgerkrieges. Dies alles würde durch ein Attentat umgangen, weil dadurch ein Loyalitätskonflikt in der Armee und Zweifel und Unsicherheiten über die Rechtmäßigkeit der neuen Regierung in der Bevölkerung vermieden würden.
Hier ließe sich einwenden, dass unter den damaligen Verhältnissen ein Vorgehen gegen Hitler gar nicht anders als streng konspirativ vorbereitet werden konnte, und dass es in der Tat keine andere Möglichkeit gab, einen Umschwung herbeizuführen, als durch die Ermordung Hitlers.
Beides trifft für den Zeitpunkt des Attentats zu; jedoch die „damaligen Verhältnisse” waren nur deshalb so, weil die Spitzen der bürgerlichen Gesellschaft sie so gestaltet hatten, sie waren jedoch keineswegs unantastbar und unerschütterlich. Es bestand für verschiedene gesellschaftliche Führungskräfte durchaus die Möglichkeit, mit anderen als konspirativen Mitteln die auf den Massen lastende lähmende Furcht vor dem Terror in Mut zum Widerstand zu verwandeln und die Wirkungskraft des Hitlermythos zu brechen, wenn sie daran interessiert gewesen wären. Wäre es z.B. den Oberen beider Kirchen nicht möglich gewesen, sich darüber zu verständigen, das zu tun, was heute in lateinamerikanischen Diktaturen fast selbstverständlich ist, nämlich vor den eigenen Gläubigen und vor aller Welt gegen die Verletzung der Normen christlicher Gebote aufzutreten? Was anders hat sie stärker daran gehindert als die Furcht, damit das Regime, dessen Sieg über den atheistischen Bolschewismus sie herbeiwünschten, in seiner Kampfkraft zu schwächen?
Und wäre es etwa den Feldmarschällen und Generälen nicht möglich gewesen - sogar ohne Gefahr für Leib und Leben -, geschlossen gegen Hitlers militärisch sinnlose Durchhaltebefehle aufzutreten oder sie einfach zu ignorieren? Was anders hat sie stärker daran gehindert als die Furcht, durch einen solchen Schritt nicht nur die Autorität Hitlers in Frage zu stellen, sondern auch das reibungslose Funktionieren der deutschen Kriegsmaschinerie, die Furcht davor, dadurch die Fähigkeit zu verlieren, den Krieg gegen die Sowjetunion weiterzuführen und die zusammen geraubten Länder wenigstens als Faustpfänder festzuhalten?
Bereits das bisher Gesagte widerlegt alle Auffassungen, denen zufolge das Scheitern des Versuches, Hitler zu stürzen, ein Beweis sei für dessen diktatorische Allmacht, der auch die ökonomisch Mächtigen unterworfen gewesen seien. Denn erstens kann keine Rede davon sein, dass die gesamte Monopolbourgeoisie sich in dem Willen einig gewesen sei, Hitler zu stürzen. Von den drei imperialistischen Auswegsvarianten sah nur eine die Beseitigung Hitlers als zwingend vor. Zum Zweiten lässt der Übergang Goerdelers auf die Position der Westlösung in den Tagen unmittelbar vor dem Attentat darauf schließen, dass auch seine industriellen Freunde und Mentoren angesichts der Wahrscheinlichkeit, mit den Westmächten selbst nach einem Sturz Hitlers keinen Sonderfrieden zu erreichen, in einem Attentat keinen Sinn mehr zu sehen vermochten bzw. zu der Überzeugung kamen, unter diesen Umständen lohne sich das Risiko eines Umsturzes nicht.
Im Unterschied zu Goerdeler drängten jedoch die militärischen Teilnehmer der Verschwörung - und hier vor allem Stauffenberg und seine Freunde - nach der Landung der Alliierten in Frankreich noch energischer zur Tat, ohne länger auf Ergebnisse von Verhandlungen mit den Westmächten zu warten. (77) Die mutige Tat des 20. Juli ist in erster Linie ihr Werk.
Dass es mit einem Misserfolg endete, weil Hitler am Leben blieb, war ein Zufall. Dass damit jedoch das ganze Unternehmen gescheitert war - das war kein Zufall, sondern die unvermeidliche Folge einer Planung, die das Unternehmen hinter dem Rücken des Volkes durchführen wollte und deshalb für den Fall, dass das Attentat misslang, keinerlei Vorkehrungen getroffen hatte, dies deshalb nicht, weil man vor den Konsequenzen des Entstehens zweier konkurrierender Machtzentren zurückschreckte.
