Freitag, 22. März 2013

Terror gegen Journalisten in Mexiko

Süddeutsche Zeitung v. 21. März 2013 Wo die Wahrheit stirbt Mindestens 82 Journalisten wurden in Mexiko seit dem Jahr 2000 von Drogenkartellen umgebracht. Manche Zeitungen haben vor dem Terror kapituliert - und das Land wird eine recherchefreie Zone. Von Peter Burghardt Wieder fiel eine Front in Mexikos Krieg, es gab sogar eine Kapitulationserklärung. Die Zeitung Zócalo aus Saltillo druckte sie in der vergangenen Woche als Leitartikel auf Seite eins: "Angesichts der Tatsache, dass weder Garantien noch Sicherheit für die volle Ausübung des Journalismus bestehen, hat der Redaktionsrat beschlossen, ab sofort keine Informationen mehr über das Organisierte Verbrechen zu veröffentlichen." Die Entscheidung, heißt es da weiter, "basiert auf unserer Verantwortung, über die Integrität und Sicherheit unserer tausend Arbeiter, ihrer Familien und unserer eigenen zu wachen". Seitdem schreibt das Blatt keine Zeile mehr über die Schlacht zwischen Drogenkartellen wie Sinaloa und Zetas sowie Armee und Polizei. Es ist zu gefährlich. Kürzlich wurde Chefredakteur Francisco Juaristi mit dem Tode bedroht. Sein Name stand auf Tüchern, die Kriminelle in diesem besonders umkämpften Bundesstaat Coahuila nahe der Wirtschaftsmetropole Monterrey und der Grenze zu den USA verteilten. "Narcomantas" nennen sich solche Warnungen, Narcos sind die Rauschgiftdealer und ihre Söldner. 2010 war der 29 Jahre alte Zócalo-Reporter Valentín Valdés ermordet worden, seine Leiche lag mit fünf Einschüssen vor einem Hotel. "Das passiert denen, die nicht verstehen", stand auf einem Zettel neben dem Toten. "Diese Botschaft ist für alle." Valdés hatte darüber geschrieben, wie in demselben Hotel ein Scherge der Zetas und ein bestochener Polizist verhaftet wurden. 2012 verschwand eine Redakteurin des Blattes mit ihrem Sohn und meldete sich nach mehreren Tagen von einem unbekannten Ort. Mindestens 82 Journalisten wurden seit dem Jahr 2000 in Mexiko umgebracht, die Republik und nahegelegene Länder wie Guatemala, Honduras und El Salvador gehören für Berichterstatter zu den riskantesten Arbeitsplätzen der Welt. Vor allem in Gegenden wie Coahuila, Nuevo León, Chihuahua, Sinaloa, Veracruz und Tamaulipas kann Neugier tödlich sein. Denn dort regiert schon lange nicht mehr der mexikanische Staat, sondern eine Mafia aus Killern und Uniformierten. Unternehmen des Grauens verdienen Milliarden Dollar mit Kokain, Marihuana und Pillen, mit Erpressung und Entführung, mit Menschenhandel und Autoschmuggel. Sie haben in sechs Jahren mehr als 60 000 Menschen niedergemetzelt, seit der vormalige Präsident Felipe Calderón die Armee auf die Straßen geschickt hatte. Unter Nachfolger Enrique Peña Nieto geht das Gemetzel weiter, und im Gefecht stirbt auch die Wahrheit. Die Banden kaufen oder töten. Plata o plomo, Geld oder Kugel. Viele Berichterstatter sind da lieber vorsichtig, verständlich. Die einen schweigen, andere wehren sich. Immer wieder werden Medienhäuser sturmreif geschossen. 