Donnerstag, 11. November 2010

DIE PASSAGIERE DER LEEREN PLÄTZE

Von Martin Andersen Nexö [1] (1938)

Quelle: Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Auf Kommunisten-online am 11. November 2010 – Wird unser Zeitalter etwa deshalb das eiserne genannt, weil die große Mehrheit von uns mit einer Kette ums Bein zur Welt kommen?

Ich gehörte selbst zu den unschuldig Ausgestoßenen, die, sobald sie kriechen können, den Reihen der Lebenssklaven eingekoppelt werden, deren verfluchtes Los es ist, einigen wenigen Auserwählten die Erde zu einem angenehmen Aufenthaltsort zu machen. Ab und zu wurde einer von uns ausgekoppelt und der Ewigkeit übergeben — billig und ohne Zeremonien; automatisch schloss sich die Reihe wieder, und wir anderen plackten uns zur Erde gebeugt weiter ab, während unsere ausgehungerten Seelen die Luft mit ihrem Geschrei erfüllten. Wie umherirrende Vögel kreisten sie über uns, ruhelos nach einem geschützten Brutplatz jagend. So zahlreich waren sie, dass sie die Sonne verdunkelten und selbst auf die lichtesten Gegenden der Erde Schatten warfen.

Eines Tages wurde ich als unbrauchbar ausgekoppelt — und auf freiem Felde zum Sterben zurückgelassen. Es meldete sich kein Arzt, obwohl ich noch gern ein bisschen gelebt hätte, aber ein schwarzer Pfaffe kreiste in bedenklicher Nähe um mich herum. Er wartete darauf, dass ich abkratzte, damit er meine Seele einfangen könnte. Zu seiner Entschuldigung muss gesagt werden, dass er vom Staat dazu abgerichtet worden war.

Die Beute entschlüpfte ihm aber; eine gutherzige Frau sammelte mich auf und brachte mich zu einem Arzt. „Tuberkulose!" sagte er. — „Und im übrigen verbraucht, ausgezehrt, von Geburt an unterernährt! Wie lange haben Sie gearbeitet?"

„Zwanzig Jahre."

„Und wie alt sind Sie?"

„Vierundzwanzig."

„Dann haben Sie ja eigentlich auch ausgedient." „Ist gar nichts dagegen zu tun?" fragte die warmherzige Frau. „Ein Winter im Süden könnte ihn vielleicht retten. Sonst aber krepiert er."

Das Wort „krepiert" gab mir einen Stich — im Grunde ziemlich sinnlos. Warum sich an Worte hängen, wenn die Bedeutung die gleiche ist? Und die ließ sich nicht missverstehen. In der Gesellschaft ist kein Organ vorhanden, das ein unschuldig zum Tode Verurteilter anrufen und um Begnadigung bitten kann. Verbrauchter und misshandelter Pferde nimmt die Polizei sich an, ein missbrauchter und vor der Zeit ausgenutzter Arbeiter hat nur den Himmel. Ich richtete mich ohne großes Widerstreben darauf ein, meine ausgehöhlten Lungen mit ewiger Seligkeit zu füllen.

Aber eines Tages hielt ich dann doch eine gewaltige Summe Geldes in der Hand: vierhundert Kronen, für die ich nach Italien fahren sollte; die unfassbar gutherzige Frau hatte sie herangeschafft. Es ist nicht zu sagen, wie mir zumute war; dem Tode war ich entschlüpft, und dem noch Schlimmeren — der Sklaverei — ebenfalls! Wie ein Sperling, der durch wunderbaren Zufall aus dem Rachen der Katze entkommt, flatterte ich davon, halbtot, aber froh und warm im Herzen. Ich war — im letzten Augenblick — auf die Sonnenseite des Daseins versetzt worden; jetzt war ich an der Reihe, Sonne zu schlecken!

Aber war da Platz für mich? Und würden jene, die dort schon saßen, mit mir zu tun haben wollen — oder würden sie mich hetzen wie einen fremden Köter, der dort nichts zu suchen hätte?