Wie sehr die reaktionäre, volksferne Konzeption des Goerdeler-Kreises dem ganzen Unternehmen seinen Stempel aufdrückte, geht mit eindringlicher Deutlichkeit auch aus den vorbereiteten Aufrufen der Verschwörer hervor, ganz besonders aus dem Entwurf einer Regierungserklärung, die ein kaum für möglich zu haltendes Beispiel einer die Lebensinteressen der Massen rigoros missachtenden bürokratischen Beamtenproklamation darstellt. (78)
Die brennendste Frage für das deutsche Volk, die Frage, was die Regierung zu tun beabsichtige, um den Krieg zu beenden, steht in dieser Erklärung nicht nur nicht an erster Stelle - sie wurde überhaupt nicht für wert erachtet, in einem eigenen Abschnitt behandelt zu werden. Lediglich unter der Überschrift „Die Währung sichern” wird auf diese dringendste aller Fragen eingegangen - um beiläufig wissen zu lassen, dass man den Krieg weiter zu führen beabsichtige: „Aber noch ist Krieg. In ihm gebührt unser aller Arbeit, Opfer und Liebe den Männern, die das Vaterland an der Front verteidigen. Ihnen haben wir alles an seelischen und materiellen Werten zuzuführen, was wir irgend schaffen können. Mit ihnen stehen wir in Reih und Glied, aber nunmehr alle wissend, dass nur die zur Verteidigung des Vaterlandes und zum Wohle des Volkes notwendigen, nicht aber die Eroberungssucht und dem Prestigebedürfnis eines Wahnsinnigen dienenden Opfer verlangt werden, und dass wir diesen Krieg bis zum Erlangen eines gerechten Friedens fernerhin mit reinen Händen, im Anstand, mit der Ehrenhaftigkeit, die jeden braven Soldaten auszeichnet, führen werden.” (79)
Man vergleiche damit das ein Jahr früher verfasste Manifest des Nationalkomitees Freies Deutschland, mit dem sich dieses an die Wehrmacht und an das deutsche Volk wandte, und in dem der Weg zur sofortigen Beendigung des Krieges gewiesen wurde: „Eine solche Regierung muss den Krieg sofort abbrechen, die deutschen Truppen an die Reichsgrenzen zurückführen und Friedensverhandlungen einleiten, unter Verzicht auf alle eroberten Gebiete.” (80)
Das Manifest des NKFD hatte auch den einzig gangbaren Weg zum Sieg über Hitler gewiesen: „Sie (die neue Regierung, K.G.) kann nur aus dem Freiheitskampf aller Volksschichten hervorgehen, gestützt auf Kampfgruppen, die sich zum Sturz Hitlers zusammenschließen. Die volks- und vaterlandstreuen Kräfte in der Armee müssen dabei eine entscheidende Rolle spielen.”
Auf die Verhältnisse des 20. Juli übertragen, hätte das bedeutet, unabhängig vom Ergebnis des Attentats schon bei der Planung des Putsches vorzusehen, durch zuverlässige Truppen die SS zu entwaffnen und mit diesen Waffen die Antifaschisten, die freizulassenden politischen Gefangenen und KZ-Häftlinge, die illegalen Kämpfer, die ausländischen Zwangsarbeiter zu bewaffnen.
Natürlich wäre der Sieg über Hitler nicht ohne Kämpfe und Blutvergießen zu erringen gewesen. Dazu hieß es im Manifest des NKFD: „Wir wissen: Opfer sind unvermeidlich. Aber sie werden um so geringer sein, je entschlossener der Kampf gegen Hitler geführt wird. Die Opfer im Kampf um Deutschlands Befreiung werden tausendfach geringer sein als die sinnlosen Opfer, die eine Fortsetzung des Krieges erfordert.”
Der Entwurf der Goerdeler’schen Regierungserklärung macht dagegen deutlich, dass beabsichtigt war, die Deutschen weiterhin als Untertanen zu behandeln, die geduldig auf die Anordnungen ihrer Oberen zu warten und ihnen widerspruchslos zu folgen, jedenfalls auf jede eigene Initiative im Kampf gegen den Nazismus zu verzichten hatten. Deshalb handelte der erste Abschnitt der Regierungserklärung von der „Wiederherstellung des Rechts”, worunter ebenso sehr, wenn nicht noch mehr, die Sicherung der Autorität des Staates als die Beseitigung nazistischen Unrechts verstanden wurde. Dort hieß es nämlich auch: „Die Konzentrationslager werden sobald wie möglich (!) aufgelöst, die Unschuldigen entlassen, Schuldige dem ordentlichen Gerichtsverfahren zugeführt werden.” Und weiter: „Aber ebenso erwarten wir, dass niemand Lynchjustiz vollzieht. Wenn wir die Majestät des Rechts wiederherstellen wollen, müssen wir alle Energie gegen persönliche Vergeltung aufwenden, die aus dem Erleiden von Unrecht und aus der Verwundung der Seele menschlich nur zu begreiflich ist. Wer irgend etwas auf dem Herzen hat, erstatte Anzeige, an welcher öffentlichen Stelle er will. Seine Anzeige wird an die richtige Stelle weitergeleitet werden. Die Schuldigen wird unerbittliche Strafe treffen. Aber die Anzeige muss wahr sein. Wahrheitswidrige Anzeigen werden bestraft, anonyme Anzeigen wandern in den Papierkorb.” (81)
Dass die Hauptsorge der Inspiratoren dieser Regierungserklärung nicht die Liquidierung des Naziregimes, sondern die Fortführung des Krieges war, wird in der folgenden Passage sichtbar: „Alle Deutschen, die deutsch fühlen und handeln, gehören zusammen. Die einzige Scheidung, die zu vollziehen ist, liegt zwischen Verbrechen und Gewissenlosigkeit auf der einen und Anstand und Sauberkeit auf der anderen Seite. Auf dieser Grundlage wollen wir die innere Aussöhnung des Volkes mit allen Kräften betreiben. Denn nur wenn wir einig bleiben, auf der Grundlage von Recht und Anstand, können wir den Schicksalskampf bestehen, in den Gott unser Volk stellt.” (82)
Diese und die anderen Proklamationen, die für einen erfolgreichen Staatsstreich vorbereitet waren, tragen deutlich die Handschrift der Goerdeler-Gruppe. Dass Stauffenberg und seine Freunde nicht darauf drängten, in diese programmatischen Dokumente mehr von ihren Ideen einfließen zu lassen, mag mehrere Gründe gehabt haben; zum einen, dass ihr Hauptaugenmerk der Vorbereitung des Attentats und der Gewinnung potentieller Mitwirkender unter den Kommandeuren galt und sie damit alle Hände voll zu tun hatten; aber wahrscheinlich auch den, dass auch sie noch in der Vorstellung befangen waren, es müsse eine Elite sein, die dem Volke von oben seine Befreiung bringt, und ferner, dass auch sie der Gedanke an die Möglichkeit einer Aufspaltung des deutschen Volkes in zwei sich bekämpfende Lager zurückschrecken ließ.
