Donnerstag, 2. September 2010

Vor dem Staatsbankrott?

Ökonomie. Hintergründe und Perspektiven der
Staatsverschuldung (Teil 1)

Sahra Wagenknecht

Die Beinahe-Pleite Griechenlands hat das Problem der Staatsverschuldung in den Fokus der
öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Auch Spanien, Portugal und andere Euro-Länder
müssen seit einiger Zeit erheblich höhere Zinsen auf ihre Anleihen zahlen, die das angebliche
Risiko einer Zahlungsunfähigkeit abdecken sollen. In internationalen Gremien wird laut über
neue Regeln zur Ermöglichung von Staatsinsolvenzen nachgedacht. Deutschland hat zwar
bisher keine Probleme, seine Anleihen auf den internationalen Märkten zu niedrigen Zinsen
abzusetzen. Aber auch hierzulande hat die Neuverschuldung des Bundes mit annähernd 100
Milliarden Euro in diesem Jahr historisch einmalige Höhen erreicht. Daß ein wachsender Teil
davon in Nebenhaushalten versteckt wird, macht die Lage nicht besser. Viele Kommunen
leben mittlerweile mit Nothaushalten. Sie schließen Schwimmbäder, Theater und Schulen,
während die Zinsverpflichtungen auf ihre Schulden sakrosankt sind. Die Frage drängt sich
auf: Wie lange kann das noch so weitergehen? Kann der Staat seine Schulden unbegrenzt
erhöhen? Und wenn nicht, wo ist die Grenze, und was passiert, wenn sie erreicht ist?
Zweifelhafte »Schuldenbremse«
Wie hältst du’s mit der Staatsverschuldung? Es gibt keinen Grund, diese Frage generell
ablehnend zu beantworten. In einem konjunkturellen Abschwung ist eine kreditfinanzierte
Ausweitung der Ausgaben für öffentliche Investitionen oder auch soziale Leistungen ein
sinnvolles, kurzfristig wirksames Mittel, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu erhöhen
und so dem wirtschaftlichen Abwärtstrend entgegenzuwirken. So unsinnig es wäre,
Unternehmen dafür zu kritisieren, daß sie Investitionen mit Krediten finanzieren, so falsch ist
die generelle Denunziation öffentlicher Kreditaufnahme als Ausdruck »schlechten
Wirtschaftens«.
Tatsächlich ist es seit jeher ein Markenzeichen des Neoliberalismus, mittels eben dieser
Denunziation eine Einschränkung öffentlicher Ausgaben zu erzwingen und so einerseits durch
Sozialabbau auch das Lohnniveau abzusenken, andererseits durch Kaputtsparen des
öffentlichen Dienstes, Einschränkung öffentlicher Investitionen und Privatisierungen dem
privaten Kapital immer größere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu überlassen. Dieses
Geistes Kind ist auch das unsägliche Konstrukt der von der großen Koalition eingeführten
»Schuldenbremse«. Sofern Linke Teil einer Regierung auf Länderebene sind und die
Einnahmen des Bundes zunächst nicht maßgeblich beeinflussen können, sollte es sich daher
von selbst verstehen, daß die Vorgaben der »Schuldenbremse« mit allen erdenklichen Mitteln
unterlaufen und gebrochen werden. Ohne dies ist eine sozial verantwortbare Politik unter
heutigen Bedingungen überhaupt nicht mehr möglich.
Eine generelle Verteufelung öffentlicher Verschuldung und ein Kniefall vor dem Altar der
Haushaltskonsolidierung sind daher ebenso unsinnig wie würdelos. Das bedeutet allerdings
nicht, daß jede Ausweitung öffentlicher Kreditaufnahme mit fortschrittlicher Politik
gleichgesetzt werden darf. Eine kreditfinanzierte Senkung von Steuern für Besserverdienende
etwa hat nicht den geringsten positiven volkswirtschaftlichen Effekt, sondern führt lediglich
zu verstärkter Vermögensbildung und erhöht den Druck in Richtung künftiger
Ausgabenkürzungen. Genau das erleben wir zur Zeit in Deutschland: Die jahrelange Mästung
der Reichen und der Konzerne durch immer neue Steuergeschenke haben weder die
konsumtive noch die investive Nachfrage auf dem Binnenmarkt erhöht, die öffentlichen
Einnahmen allerdings deutlich schrumpfen lassen. Mit Verweis darauf wird heute das rüde
Sparpaket der Regierung gerechtfertigt, das den Konsum noch weiter strangulieren wird.