Es war ganz merkwürdig, ins Lager der Auserwählten versetzt zu werden, zu denen, deren Leben so viel mehr galt, dass Reisen in den Süden dafür aufgewendet wurden. Wenn ich auch nur dritter Klasse fuhr, so nahm sich vor dem Hintergrund des Zwecks der Reise doch alles ganz anders aus. Mein Leben sollte gerettet werden, während alle die anderen, meine Leidensgefährten, in ihrem Elend stecken blieben! Ich empfand zugleich ein Gefühl des Auserwähltseins und der Fahnenflucht — der Treulosigkeit gegenüber allen jenen, mit denen ich ein Schicksal gemeinsam hatte.

Und ich war aus meiner Arme-Leute-Ergebenheit herausgerissen worden. Ich entdeckte rasch, dass es auf der Sonnenseite des Daseins Platz genug gab, für mich und viele andere; überall fuhren die Züge halbleer, während jene, die hätten mit dabei sein sollen, irgendwo im Dunkel saßen und verkamen. Warum wagten sie sich nicht hervor und machten ihr Recht geltend? Und warum war ich selber so geniert und verschüchtert, als ob ich ein Schmarotzer wäre?

Schon die erste Nacht der Reise von der schleswigschen Grenze bis zur Hauptstadt wurde mir zu einer unvergesslichen Lektion, mich nicht deshalb als auserwählt zu betrachten, weil ich zufällig einem Menschen begegnet war, der in mein Schicksal eingegriffen und mich aus meinem Zusammenhang, aus dem Zusammenhang des Elends herausgerissen hatte. Auf der Station, wo ich den Zug besteigen musste, vertrauten wildfremde Menschen ein krankes altes Mütterchen meiner Obhut an. Sie hatte Krebs und musste nach Kopenhagen, um operiert zu werden; todkrank war sie wohl. Es war die erste Eisenbahnreise dieser verbrauchten Frau, und eine endlose Reihe mühseliger Tage und Nächte hindurch, während langer Jahre voller Plackerei, Kindergeschrei und Kinder-zu-Grabe-Tragen hatte sie sich auf diese Reise nach der Hauptstadt gefreut. Die Reise hatte wie eine Verheißung über ihrem Dasein geschwebt, und nun wurde sie durch den Krebs Wirklichkeit — die Verheißung wurde endlich erfüllt. Sie wusste, dass es auch ihre letzte Reise sein würde, und es war erschütternd, wie in ihren Vorstellungen die Märchenhaftigkeit der ersten Reise und die Reise in den Tod durcheinander spukten und spannende Erwartung und Todesgrauen miteinander vermischten! Ann-Mari wurde meine erste bewusste Begegnung mit den Passagieren der leeren Plätze.

In Kopenhagen musste ich mich einige Tage aufhalten, um dies und jenes zu ordnen, und wohnte in einer Dachkammer draußen auf Nörrebro. Neben mir wohnte ein vertrocknetes kleines Großmütterchen, die von Gott weiß was lebte. Verwandte oder Freunde hatte sie nicht, und um Arbeit anzunehmen, dazu war sie zu alt und verbraucht. Sie sprach mit niemand und galt für geistesschwach. Ich musste mir aber Luft machen, und ob nun meine überströmende Freude sie für mich einnahm oder meine bevorstehende Reise in die mystische Fremde an etwas in ihr rührte: mir gegenüber taute sie auf und begann, von sich zu erzählen.