In seinem Hauptreferat auf der eingangs erwähnten Konferenz zum 40. Jahrestag des 20. Juli stellte Kurt Finker die Frage: „War die Verschwörung des 20. Juli eine Bewegung innerhalb der herrschenden Klasse, einen Ausweg aus dem verlorenen Aggressionskrieg zu suchen oder war sie der Versuch einer Gruppe innerhalb der herrschenden Klasse, konsequent mit der selbstmörderischen Kriegspolitik zu brechen und damit auch Möglichkeiten eines Bündnisses mit antifaschistischen Volkskräften zu eröffnen?” (83) Finker selbst gab auf diese Eingangsfrage keine explizite Antwort.
Diese Frage kann auch nicht als Entweder-Oder-Frage beantwortet werden, sondern nur mit: sowohl als auch. Die Verschwörung trug keinen einheitlichen Charakter; von Seiten der Goerdeler-Gruppe war sie allerdings als Versuch eines imperialistischen, antisowjetischen, revolutionsverhindernden Auswegs gedacht und angelegt (84), von den patriotischen Kräften um Stauffenberg und des Kreisauer Kreises indessen als Versuch der Rettung Deutschlands vor der Katastrophe durch seine Befreiung von der Hitlerclique und dem Naziregime mit dem Ziel der Beendigung des Krieges und der Errichtung eines erneuerten, sozial gerechten, humanistischen Nachkriegsdeutschland.
Ob dieses zwiespältigen Charakters der Verschwörung ist es unmöglich, eine sichere Aussage darüber zu treffen, welche Konzeption - die des Goerdeler-Kreises oder die der progressiv-patriotischen Kräfte - sich zunächst nach einem geglückten Attentat durchgesetzt hätte.
Eines allerdings darf mit Sicherheit angenommen werden: die aufrüttelnde Wirkung der Tötung Hitlers hätte die durch Terror und Hitlergläubigkeit gleichermaßen bewirkte Lähmung des politischen Denkens und Handelns der Masse des deutschen Volkes entkrampft, hätte den antifaschistischen Kämpfern günstigere Bedingungen für die Aufklärung und für die Mobilisierung der Massen zum Kampf um die sofortige Beendigung des Krieges und um die konsequente Abrechnung mit den faschistischen Verbrechern geboten und somit Voraussetzungen geschaffen für bisher blockierte Entwicklungen.
Aus diesem Grunde wurde die mutige Tat des 20. Juli von der Führung der Kommunistischen Partei, vom Nationalkomitee Freies Deutschland, von allen Antifaschisten sofort begrüßt in der Hoffnung, sie möge der Auftakt für den Kampf des deutschen Volkes gegen das Naziregime sein. Und aus diesem Grunde würdigen auch wir Heutigen diese Tat, ohne jedoch darauf zu verzichten, die Sonde wissenschaftlicher Analyse an sie zu legen und ihre Widersprüchlichkeit und Inkonsequenzen aufzudecken.
Für nicht wenige Menschen ist der Hinweis auf die grausam-blutige Abrechnung des Regimes mit den Verschwörern ein beeindruckendes Argument für die Behauptung, der 20. Juli beweise, dass Hitler eine unumschränkte Diktatur allen Bevölkerungsschichten gegenüber ausgeübt habe. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber auch dieses Argument als nicht stichhaltig.
Zum ersten: Es wurde schon eingangs gezeigt, dass die Willkür des Terrors von Himmlers schwarzen Häschern und Folterknechten ihre sehr bestimmten Grenzen hatte, durch die die Repräsentanten des großen Kapitals ihrem Zugriff entzogen waren.
Zum zweiten aber: Die Terrorwelle, die nach dem Attentat über Deutschland hinwegrollte und gewöhnlich allein als Ausfluss des Hitler’schen Rachedurstes, allenfalls auch noch als Himmlers Wüten dargestellt wird, diente in Wirklichkeit dem, was gerade den Monopolherren am meisten am Herzen lag: der Verhinderung dessen, dass die durch das Attentat ausgelöste Aufrüttelung des Volkes zum Ausgangspunkt einer Erschütterung des Regimes, zu einem Durchbruch der Machtsicherungdämme werden könnte.
Denn angesichts der erfolgreichen Eröffnung der zweiten Front und des weiteren Vormarsches der Roten Armee musste das Attentat in weiten Kreisen des deutschen Volkes als Eingeständnis der unausweichlichen Niederlage erkannt werden, bestand die akute Gefahr des Zusammenbruchs der „Durchhaltemoral”, die Gefahr einer Verbreiterung des Widerstandes gegen die Fortführung des Krieges, kurz: des Beginns einer Entwicklung, wie sie 1917 in der Armee und im Hinterland eingesetzt und im November 1918 ihren Höhepunkt gefunden hatte.
Von dieser Gefahr war nicht nur die Naziclique bedroht. Eine Revolution in Deutschland würde - so mussten die Herrschenden befürchten - angesichts der Stärke und Nähe der Roten Armee nicht mehr wie 1918 mit einer Niederlage der Arbeiter enden, sondern die kapitalistische Ordnung in Deutschland ein für allemal liquidieren. Dieser Gefahr konnte in der entstandenen Situation nur durch die äußerste Steigerung des Einsatzes genau derjenigen Mittel entgegnet werden, die schon vor dem Attentat sich als am wirkungsvollsten erwiesen hatten - durch den Terror und den Hitlermythos.