Verteilungsfrage entscheidend
Auch in umgekehrter Richtung ist die Gleichsetzung von »expansiv« und »kreditfinanziert«
nicht zulässig. Die öffentliche Hand kann ohne zusätzliche Kreditaufnahme eine expansive
(d.h. auf Nachfragesteigerung gerichtete) Politik betreiben: durch Umverteilung von oben
nach unten. Wer 1000 Euro im Monat verdient, wird jeden zusätzlichen Euro, den er
bekommt, dafür nutzen, sich ein etwas weniger beengtes Leben zu gönnen. Wer eine Million
Euro im Jahr nach Hause trägt, merkt dagegen kaum, ob er noch mal 10000 Euro obendrauf
bekommt; er wird das Geld zum großen Teil sparen, weil er sich auch so schon alles leisten
kann, was er mag. Es ist eine für nahezu alle Volkswirtschaften und Zeiten bestätigte
empirische Tatsache: Je höher das individuelle Einkommen, desto mehr davon wird gespart.
Deshalb steigt die private Sparquote einer Gesellschaft mit wachsender Ungleichheit – es sei
denn, das Kreditsystem ermöglicht den weniger Verdienenden, ihre stagnierenden oder
sinkenden Einkommen durch wachsende Verschuldung aufzubessern. Aber dazu kommen wir
noch.
Generell jedenfalls gilt: Je stärker sich Einkommen am oberen Ende konzentriert, desto
weniger von diesem Einkommen fließt als Nachfrage nach Äpfeln, Lammfilets, iPhones,
Turnschuhen oder Friseurdienstleistungen in den volkswirtschaftlichen Kreislauf zurück. Aus
eben diesem Grunde würde beispielsweise das Einkommenssteuerkonzept der Linken die
Konsumnachfrage im Binnenmarkt erhöhen, obwohl die staatlichen Einnahmen insgesamt
nahezu gleich blieben. Die expansive Wirkung käme einfach daher, daß es Haushalte mit
relativ hoher Konsumquote (unterhalb 60000 Euro Jahreseinkommen) entlastet, während es
Haushalte mit niedrigerer Konsumquote (oberhalb 60000 Euro Jahreseinkommen) belastet.
Noch wirkungsvoller zur Erhöhung der Konsumnachfrage wäre es, etwa die Besteuerung von
Zinsen und Dividenden auf 70 Prozent zu erhöhen und damit eine Erhöhung der Hartz-IVSätze
und der Renten zu finanzieren. Die letztlich entscheidende Frage für die Höhe der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist also die Verteilungsfrage, nicht die öffentliche
Kreditaufnahme.
Woher kommen die Schulden?
Die öffentliche Verschuldung ist in allen Industrieländern seit Mitte der siebziger Jahre
kontinuierlich angewachsen. Grafik 1 zeigt einen gewichteten Durchschnitt der Verschuldung
von 21 OECD-Staaten und die Entwicklung ihres Primärdefizits (Neuverschuldung abzüglich
Zinsdienst). Grafik 2 zeigt die Veränderung des BIP-Anteils der öffentlichen Verschuldung
für Deutschland seit Beginn der neunziger Jahre.
Am Entwicklungspfad der öffentlichen Verschuldung läßt sich deutlich erkennen, daß die
Staatsschulden nicht primär als Ergebnis eines klassisch keynesianischen Gegensteuerns in
konjunkturellen Schwächephasen entstanden sind. Wie aus Graph 1 ersichtlich, war das
Primärdefizit der Industrieländer vielmehr von 1975 bis 1997 (mit Ausnahme von zwei
Jahren) konstant negativ. Erst für die Zeit danach läßt sich ein konjunkturelles Auf und Ab bei
der staatlichen Kreditaufnahme beobachten, bei allerdings im Trend immer weiter
ansteigender Gesamtverschuldung.