Als junges Mädchen war sie von einem Ort drüben in Jütland in die Hauptstadt gekommen, arm und in dünnen Kleidern, aber mit heißem Blut und vielem Mut: eine von den unzählig vielen, die ein bisschen mehr vom Leben wollen als die nackte graue Existenz. Dann hatte sie sich mit einem ihresgleichen angefreundet, einem jungen Arbeiter, der auch über das Gewöhnliche hinaus wollte. Und auf dieser Grundlage heirateten sie, und es kamen Kinder; wenn das eine die Brust losließ, konnte sie ein neues anlegen. Und so vergingen die Jahre damit, am Tage sie alle zu versorgen und nachts, wenn sie zu Bett waren, ihre Kleider instand zu halten, damit sie am nächsten Morgen sauber und heil wären. Sich mit Dingen darüber hinaus zu beschäftigen, dazu reichte niemals die Zeit. Dann begannen die Kinder eins nach dem andern zu sterben, die einen im frühen Alter, andere erst, als sie schon herangewachsen waren und sie einem eine kleine Hilfe gewesen wären. Der Mann war einmal bei der Arbeit zu Schaden gekommen, eine Reihe von Jahren kränkelte er, und als sie so lange Gutes und Schlechtes miteinander geteilt hatten, dass sie daran denken konnten, silberne Hochzeit zu feiern, starb er. Da war endlich Zeit, die Hände eine Weile in den Schoß zu legen und nachzudenken, und Madame Jensen entdeckte, dass sie eine einsame alte Frau geworden war, und begann Sehnsucht nach der Heimat ihrer Kindheit zu verspüren. Sie fing also an, auf die Reise zu sparen, aber es wollte nie gelingen, das Geld zusammenzubringen. Jedes Mal wenn sie meinte, nun den Betrag beisammen zu haben, kam die Miete oder sonst etwas dazwischen und fraß ihr das Geld vor der Nase weg. Zweimal war das Heimweh so stark in ihr geworden, dass es sie zum Bahnhof getrieben hatte;

das eine Mal wurde sie vom Schaffner vor Abgang des Zuges angehalten; das andere Mal gelangte sie bis nach Korsör, ehe sie gefasst und zurückbefördert wurde. „Das Mal war es wirklich nahe daran, dass man bestraft worden wäre — obwohl man keiner Menschenseele den Platz weggenommen hatte", sagte die Alte und bebte noch immer bei dem Gedanken daran.

Dann hatte sie es aufgegeben. „Jetzt hat man nur noch einen einzigen Wunsch — den müden Kopf bald dahin legen zu dürfen, wo keine Wagen hinkommen. Aber schön wäre es doch, wenn der Kadaver übers Wasser geführt und auf dem Friedhof zu Hause in die Erde gesenkt werden könnte. Glaubst du, dass es so entsetzlich viel kosten kann?" Sie sah sich in ihrem armseligen Loch um, als meinte sie, dass der Plunder darin für die Kosten reichen könnte. Am Kirchhofswall gab es einen hochgelegenen Winkel mit Aussicht über die Wiesen, wo sie als Hütemädchen herumgesprungen war; dort wollte sie gern liegen!

Die Begegnungen zuerst mit Ann-Mari und dann mit diesem alten Mütterchen öffneten mir die Augen für etwas, worin ich gelebt und worunter ich viel gelitten hatte, ohne es mir doch voll bewusst gewesen zu sein: für die blutige Ungerechtigkeit des Daseins. Es war nun einmal so, weil es nicht anders sein konnte; und wenn es nicht anders sein konnte, wozu sollte man sich darüber aufregen? Ohne diesen Fatalismus würden die Armen das Leben gar nicht aushalten, sie müssten entweder Selbstmord begehen oder sich erheben und alles in Stücke schlagen. Und dazu waren ihnen die Dinge wohl zu sehr ans Herz gewachsen — sie hatten sie ja selber geschaffen! Aber jetzt kam etwas Neues hinzu, was die Dinge in ein ganz anderes Licht setzte: ich war auf die positive Seite hinübergerückt worden und konnte Vergleiche ziehen. Es könnte anders sein — Madame Jensen wurde nicht deshalb aus dem Zug hinausgesetzt, weil für sie kein Platz war. Es gab leere Plätze genug!

Auf meinem Wege nach Italien hinunter wurde mir das Auge für die leeren Plätze noch stärker geöffnet. An irgendeinem kleinen Ort in den Bergen machte der Zug Aufenthalt, wir durften aussteigen und uns die Beine vertreten. Es war eine Station, wo der Zug dem Fahrplan nach nicht halten sollte; wir liefen durcheinander und überlegten, was wohl los wäre. Plötzlich — wir mochten wohl eine halbe Stunde gewartet haben — kam ein Blitzzug herangejagt; wie einen verschwommenen Streifen sahen wir hinter einer so genannten Racer-Lokomotive drei Luxuswagen mit heruntergelassenen Gardinen vorübersausen. Nichts Lebendes war auf dem bebenden Phantom zu entdecken, das sich mit einer Reihe von teuflischen Heulstößen in den Bergtunnel vor uns stürzte und verschwand. Es war ein Millionär aus Berlin, der auf dem Wege nach Ägypten war und die ganze Bahnstrecke bis Brindisi für sich gemietet hatte. Außer ihm waren nur noch sein Diener und sein Koch in dem Zuge.