Es entsprach deshalb den Interessen der deutschen Imperialisten ebenso wie denen der Naziclique, dass dem Volk erzählt wurde, die Verschwörer seien nur ein kleines Häuflein ehrloser Vaterlandsverräter und Verbrecher, und dass man an ihnen ein grausames Exempel statuierte, um damit ein Höchstmaß an Einschüchterung und Abschreckung zu erzielen. Es hatte ja im übrigen gar nicht erst der Mordbefehle Hitlers und Himmlers bedurft, um die Verschwörer zu liquidieren; ihre „Kameraden” begannen damit aus eigener Initiative. Noch bevor Himmler am Abend des 20. Juli in Berlin eingetroffen war, hatte der Vorgesetzte Stauffenbergs, der Befehlshaber des Ersatzheeres General Fromm, den Generalobersten Bock, den Obersten Mertz von Quirnheim, General Olbricht, Leutnant von Haeften und den Obersten Stauffenberg verhaften lassen und die letztgenannten vier in aller Eile in Hofe des Bendlerblockes erschießen lassen, während er Beck eine Pistole in die Hand drückte, damit dieser seinem Leben selbst ein Ende mache. Die Wehrmachtsführung gab dann ebenso, wie sie 1934 die Ermordung der Generale v. Schleicher und v. Bredow gebilligt hatte, jetzt die an der Verschwörung beteiligten Offiziere dem Freisler’schen Blutgericht preis, indem sie ein „Ehrengericht” bilden ließ, das die Betreffenden aus der Wehrmacht ausstieß.
Der deutlichste Beweis dafür, dass es sich bei der Terrorwelle keineswegs nur um einen Rachefeldzug gegen die Verschwörer, sondern um eine Aktion mit systemsichernder Absicht handelte, gezielt vor allem auf die Enthauptung der Arbeiterbewegung, war die Verhaftungs- und Mordwelle vom Juli und August 1944 mit ihrem Höhepunkt am 22. August, der „Aktion Gewitter” (85) Dass man sich jetzt nicht damit begnügte, die Führer der Kommunistischen Partei - allen voran Ernst Thälmann, weiter Bernhard Bästlein, Anton Saefkow, Franz Jacob, Theodor Neubauer, Ernst Schneller, Albert Kuntz und viele andere - hinter Zuchthausmauern und Stacheldraht zu bringen, sondern sie systematisch physisch liquidierte, zeigt am deutlichsten, dass es sich nicht nur darum handelte, das Naziregime vor seinen unerbittlichsten Feinden abzusichern, sondern darum, Vorsorge zu treffen für die Zeit nach Hitler.
Die Kehrseite des gesteigerten Terrors war die Anfachung des irrationalen Glaubens an den wunderwirkenden Führer.
Die Aufruf-Entwürfe der Goerdeler-Gruppe lassen erkennen, dass vorgesehen war, im Falle des Gelingens des Staatsstreiches Hitler zum Alleinschuldigen für den Weg in die Niederlage, für die Verbrechen der SS, aber auch der Wehrmacht, zu erklären. Es war also nicht vorgesehen, dem Volke die ganze Wahrheit darüber zu sagen, in wessen Auftrag und Interesse dieser Krieg vom Zaune gebrochen worden war, es sollte der Hitlermythos nicht entzaubert, er sollte nur umgestülpt werden, um weiter die gleiche Wirkung zu tun: die Massen gefügig zu halten im Vertrauen auf die Führung; das Volk daran zu hindern, sich auf seine eigenen Interessen und seine eigene Kraft zu besinnen.
Das Scheitern des Putsches verhinderte die Umstülpung des Hitler-Mythos. Dafür wurde er nun in seiner ursprünglichen Gestalt zur höchsten Wirksamkeit gebracht. Um den Stoß, den der „Endsieg”-Glaube durch das Attentat erhalten hatte, aufzufangen, wurde das Misslingen des Anschlages dazu benutzt, den Hitler-Mythos noch stärker als zuvor für die Weiterführung des Krieges wirksam zu machen. Hitlers angeblich „wunderbare” Rettung wurde von der Propaganda als sichtbarer Beweis dafür ausgegeben, dass die „Vorsehung” Hitler noch für große Dinge ausersehen habe. Wer auf solch wunderbare Weise dem Tode entgangen sei, dem müsse man auch zutrauen, eine scheinbar hoffnungslose militärische Situation zum Besseren zu wenden und dem deutschen Volke noch in letzter Minute den Sieg zu erringen.
Kein anderer als Goerdeler bestätigte durch seine Haltung, dass eine derartige Deutung des Ausganges des Attentats nicht nur den Interessen der Hitlerclique entsprach, sondern denen der imperialistischen Bourgeoisie, deren klassenbewusster Repräsentant er war. In einer Eingabe an Hitler, geschrieben kurz nach seiner Einlieferung ins Gefängnis, im August 1944, schrieb er: „Wenn wir das Vaterland über alles stellen, was doch unser Glaube ist, so haben wir den 20. Juli als ein endgültiges Gottesurteil zu achten. Der Führer ist vor fast sicherem Tode bewahrt. Gott hat nicht gewollt, dass Deutschlands Bestand, um dessen willen ich mich beteiligen wollte und beteiligt habe, mit einer Bluttat erkauft wird; er hat auch dem Führer diese Aufgabe neu anvertraut. Das ist alte deutsche Auffassung. Jeder Deutsche in der Reihe der Umsturzbewegung ist nunmehr verpflichtet, hinter den von Gott geretteten Führer zu treten, auch die Mittel, die einer neuen Regierung zur Verfügung gestellt werden sollten, rückhaltlos ihm zu geben; ob er sie nützen will, für brauchbar hält, entscheidet er.” (86) Mit dieser Begründung bot Goerdeler Hitler an, nunmehr nicht mehr für die Opposition, sondern für Hitler mit der westlichen Diplomatie zu verhandeln. An diesem Angebot hielt Goerdeler auch nach seiner Verurteilung zum Tode fest. Er erklärte sich einem Abgesandten Walter Schellenbergs (Leiter des Amtes VI - Auslandsnachrichtendienst - des Reichssicherheitshauptamtes) gegenüber bereit, über seinen schwedischen Freund Wallenberg mit dem „größten Feind der Kommunisten”, Churchill, Verbindung aufzunehmen.