Tatsächlich erhielt die öffentliche Verschuldung seit Beginn der achtziger Jahre eine
volkswirtschaftliche Funktion, die mit keynesianischer Wirtschaftspolitik wenig zu tun hatte.
Die horrende Schuldenlast, die sich die öffentlichen Haushalte seither aufgeladen haben, ist
vielmehr Ergebnis ausgerechnet jener neoliberalen Wende, die sich ausdrücklich durch die
Verdrängung keynesianischer Ideen und deren Ersetzung durch eine Ideologie des
Marktradikalismus und schwachen Staates à la Milton Friedman auszeichnete.
Zentrales Ziel der neoliberalen Wende, die in den meisten Ländern Anfang der achtziger
Jahre einsetzte, war die Wiedererhöhung der Profitrate, – modern ausgedrückt: der
Eigenkapitalrendite großer Unternehmen. Die Mittel zu diesem Zweck waren weltweit
ähnlich: Deregulierung der Arbeitsmärkte, Schwächung der Gewerkschaften, radikale
Senkung von Unternehmens- und Vermögenssteuern und Minimierung beziehungsweise
Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme. Das alles vollzog sich in einem längeren
Prozeß und in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Tendenziell
aber hatte diese Politik überall die gleichen Folgen: die Löhne wurden von der Steigerung der
Produktivität abgekoppelt, die sozialen Leistungen verschlechterten sich, und die staatlichen
Einnahmen schrumpften. Im Ergebnis sank die Massenkaufkraft und damit eine zentrale
Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Ohne ausreichenden Absatz allerdings
auch keine steigenden Kapitalrenditen, ganz gleich wie generös die Unternehmen auf der
Kostenseite entlastet werden. Das neoliberale Modell hatte daher von vornherein ein
existentielles Problem zu lösen: Es mußte für volkswirtschaftliche Nachfrage sorgen, die nicht
zugleich als Kostenfaktor in den Unternehmensbilanzen zu Buche schlug. Höhere Löhne oder
steuerfinanzierte Sozialleistungen kamen dafür nicht in Frage, sehr wohl aber
kreditfinanzierte Staatsausgaben.
Das Problem der öffentlichen Verschuldung besteht allerdings darin, daß sie nur so lange
expansiv – also nachfragesteigernd – wirkt, solange das Primärdefizit negativ ist, die
Neuverschuldung also die Zinsausgaben übersteigt. Denn aufgrund der Vermögensverteilung
(nach den Zahlen von Merrill Lynch verfügt in den Industrieländern etwa ein Prozent der
Haushalte über rund die Hälfte des gesamten Geldvermögens) fließen Zinszahlungen zum
übergroßen Teil in die erneute Vermögensbildung und eben nicht als Kaufkraft auf die
Gütermärkte. Die Steuern dagegen werden überwiegend von den Mittelschichten, mit dem
wachsenden Gewicht von indirekten Steuern auch von Geringverdienern bezahlt. Wird daher
auch nur ein Teil der Zinsen aus dem Steueraufkommen beglichen, reduziert das die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage zusätzlich.
Ein dauerhaft negatives Primärdefizit bedeutet, daß sowohl Zinsen als auch Tilgungen durch
immer neue Schulden finanziert werden und dann noch ein bestimmter Betrag an
Neuverschuldung hinzukommt, der tatsächlich nachfragewirksam wird. Das Problem ist, daß
sich eine solche Situation nicht unbegrenzt aufrechterhalten läßt. In der Ökonomie spricht
man bei derartigen Finanzierungsformen von Ponzi-Finanzierungen: Im Kern sind das
spekulative Schneeballsysteme, die auf einem exponentiellen Wachstum der
Gesamtverschuldung basieren und eben deshalb irgendwann zusammenbrechen müssen. Denn
je höher die Gesamtverschuldung, desto höher bei gleichem Zinssatz auch der Betrag an
neuen Schulden, der allein zur Bedienung der Zinsen aufgenommen werden muß, desto
größer also die notwendige Neuverschuldung, wenn zusätzlich auch noch eine
nachfragewirksame Komponente erhalten bleiben soll. Sinken die Zinsen, entspannt sich die
Situation, aber solange die Zinsen von den privaten Banken und nicht von einer öffentlichen
Institution festgesetzt werden, hat der Staat auf diese entscheidende Komponente keinerlei
Einfluß.