Nun, nach dieser kleinen Unterbrechung durften wir weiterfahren, wir Hunderte von Reisenden; die Bahn war wieder frei. Wir hatten reichlich Gesprächsstoff bekommen, es war ein geradezu spannendes Erlebnis, das wir da gehabt hatten — ein zeitgemäßer Ersatz für die Raubüberfälle auf Reisende früherer Zeiten. Dieser und jener nahm wohl Anstoß daran, dass ein einzelner Mensch die Macht besaß, von einer der Hauptstrecken Europas allen Verkehr zu verbannen, aber zu irgendwelcher größeren Empörung wurde es nicht. Das Geld hatte seine Allmacht offenbart, Ehrfurcht war die herrschende Stimmung.

Ich vermochte es nicht zu unterlassen, zwischen diesem Millionär und den Passagieren der leeren Plätze einen Vergleich zu ziehen. Ich musste an mich selber denken, der ich so knapp dem Müllwagen entronnen war, und an alle jene, die dalagen und langsam verfaulten — aus Mangel an allem mitten im Überfluss. Allein die mir persönlich bekannten Fälle von brutal ausgestoßenen Wesen, die sinnlos zugrunde gingen, wie viele waren das! Und wohin man kam, war von allem genug; die Hotels waren nur halb belegt — oder sie waren geschlossen, weil es für die Reichen nicht die Saison war. Die Villen auf den Abhängen die Riviera entlang standen mit verschlossenen Fensterläden da. In der fruchtbaren Campagna hinter dem Küstengebirge hungerten die Bauern, während die Nahrung aus der Erde emporquoll. Die Gutsbesitzer nahmen fast den ganzen Ertrag als Pachtzins — und vernichteten einen Teil davon, um den Rest bei Preis zu halten.

Sind einem erst einmal die Augen für die leeren Plätze geöffnet worden, ist es nicht leicht, sie wieder zu übersehen. Überall gähnen sie einem entgegen, und man kann es nicht unterlassen, sie mit all denen zu bevölkern, die zu Hause bleiben mussten — den verhängnisvollerweise Zurückgebliebenen. Der Gedanke an jene, die daheim bleiben mussten, kann einem die ganze Reisefreude nehmen; ob man will oder nicht, man schleppt sie mit sich herum und bevölkert die leeren Plätze mit ihnen. Eine Reise durch die schönsten Gegenden kann auf einen wirken, als hätte sie der Teufel selber arrangiert, wenn man an alle die denkt, die niemals irgendworan Anteil haben. Fauchend vor satanischem Übermut geht die Fahrt dahin, wohin sich alle Menschen wünschen, aber die meisten Plätze sind unbesetzt. Ist es nicht Satan selbst, der den Schaffner macht? Ausgelassen ruft er über die leeren Plätze hinweg die Stationsnamen aus — für alle die, die so sinnlos und schmerzlich im Stich gelassen wurden.

Die hier auf Erden um ihr Dasein betrogen werden, sollen ja der Heiligen Schrift zufolge in einem anderen Leben entschädigt werden. Man hat hin und her diskutiert, wo sich der Schauplatz dieses anderen Lebens befände; sicher ist wohl nur das eine: dass die Mythe von Abrahams Schoß, wo der Arme als Entgelt für das, was er hier erduldet hat, ein ewiges Leben in Herrlichkeit und Freude lebe, eine Äußerung des schlechten Gewissens der Bevorzugten ist. Ich kenne Leute, die selber niemals Entbehrung gekannt haben, denen aber trotzdem bei dem Gedanken an jene, die hungern, das Essen im Munde bitter wird. „Aber wenn euer Reich kommt", sagen sie mir, „kriegen die Armen es gut!" Es ist, als ob sie es zugleich wünschten und nicht wünschten.