Goerdelers Auffassungen mochten sich - wie Kurt Finker in seinem Referat bemerkte (87) - in mancherlei Hinsicht unter dem Druck der Ereignisse weiterentwickelt haben; unverändert blieb jedoch - wie die genannten und andere ungenannte Zeugnisse belegen - auch in seiner Gefängniszelle, den Tod täglich vor Augen, der Antikommunismus die Grundlage seiner Anschauungen und Handlungen.
IV
Wenn wir den 20. Juli 1944 unter faschismustheoretischem Aspekt untersuchen, dann müssen wir davon ausgehen, dass wir es mit einem Ereignis der Endphase des deutschen Faschismus unter extremen Bedingungen, dass wir es mit der Suche des deutschen Imperialismus nach einem Wege aus der Niederlage zum Überleben zu tun haben. (88)
Worin diese Extrembedingungen genau bestanden, das wird vielleicht am deutlichsten, wenn wir diese Endphase des deutschen Faschismus mit der des italienischen Faschismus, die Bedingungen des Ausweges für den deutschen mit denen des italienischen Imperialismus vergleichen.
Gewöhnlich wird die verblüffende Leichtigkeit, mit der der italienische „Führer”, Mussolini, entmachtet werden konnte, damit erklärt, dass er über sich noch den König hatte, dem das Recht zustand, den Ministerpräsidenten zu berufen und abzusetzen. Doch Verfassungsfragen sind bekanntlich Machtfragen. Hätte der König nicht den Machtfaktor Armee hinter sich gehabt, so hätte ihm sein verfassungsmäßiges Recht sehr wenig genützt. Und umgekehrt: Wären die deutschen militärischen Führer im gleichen Maße wie ihre italienischen Kollegen davon überzeugt gewesen, dass der Diktator weg musste, dann hätten sie mit dem „Führer” genau so verfahren können wie jene mit dem „Duce”.
Man muss also schon tiefer loten, will man den Ursachen für den unterschiedlichen Verlauf der Endphase des deutschen und des italienischen Faschismus auf den Grund kommen.
An erster Stelle sind hier die Unterschiede in der ökonomischen, politischen und militärischen Stärke des deutschen und des italienischen Imperialismus zu nennen, sowie die unterschiedliche Situation, aus der heraus jeder von ihnen den Faschismus an die Macht brachte.
Der italienische Imperialismus - der Imperialismus einer Mittelmacht, deren Expansionsbestrebungen nur regionale Ausmaße annehmen konnten - brachte den Faschismus im Oktober 1922 an die Macht, um aus seiner krisenhaften Nachkriegsschwäche herauszukommen.
Der deutsche Imperialismus brachte den Faschismus an die Macht, nachdem er seine Nachkriegsschwäche in der Weimarer Republik überwunden, ökonomisch wieder die Nummer Zwei in der Welt des Kapitals geworden war und nun danach strebte, durch einen neuerlichen, besser vorbereiteten Waffengang in jeder Hinsicht die Nummer Eins zu werden. Sein Expansionsdrang war also global, was bedeutet, dass die Diskrepanz zwischen Ziel und Möglichkeiten bei ihm viel größer war als beim italienischen. In Deutschland hatte der Faschismus deshalb in viel größerem Maße als in Italien die Aufgabe, diese Kluft zwischen Können und Wollen zu überbrücken durch brutale Ausschaltung aller Widerstände gegen Kriegsvorbereitung und Krieg sowie durch die rücksichtslose Konzentration aller Kraftquellen der Nation auf dieses eine Ziel: rascheste Vorbereitung auf den Krieg, maximaler Einsatz aller nationalen Potenzen für den Krieg. Dies war der entscheidende Grund dafür, dass in keinem Land des Faschismus der Terror so extrem, grausam und effektiv praktiziert und der Führerkult als Massenmanipulierungs- und Mobilisierungsmittel so maßlos bis zur Vergottung des Mannes an der Spitze getrieben wurde wie in Deutschland.
Die italienische Monopolbourgeoisie hatte es aber nicht nur nicht nötig, Mussolini zur übermenschlichen Messiasfigur aufzubauen; es wäre ihr dies auch gar nicht möglich gewesen, falls sie es gewollte hätte. Dafür war Mussolini zu früh an die Macht gekommen. Als die Weltwirtschaftskrise auch über Italien hereinbrach, wälzten die Faschisten nicht anders als die bürgerlichen Regierungen in allen anderen Ländern die Krisenlasten im Interesse des Kapitals rücksichtslos auf die Werktätigen ab. Dieselbe Weltwirtschaftskrise, die Hitlers Aufstieg zum Hoffnungsträger von vielen Millionen Deutschen ermöglichte, zerstörte bei Millionen Italienern die Illusionen über Mussolini und seine Partei als Schöpfer einer neuen, gerechten Ordnung. Mussolini konnte deshalb auch im Krieg für die italienische Monopolbourgeoisie nicht die gleiche Rolle spielen wie Hitler für die deutsche.