2011 warfen Unbekannte eine Handgranate gegen die Fassade der Zeitung Vanguardia in Saltillo. Zuletzt nahmen die Attacken noch zu. Bewaffnete Männer durchlöcherten mit Schnellfeuergewehren vom Typ AK-47 den Eingang der Redaktion von El Siglo de Torreón in der Region Coahuila, mehrere Mitarbeiter wurden verletzt. Zuvor waren fünf Angestellte verschleppt worden. Schüsse trafen außerdem die Gazette El Diario de Juárez und den Kanal 44 in Ciudad Juárez. "Was wollen Sie von uns?" Die Justiz ist in der Regel keine Hilfe, oft eher das Gegenteil. Die Staatsanwaltschaft verkündet zwar regelmäßig, sie habe Untersuchungen eingeleitet, "um die Meinungsfreiheit zu sichern", aber die Behörden sind wahlweise unfähig oder Komplizen der Gangs. El Siglo de Torreón versprach nach den erneuten Angriffen Ende Februar zwar, man werde weiter informieren, "trotz der Gewalt und der Unfähigkeit der Institutionen". Doch die Angst und die Verzweiflung wachsen. Diario de Juárez richtete sich im September 2010 auf der Titelseite an die Täter: "Was wollen Sie von uns?", fragte die Zeitung und bat um einen Waffenstillstand. "Sagen Sie uns, was Sie von uns erwarten. Wir wollen nicht noch mehr Tote. Es ist unmöglich, unter diesen Umständen unsere Funktion auszuüben." Kurz zuvor war der junge Diario-Fotograf Luis Carlos Santiago Orozco von Gewehrsalven zerfetzt worden und 2008 der Polizeireporter Armando Rodríguez Carreón. Beider Stühle im Großraumbüro stehen seither leer. Diario macht trotzdem tapfer weiter. An der Tür steht ein einsamer Wachmann. Die Kollegen von El Mañana aus Tamaulipas warfen 2012 wie jetzt Zócalo das Handtuch und verrieten in einem Kommuniqué, dass man vorerst nicht mehr über den Horror berichten werde. Ein Kommando hatte da gerade die Mauern des Verlags durchsiebt. Andere fügen sich der Selbstzensur, viele melden nur noch und recherchieren nicht mehr. Wer dennoch im Sumpf bohrt wie Ana Lilia Pérez, muss um sein Leben fürchten. Die Autorin hatte ein Buch über die Verquickung von Kriminellen und dem staatlichen Ölkonzern Pemex verfasst. Erst ein Stipendium in Deutschland verschaffte ihr eine Atempause. Die Traditionsblätter verlieren in solchen Kampfgebieten an Bedeutung, in die Lücke stoßen Websites wie Reporte Indigo und Animal Político. Oder El Blog del Narco, der chronologisch den Terror des Tages aufreiht, manchmal mit Videos. Zwei Polizisten in Ciudad Juárez exekutiert. Kopf in Nuevo Laredo gefunden. Sonst bleibt dem Publikum Twitter, etwa mit dem zehntausendfach angeklickten #mtyfollow, das aktuelle Schießereien und Morde in Monterrey bekannt gibt. Im nahezu rechtsfreien Terrain Tamaulipas wehrt sich auf Facebook der Blog Valor por Tamaulipas, Mut zu Tamaulipas. "Nicht alle ergeben sich", schrieb der anonyme Blogger zum ersten Jahrestag seiner Schöpfung im Februar. Wenige Tage später bot ein Kartell 600 000 Pesos für Hinweise auf ihn oder seine Verwandten, 37 000 Euro. "Die Kriminellen", erklärte er danach, "sind die wahre Regierung." Die Kollegin María Elizabeth Macías aus Nuevo Laredo wurde 2011 getötet, Jaime Guadalupe vom Portal Ojinaga Notícias im März 2013. "Man hat den Direktor dieses Mediums hingerichtet", hieß es dort, "wahrscheinlich ist dies unsere letzte Nachricht." URL: http://www.sueddeutsche.de/medien/terror-gegen-journalisten-in-mexiko-wo-die-wahrheit-stirbt-1.1629654 _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

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