Schulden statt Löhne
Als Mitte der neunziger Jahre die staatlichen Spielräume zur Stabilisierung der Nachfrage
wegen der anwachsenden Schuldenlast ausgeschöpft schienen, rückte insbesondere in den
USA eine andere Strategie in den Vordergrund: die Verschuldung der privaten Haushalte.
Passend zum Privatisierungstrend handelt es sich im Grunde um eine Art neoliberalen
»Privat-Keynesianismus«: Nicht der Staat nimmt rote Zahlen in Kauf, um der Wirtschaft
mehr Nachfrage zu verschaffen, sondern die Verbraucher selbst halsen sich einen wachsenden
Berg Schulden auf, um ein Konsumniveau zu finanzieren, das sie sich mit ihren Löhnen und
Gehältern bei weitem nicht leisten könnten. Darin lag letztlich der Kern des
Hypothekenbooms in den USA, denn die Hauskredite dienten in Wahrheit nur zu geringen
Teilen tatsächlich dem Bau und Kauf neuer Häuser. Mehrheitlich wurden vorhandene Häuser
mit Blick auf ihre fiktiven Wertsteigerungen mit immer größeren Summen beliehen, die
entweder der Refinanzierung alter Schulden (nicht zuletzt von höher verzinslichen
Kreditkartenschulden) dienten oder direkt in den Konsum flossen. Ohne diesen Mechanismus
sähe es auf dem US-Binnenmarkt schon seit vielen Jahren nicht besser aus als auf dem
deutschen, denn der mittlere Stundenlohn etwa im amerikanischen verarbeitenden Gewerbe
liegt mit 16,57 Dollar heute inflationsbereinigt auf dem Niveau der späten 60er Jahre.
Allerdings war der Trick, Löhne durch Schulden zu ersetzen, keine US-amerikanische
Besonderheit, wenn er auch in den USA wahrscheinlich am exzessivsten ausgelebt wurde.
Aber auch in Großbritannien, Irland oder Spanien (und mit Abstrichen in vielen anderen EUStaaten)
war die Verschuldung der privaten Haushalte in den vergangenen zehn bis zwanzig
Jahren die wichtigste Stütze des Binnenmarktes und des privaten Konsums. Auch das
Wachstum in den osteuropäischen Ländern beruhte zu erheblichen Teilen darauf. Ohne diesen
»Konjunkturmotor« wäre das neoliberale Modell viel früher an seine Grenze gekommen, und
die aktuelle Weltwirtschaftskrise hätte entsprechend eher begonnen.
Die private Schuldenblase hatte allerdings auch noch eine zweite Komponente, die oft
übersehen wird. Nicht nur die Durchschnittsfamilien von Riga bis Chicago luden sich
wachsende Schulden auf, sondern auch viele Wirtschaftsunternehmen, und zwar nicht zur
Finanzierung von Investitionen, sondern zum Finanzieren teurer Übernahmen,
Dividendensteigerungen und Aktienrückkaufprogramme, wobei es in allen Fällen darum ging,
die Ausschüttungsquote an die Anteilseigner zu erhöhen. Von Firmenkäufen durch Private-
Equity-Gesellschaften ist dieses Muster bekannt: Das Unternehmen wird mit massiven
Schulden belastet, die sich die »Heuschrecke« dann als Sonderdividende ausschüttet. Dieses
Finanzierungsmodell haben auch große Aktiengesellschaften in den vergangenen fünfzehn
Jahren umfangreich praktiziert: Aktienrückkäufe und Dividendenerhöhungen wurden auf
Pump finanziert, dadurch stieg der Aktienkurs, und die Manager kassierten Millionen aus
ihren Aktienoptionen. Auf diese Weise wurden auch die Vermögensbildung der oberen
Zehntausend und deren Luxuskonsum zumindest teilweise kreditfinanziert, nur daß in diesem
Fall die Schulden nicht auf denen lasten, die das Geld letztlich bekamen, sondern sie
verblieben in den Bilanzen der Unternehmen und lagern da bis heute (sofern die Unternehmen
nicht, wie die zwei großen US-Autobauer, bereits in Insolvenz gegangen sind und
anschließend vom Staat gerettet wurden).