Als sich - spätestens nach Stalingrad - für sie herausgestellt hatte, dass sie wieder einmal den falschen Verbündeten gewählt hatte, gab es für sie bei weitem weniger Grund für Hemmungen vor einer Kapitulation als für die deutschen Imperialisten. Italien war in diesem Krieg nicht der Hauptgegner, sondern nur Juniorpartner des Hauptgegners der Antihitlermächte, ein Juniorpartner, der, je länger desto mehr auf die Stufe des bloßen Vasallen herabgesunken war. Obwohl natürlich auch ihm gegenüber die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation erhoben wurde, konnte er doch auf Belohnung rechnen, falls er noch rechtzeitig mit Hitlerdeutschland brach und die Front wechselte.
Aber dazu war nötig, Mussolini und seine Schwarzhemden zu entmachten. Anders als in Deutschland standen dem in Italien keine gewichtigen Bedenken im Wege. Im Gegensatz zu Hitler war Mussolini für die italienische Monopolbourgeoisie in jeder Hinsicht - nicht nur außen-, sondern auch innenpolitisch - eine Belastung geworden. Er war kein Faktor der Verminderung der Revolutionsgefahr mehr, sondern das Gegenteil davon: solange er an der Spitze stand, würden die Forderungen der Massen nach Umsturz der Machtverhältnisse nur immer dringender und drohender erhoben werden.
Andererseits brauchte die italienische Bourgeoisie eine Ausbreitung der Widerstandsbewegung weit weniger zu fürchten als die deutsche: hier gab es keine Möglichkeit, dass sie von der Roten Armee Unterstützung erhalten würde, sondern sie würde es nur mit den Westmächten als siegreicher Besatzungsmacht zu tun haben, und die würden mit Sicherheit dafür sorgen, dass es zu keiner kommunistischen Machtübernahme kommen würde - selbst wenn die Italienische Kommunistische Partei die überwältigende Mehrheit aller Italiener hinter sich hätte.
Diese vergleichende Betrachtung erhärtet die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung:
Erstens: Hitler und seine Partei waren und blieben auch in der Endphase der faschistischen Diktatur ein Instrument der deutschen Imperialisten und nicht etwa deren Beherrscher.
Zweitens: Dieses Instrument war - im Unterschied zu Italien - nur in einer, in außenpolitischer Hinsicht, stumpf und sogar hinderlich geworden; es erfüllte dagegen noch immer in unersetzlicher Weise seine wichtigste, die innenpolitische Funktion des Hintanhaltens der Gefahr eines revolutionären Durchbruches.
Drittens: Da die deutsche imperialistische Bourgeoisie mit gutem Grund die Revolution mehr als die Niederlage fürchtete, blieb sie in der Frage der Beseitigung Hitlers unentschlossen, schwankte zwischen verschiedenen Möglichkeiten, so dass die wirkliche Entschlossenheit zum Vorgehen gegen Hitler auf den relativ kleinen Kreis der Verschwörer beschränkt blieb, die ihrerseits allein gelassen wurden von ihrer Klasse und isoliert waren und blieben von den antifaschistischen Kräften im Volk.
Hierin - und nicht in der von der bürgerlichen Geschichtsschreibung behaupteten „Allmacht Hitlers” lag die wirkliche Ursache für das Scheitern der Verschwörung des 20. Juli.
Erschienen in „Streitbarer Materialismus“, Nr. 19 (Dezember 1994), S. 25-82
Anmerkungen:
(1) Die Referate und Diskussionsbeiträge dieses Kolloquiums sind publiziert in „Wissenschaftliche Mitteilungen” der Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. 1985/I-II
(2) Ebenda, S. 13
(3) Ebenda, S. 24 f.
(4) Kurt Gossweiler, Der 20 Juli und die Faschismustheorie, in: Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte, Berlin 1988
(5) Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt. Hg. vom Archiv Peter für historische und zeitgeschichtliche Dokumentation, Stuttgart 1961 (künftig: Kaltenbrunner-Berichte), S. 232
(6) Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956. S. 417
(7) ebenda. S. 391
(8) Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben und Leistung, Stuttgart und Tübingen, 1946, S. 707
(9) Kaltenbrunner-Berichte, S. 550f.
(10) ebenda, S. 558 f.
(11) ZStAP, Deutsche Bank-Akten 5961/35
(12) Aus der Anweisung des Gestapochefs Müller v. 12. 6. 1942, zit. nach: 20. Juli 1944, hg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst. 4. Aufl., Bonn 1961, S. 197
(13) Siehe Olaf Groehler, 1944: Die Krise des deutschen Faschismus. Faschistische Agonie und Nachkriegsplanung, in: ZfG 7/1984, S. 588
(14) ebenda. Dort auch Angaben über weitere Literatur zur Nachkriegsplanung.
(15) Joachim Petzold, Die Absetzung Wilhelm II., in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 3/1967, S. 298 ff.
(16) zit. nach Eugen Schiffer, Ein Leben für den Liberalismus, Berlin-Grunewald, 1951, S. 136f.
(17) Am Beginn der letzten Phase des Krieges. Ein neues, bedeutsames Dokument aus dem illegalen Kampf in Deutschland, in: BzG 3/1979. S. 410. Siehe auch: Deutschland im Zweiten Weltkrieg, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann. Bd. 6, Berlin 1985. S. 290
(18) Ritter, Goerdeler, S. 428
(19) ebenda, S. 615
(20) So behauptete Goerdeler in dem gleichen Brief: „Heute noch kann ich erklären, dass ich Ihnen, Herr Generalfeldmarschall, und jedem anderen zum notwendigen Handeln entschlossenen General die erdrückende Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft, der deutschen Beamten und der deutschen Wehrmacht zuführen kann.” (ebenda)
(21) zit. nach: Dokumente zur deutschen Geschichte 1929 - 1933, hg. von Wolfgang Ruge und Wolfgang Schumann, Berlin 1975, S. 83 f.