Viele sind es allmählich geworden, die nicht nur die leeren Plätze sehen, sondern sie auch mit Wesen bevölkern — ja, es geradezu nicht unterlassen können. Dadurch wird ein Weg der Verständigung zu den Benachteiligten gebahnt, der an jenem Tag von Bedeutung werden mag, wo die große Umwertung stattfindet. Dem, der da unten geboren ist und nur durch einen Glückszufall auf die Sonnenseite gelangte, wird stets der Weg zurück offen stehen, überall wird er die Passagiere der leeren Plätze unsichtbar um sich haben. Und ihre Gesellschaft kann so aufdringlich werden, dass er sich wieder zurückwünscht, damit sein schlechtes Gewissen Ruhe finde.---

Ich sitze im Schnellzug und rolle in den dänischen Sommer hinaus. Es ist einer dieser grauen Nebeltage, wo die Sonne an einem verborgenen Orte sitzt und silbernes Licht über das Land ausgießt. Still ist es, alles glänzt in unbestimmtem Schimmer. Die Landschaft, die sich bei unserer Geschwindigkeit träge dreht, liegt zitternd im Dunst der Wärme.

An solchem Tage — wo die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt ist und wie ein Schleier der Fruchtbarkeit über Wälder und Felder bebt und die Gewässer in wechselndem Glanz von Silber und Blei daliegen — muss man Dänemark sehen. Andere Länder haben scharfe Konturen gegen einen Himmel, der mit seinem heftigen Blauen in weite Fernen rückt. Hier aber klafft kein Abgrund zwischen Himmel und Erde, der Raum schmiegt sich eng an die Erde an, mildert ihre Züge und nimmt ihr beinah den stofflichen Charakter. Alle Farben der Landschaft sind von dieser Umarmung betaut, jede Linie ist wie der leise Strich einer himmlischen Liebkosung. An einem solchen Tag möchte man alle seine Landsleute auf eine Fahrt durch Dänemark mitnehmen — besonders aber alle jene, die das Vaterland selten oder nie von seiner schönen Seite zu sehen bekommen.

Es sind nicht sehr viele Reisende in dem Zug; in dem langen Durchgangswagen, wo ich meinen Platz habe, sind es im Ganzen wohl an die zwanzig. Alles in allem kann der Wagen etwa anderthalbhundert Fahrgäste aufnehmen. Umso mehr gähnen die leeren Plätze.

Meinen einzigen Mitreisenden stören sie gar nicht. Sobald sich der Zug in Bewegung setzt, schließt er die Tür unseres Abteils und zieht die Gardine vor. „Dann kommt vielleicht niemand mehr herein", sagt er.

Ich schließe die Augen, müde von dem Anblick der sich drehenden Felder da draußen, vielleicht auch von der gähnenden Leere, die mir wie eine Anklage von den unbesetzten Plätzen entgegen starrt und mein Gehirn in den gewohnten vergeblichen Rundlauf auf der Stelle stößt. Das Schnarchen meines Mitreisenden gibt mir den letzten Rest, ich schlafe ein.

Als ich die Augen wieder aufschlage, ist das Abteil voll von fremdartigen sonderbaren Wesen, die dasitzen und mit gläsernen Augen geradeaus starren, ohne etwas zu sehen — eine unheimliche, gespenstige Gesellschaft. Wie eine von Frost erstarrte Gruppe wirken sie, wie Wesen, die auf Eis gelegt worden waren. Mir am nächsten sitzt eine alte Frau, die ich eigentlich, so scheint es mir, kennen sollte. Erdfahl und zusammengesunken ist sie und lächelt doch, aber kalt und unbewegt. Sie sitzt bescheiden ganz gerade auf der äußersten Kante der Bank und macht jeden Stoß des Zuges mit — ein fremder Vogel, der bereit ist, bei der geringsten Veranlassung aufzufliegen. Frisch gebügelt wie ein Ferienkind sieht sie aus, das dünne Leinen besteht fast nur aus Stärke und hat gar keinen Fall um den Körper.

Auch die anderen machen es sich auf den Sitzen nicht bequem, sondern sitzen gerade und steif, als hätten sie einen Stock verschluckt, und starren vor sich hin. Es ist eine Familie: Mann, Frau und drei Kinder. Sie sehen aus wie Geschöpfe, die von Krieg und Krise so mitgenommen worden sind, dass selbst die spanische Grippe sie nicht hat haben wollen. Die Augen liegen ihnen tief im Kopfe, so dass es einem vorkommt, als starrten sie aus leeren Augenhöhlen; die leberfarbige Haut liegt straff um den Schädel gespannt. Aber auch sie lächeln abwesend und seltsam in die Luft. Sie scheinen hier in keiner Weise zu Hause zu sein; sie machen den Eindruck, als wäre ihnen alles fremd — sogar sie sich selber. Die Kleider liegen in steifen Falten - wie Leichenkleider.