(22) Dazu ausführlich bei: Wolfgang Ruge, Das Ende von Weimar. Monopolkapital und Hitler, Berlin 1983, und Kurt Gossweiler, Kapital, Reichswehr und NSDAP, Berlin 1982
(23) Hermann Rauschning (Gespräche mit Hitler, Zürich/Wien/New York 1940, S. 198) führt Hitlers Äußerung an: „In der Kunst der Massenbeeinflussung ist mir keiner gewachsen, auch Goebbels nicht.” Und vor den Wehr-machtbefehlshabern begründete Hitler am 22.8.1939 die Notwendigkeit, jetzt loszuschlagen, u.a. mit folgenden Erwägungen: „Wesentlich hängt es von mir ab, von meinem Dasein, wegen meiner politischen Fähigkeiten. Dann die Tatsache, dass wohl niemand wieder so wie ich das Vertrauen des ganzen deutschen Volkes hat. In der Zukunft wird es wohl niemals wieder einen Mann geben, der mehr Autorität hat als ich. Mein Dasein ist also ein großer Wert-Faktor.” (Der Prozeß gegen die Hauptkriegs-verbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 (amtlicher Text in deutscher Sprache (künftig IMT), Bd. XXVI, S. 338 ff., Dok. 798-PS.)
(24) Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaltssystems in Deutschland 1933/34, Köln und Opladen 1960, S. 914 ff.; Kurt Gossweiler, Die Röhm-Affäre. Hintergründe - Zusammenhänge - Auswirkungen, Köln 1983, S. 512 f.
(25) Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 470, 513; Hermann Foertsch, Schuld und Verhängnis. Die Fritsch-Krise im Frühjahr 1938 als Wendepunkt in der Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, Stuttgart 1951, S. 64
(26) ebenda
(27) Ausgewählte Briefe von Generalmajor Helmuth Stieff, in: VfZ 3/1954, S. 298
(28) Ausführlich dazu: Hans Bern Gisevius, Bis zum bittern Ende, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Berlin, 6. überarb. Auflage, 1984. S. 60 f.
(29) Friedrich Hossbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler, Hamburg 1949, S. 9; Hossbach, S. 44, 74
(30) Siehe Hjalmar Schacht, Abrechnung mit Hitler. Hamburg 1949, S. 9; Hossbach, S. 44, 74
(31) Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 44
(32) Wortlaut in: VfZ 2/1955; auszugsweise in: Anatomie des Krieges. Neue Dokumente über die Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges, hg. und eingel. von Dietrich Eichholtz und Wolfgang Schumann, Berlin 1969, S. 144 ff.
(33) Dietrich Eichholtz/Kurt Gossweiler, Noch einmal: Politik und Wirtschaft 1933 - 1945, in: Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft, Nr. 47 (3/1968), S. 221 f.
(34) Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939 - 1945, Bd. I, Berlin 1969, S. 16, 36 ff.
(35) IMT, Bd. XXXVI, S. 522 ff., Dok. 450 EC. - dieses Gespräch, das wie kaum ein anderes Dokument Schacht als Einpeitscher der Hitlerpolitik kennzeichnet, hat erstaunlicherweise bisher in der Literatur kaum Beachtung gefunden: (vgl. aber George F.W. Hallgarten/Joachim Radkau, Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute, Frankfurt/M.-Köln 1974. S. 304)
(36) IMT, Bd. XII, S. 598
(37) Im Rechenschaftsbericht an den 18. Parteitag der KPdSU führte Stalin am 10. März 1938 aus: „In der Politik der Nichteinmischung macht sich das Bestreben geltend, die Aggressoren bei der Ausführung ihres dunklen Werkes nicht zu hindern, ...zum Beispiel Deutschland nicht zu hindern, ...sich in einen Krieg gegen die Sowjetunion einzulassen, alle Kriegsteilnehmer tief in den Morast des Krieges versinken zu lassen, sie im stillen dazu anzuspornen, dazu zu bringen, dass sie einander schwächen und erschöpfen, dann aber, wenn sie genügend geschwächt sind, mit frischen Kräften auf dem Schauplatz zu erscheinen und, natürlich ‘im Interesse des Friedens’ aufzutreten, um den geschwächten Kriegsteilnehmern ihre Bedingungen zu diktieren.” (J. Stalin, Fragen des Leninismus. Moskau 1947, S. 687 f.)
(38) Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975, S. 296
(39) Generalmajor Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschaftsstabes des OKW
(40) Ullrich v. Hassell, bis 1937 Botschafter in Rom, Mitverschworener Goerdelers und dessen Kandidat als Außenminister
(41) Finker/Busse. Stauffenberg, S. 61 ff.