Für einen Augenblick streift mich die Frage, wo sie wohl zugestiegen sein möchten, dem Fahrplan nach hat der Zug noch nirgends gehalten; aber vor dem Seltsamen ihrer Erscheinung entschwindet die Frage wieder.

Das alte Mütterchen neben mir hält die fleckigen Hände im Schoß und sieht mit einem Ausdruck erstarrter Verwunderung, einer gefrorenen Freude, die sehr wohl eines Kindes erster Entdeckung der Welt entstammen könnte, vor sich hin. Nichts auf der Welt ist so schön wie die müden Hände eines alten Mütterchens; ich muss diese Hand, die da voller Gichtknoten und Aderverdickungen ausruht, in die meinen nehmen. Sie ist eiskalt!

„Es ist wohl lange her, dass Ihr die dänische Landschaft gesehen habt, Mutter?"

Sie nickt: „Aber wie schön doch diesmal der Sommer ist!" „Wie lange ist es denn her?"

Sie blinzelt mit den Augen. Dann sagt sie flüsternd und von weither: „Man ist nicht auf dem Lande gewesen, seitdem man als achtzehnjähriges Mädchen in die Stadt kam. Aber jetzt bleibt man für immer hier."

„Dann wollt Ihr also zurück in die Heimat?"

„Auf dem Friedhof gibt es eine hochgelegene Stelle", nickt sie. „Sie hätten einen ja zu seinem Platz hingefahren, aber jetzt habe ich mir einmal selbst die Freiheit genommen. Zweiundachtzig Jahre lang hat man sich nun nach anderen gerichtet und seine eigenen Wünsche beiseite geschoben. In der linken Ecke ist eine hohe Stelle; von der kann man die Sonne untergehen sehen und weit über die Wiesen hinwegblicken. Da —"

Jetzt erkannte ich sie und begann zu begreifen! Das war ja das alte Mütterchen aus dem Hinterhof auf Nörrebro. Sie hatte lange ausgehalten.

„Ja, sie fährt aufs Land, um richtig in die Erde zu kommen", fiel die jüngere Frau ein — mit einer Stimme, als verbrenne sie sich an jedem Worte. „Sie hat ja alles hinter sich. Wir anderen reisen, weil wir gern leben möchten. Ja, entschuldigen Sie, dass ich so schlecht spreche; das kommt, weil sie mir mein Gebiss weggenommen haben und es verkauften. Ich brauchte es doch nie mehr, sagten sie. Aber dann--" Der Husten packte sie; jetzt

erst sah ich, wie entsetzlich mager sie war. Und wie ein Echo pflanzte sich der Husten auf Mann und Kinder fort — ein trockener Husten, der hohl dröhnte, als hätten sie keine Lungen.

„Das ist die Brustkrankheit", flüsterte sie, „wir haben sie alle. Aber jetzt wollen wir an die See und uns erholen; es soll so gesund an der See sein."

„Wenn es nur nicht zu spät ist", sagte die Alte. „Wenn wir armen Leute mit so was anfangen, ist es manchmal zu spät."

„Ja, wir haben aber nicht früher gekonnt. Der arme Kerl da war Bürstenbinder, und wir mussten alle mithelfen, damit die tägliche Nahrung dabei herauskam. Das legte sich dann auf die Brust."

„Er ist also nicht mehr Bürstenbinder?" Ein Gedanke streifte mich; vielleicht hatten sie es auch verstanden, die Konjunktur auszunutzen. Die ganze Familie fuhr an die See; es mussten Schieber sein, wenn auch wahrscheinlich von der kümmerlichsten Sorte.

„Nein, wir sind keine Bürstenbinder mehr; gleich nach dem Kriege kam doch die Teuerung, und die half uns über alle Schwierigkeiten hinweg. Wir schafften es überhaupt zu gar nichts mehr, nicht einmal zum trockenen Brot — so erbärmlich war es mit unserem kleinen Verdienst geworden. Aber dann begegneten wir dem Propheten vom leeren Raum! Der hat keinen Magen, tatsächlich nicht! Er hat uns rasch zu seiner Gemeinde bekehrt. Da nehmen sie gar keine Nahrung zu sich, aus Protest dagegen, wie teuer alles geworden ist — und dann kann es einem ja egal sein, was das Essen kostet. Und die Kleidung braucht man auch nicht auf, denn die neuen Kleider, die jeder bekommt, wenn er in die Gemeinde aufgenommen wird, sind so beschaffen, dass sie niemals erneuert zu werden brauchen. Und da außerdem alle Gemeindemitglieder Freifahrt haben, meinten wir, dass wir es uns wohl leisten könnten, alle fünf an die See zu fahren."

Freifahrt? Ich glaubte doch die Staatsbahn zu kennen. „Haben Sie denn keine Fahrkarten?" fragte ich bekümmert.

„Nein — was sollten wir denn damit? Großmutter da hat auch keine, sie gehört auch zu uns — nicht wahr, Mutter? Ja — wir erkennen einander immer an den Augen!"

In demselben Augenblick kam der Schaffner. Er weckte den schlafenden Handelsreisenden und lochte seine und meine Fahrkarte. Dann ging er weiter, ohne die sechs anderen überhaupt nur anzusehen.

Mein dicker Reisegefährte schmatzte einmal laut und schlief weiter. Und die beiden Frauen begannen ihr Gespräch von neuem — von all den Entbehrungen und Leiden, die sie durchgemacht hatten, bevor sie zu dem neuen Leben hinfanden. Der Mann und die drei Kinder saßen nach wie vor unbeweglich still; von ihm hörte man nichts als ein einförmiges Röcheln, die Kleinen schienen nicht einmal zu atmen. Aber die beiden Frauen hatte nichts unterzukriegen vermocht. Eine endlose Leidensgeschichte war es, was wie ein Wechselgesang über ihre Lippen ging: ein Lied der Art, wie es von jedem einzelnen der Zehntausende von Schicksalen gesungen werden kann.

„Ja, und sich vorzustellen", sagte die Alte und wiegte sich leise, „dass wir jetzt so bevorzugt sind! Zweimal schon, als die Sehnsucht zu stark geworden war, hatte man sich in den Zug gesetzt. Die Züge fuhren doch jeden Tag, und Platz war auch genug da, aber hinausgeschmissen haben sie einen trotzdem. Und nun -"

„Ja, alle leeren Plätze überall auf der Erde gehören uns", sagte die jüngere Frau, zu mir gewandt. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass sie deine Bücher wohl lesen möchten, dir aber nichts zum Leben geben wollen — und deshalb gehörst du auch zu uns. Denn bei uns gibt es keine Teuerung und haben alle gleich viel. Wir kennen keinen Unterschied zwischen hoch und niedrig, alle sind gleich vor dem Propheten vom leeren Raum."

Sie zog etwas, das wie ein Totenschein aussah, aus der Tasche, aber da pfiff der Zug, durchdringend und lange, und ich musste mich um mein Gepäck kümmern. Mein dicker Mitreisender gähnte und streckte sich, ich musste ihm seinen Koffer herunterreichen.

Und ehe ich mich noch umsehen konnte, waren die Passagiere der leeren Plätze fort.

Draußen auf dem Bahnsteig sah ich sie wieder, zusammen mit unzähligen anderen, die offenbar der gleichen Welt angehörten. Die eigentlichen Reisenden verschwanden beinahe unter ihnen, so viele waren es - kein Wunder, dass die Staatsbahn Defizit macht! Während ich mich bescheiden in der dritten Klasse niederließ und mir mit dem Ellbogen einen engen Platz verschaffte, besetzten sie das große Promenadendeck der Fähre, das zwei oder drei Luxusreisenden vorbehalten ist, und ließen sich dort nieder, als sei diese unbenutzte Luxuswelt droben im Sonnenlicht gerade ihnen reserviert.

Und damit beruhigte sich mein schlechtes Gewissen!

1916/1946

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