(42) Eichholtz/Gossweiler, Argument Nr. 47, S. 222; Eichholtz, Geschichte der Kriegswirtschaft, S. 50,61
(43) Der deutsche Geschäftsträger in London, der zur Goerdeler-Gruppe gehörte, gab dem englischen Außenminister Halifax am 7. September 1938 eine mündliche Erklärung ab, in der es hieß: „Nach unserer genauen Kenntnis plant Hitler einen Angriff auf die Tschechoslowakei und nimmt an, dass der daraus entstehende Krieg lokalisiert werden könnte... Hitler und Ribbentrop werden wahrscheinlich gar nicht wagen, einen Krieg zu beginnen, wenn eine offene britische Erklärung dem deutschen Volk klar vor Augen führt, dass ein Krieg mit Großbritannien im Falle eines Angriffs auf die Tschechoslowakei unvermeidlich ist. ...Wenn die erbetene Erklärung gegeben wird, sind die Führer der Armee bereit, gegen Hitlers Politik mit Waffengewalt aufzutreten. Eine diplomatische Niederlage würde einen sehr ernst zu nehmenden politischen Rückschlag für Hitler in Deutschland nach sich ziehen und würde praktisch das Ende des nationalsozialistischen Regimes bedeuten.” (Erich Kordt, Nicht aus den Akten... Die Wilhelmstraße in Frieden und Krieg. Erlebnisse, Begegnungen und Eindrücke 1928-1945, Stuttgart (1950), S. 279 ff.)
(44) Fritz Thyssen, I paid Hitler, London 1941, S. 47
(45) Ullrich von Hassell, Vom andern Deutschland, 3. Aufl., Zürich 1947, S. 86 ff.; s.a. Ritter, Goerdeler, S. 239
(46) Vgl. dazu auch die Einschätzung der Landesleitung der KPD in ihrem bereits erwähnten Aufruf (Anm. 17); s.a. Finker/Busse, Stauffenberg, S. 171 f.
(47) siehe Olaf Groehler, 1944
(48) Finker/Busse, Stauffenberg, S. 68
(49) ebenda, S. 69
(50) Ritter, Goerdeler, S. 585 ff.
(51) Über solche Versicherungen der Regierung Chamberlain berichtet Ritter (S. 258 ff. seines Goerdeler-Buches)
(52) Ritter, Goerdeler, S. 586 ff.
(53) zit. nach: Dokumente zur deutschen Geschichte, 1917-1919, Berlin 1975, S. 43
(54) Von Wilhelm II. ist überliefert, dass er noch am 3. November 1918 erklärte: „Das Kriegsende habe (durch den Ausbruch der Revolution) ein ganz anderes Aussehen erhalten. Es gehe jetzt um den Kampf gegen den Bolschewismus. Es sei nicht ausgeschlossen, „dass die Engländer mir Truppen gegen Russland anbieten.” (Sigurd von Ilsemann, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Kaiser Wilhelm II., hg. von Harald v. Koenigswald, Bd. l: Amerongen und Doorn 1918-1923, München 1967, S. 35)
(55) Ritter, Goerdeler, S. 593
(56) ebenda, S. 593 f.
(57) ebenda
(58) ebenda, S. 595
(59) ebenda, S. 596
(60) ebenda, S. 602 f.
(61) ebenda, S. 603 f.
(62) ebenda, S. 604 ff., Hervorhebung von mir, K.G.
(63) ebenda, S. 606
(64) ebenda, S. 609 f.
(65) ebenda, S. 392 f.
(66) ebenda, S. 257 ff.
(67) ebenda, S. 393 f.
(68) Hans Bernd Gisevius, Bis zum bittern Ende, Bd. 2, Hamburg 1947, S. 234 ff.; Allan Welsh Dulles, Verschwörung in Deutschland, Zürich 1948
(69) Ritter, Goerdeler, S. 394; s.a. ebenda, S. 407
(70) Ritter versucht diese Seite der Goerdeler-Konzeption vergeblich zu verwischen und dessen Einschwenken auf die auch vom bürgerlich-patriotischen Standpunkt aus verwerfliche „Westlösung” moralisch zu rechtfertigen, indem er auf der gleichen Seite (S. 394) behauptet, Goerdeler habe es als Verbrechen empfunden, nachdem der Krieg aussichtslos geworden sei, „auch nur noch das Leben eines einzigen deutschen Soldaten zu opfern.”
(71) Hier seien nur genannt: Finker/Busse, Stauffenberg; Kurt Finker, Graf Moltke und der Kreisauer Kreis, Berlin 1978
(72) Ritter, Goerdeler, S. 551
(73) ebenda, S. 396; Finker/Busse, Stauffenberg, S. 213
(74) Ritter, Goerdeler, S. 388
(75) Finker/Busse, Stauffenberg; S. 187 f.
(76) Ritter, Goerdeler, S. 408
(77) Ritter, Goerdeler, S. 407
(78) 20. Juli 1944, (s. Anweisung des Gestapochefs Müller vom 12.6.1942, a.a.O.), S. 174 ff.
(79) ebenda, S. 179
(80) Zur Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung 1933 bis 1945. Eine Auswahl von Materialien, Berichten und Dokumenten, Berlin 1957, S. 233 ff.
(81) 20. Juli 1944, S. 174
(82) ebenda, S. 175
(83) Kurt Finker, Der Platz des 20. Juli 1944 in der Geschichte des deutschen antifaschistischen Widerstandskampfes, in: Wissenschaftliche Mitteilungen der Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik 1985/I-II, S. 6
(84) Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd. 6, Berlin 1985. S. 284 f.
(85) ebenda, S. 295
(86) Olaf Groehler/Wolfgang Schuhmann, Vom Krieg zum Nachkrieg. Probleme der Militärstrategie und Politik des faschistischen deutschen Imperialismus in der Endphase des zweiten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Geschichte 26, Studien zur Geschichte des Faschismus und des antifaschistischen Widerstandes (l), hg. Dietrich Eichholtz/Klaus Mammach, Berlin 1982, S. 276
(87) Finker, Der Platz des 20. Juli 1944, S. 13
(88) Groehler/Schuhmann, Berlin 1982, S. 276 a.a.O.
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