Infolge der geschilderten Prozesse sind die Schulden von Firmen und Verbrauchern in den
USA seit 1999 um 12904 Milliarden Dollar gestiegen, ungleich schneller als das nominale
BIP. Auch das macht deutlich, daß diese Kredite eben nicht produktiv investiert, sondern zu
großen Teilen schlicht »aufgegessen« wurden. Entsprechend ist das Verhältnis der Schulden
der nichtfinanziellen Privatsektoren zum BIP (ohne Pensionsverpflichtungen) in den USA von
127 auf 170 Prozent angewachsen. Die Verhältnisse in Europa sind ganz ähnlich. Im Euro-
Raum haben die Schulden der privaten Verbraucher und nichtfinanziellen Firmen seit 1999
um 8 066 Milliarden Euro zugenommen und sind damit von 114 Prozent auf ebenfalls 170
Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen. Viel schneller übrigens als die
Staatsschulden, die im Schnitt immer noch bei unter 100 Prozent des BIP liegen, sich dieser
Marke allerdings mit hoher Geschwindigkeit nähern.
Allerdings gilt auch für die Verbraucher: Expansiv wirkt die kreditfinanzierte
Konsumnachfrage nur, solange die Neuverschuldung die Zinszahlungen übersteigt. Auch die
Konsumenten – als Gemeinschaft! – müssen sich also als Ponzi-Finanzierer betätigen und
Zins und Tilgung ihrer alten Kredite mit immer neuen, größeren Krediten finanzieren, wie sie
es insbesondere in den USA tatsächlich über viele Jahre getan haben. Aber irgendwann ist
auch hier das Limit erreicht. Und in dem Augenblick, in dem neben stagnierenden Löhnen
auch noch Zins und Tilgung die für Konsumzwecke verfügbaren Einkommen dezimieren,
verkehrt sich die Dynamik mit aller Härte und Brutalität ins Gegenteil.
Wer die Zeche zahlt
Drei Jahrzehnte Neoliberalismus haben also einerseits durch fortgesetzte Umverteilung von
unten nach oben die privaten Geldvermögen ungleich schneller anschwellen lassen als die
Wirtschaftsleistung und so eine riesige Vermögensblase produziert. Das war aber überhaupt
nur möglich, weil sich gleichzeitig eine ebenso große Schuldenblase aufzublähen begann, die
diese Vermögen wieder in wirtschaftliche Nachfrage verwandelte. Diese Schuldenblase
wurde zunächst hauptsächlich von den Staaten getragen, seit Mitte der neunziger Jahre
übernahmen die privaten Schulden von Verbrauchern, aber auch des Unternehmenssektors
diesen Part. Grafik 3 zeigt die Dimension dieser in drei Jahrzehnten verfehlter Politik
aufgebauten Vermögens- und Schuldenblase:
Am steilsten angestiegen sind, wie die Graphik zeigt, Anlagen in Unternehmensbonds und
Kreditpapiere, also Vermögensanlagen, denen direkt die gewachsene private Verschuldung
gegenübersteht. Indirekt gibt es diesen Zusammenhang natürlich auch für normale
Bankdepositen, sofern die Bank mit dem Geld dann Unternehmensanleihen oder verbriefte
Hypothekenkredite gekauft hat.
Es kann fest davon ausgegangen werden, daß ein Großteil dieser privaten Schulden »faul« ist
in dem Sinne, daß er niemals zurückgezahlt werden kann. Nicht nur, weil die
volkswirtschaftlichen Auswirkungen verheerend wären, wenn die verschuldeten Haushalte
weltweit jetzt tatsächlich über Jahrzehnte ihren Konsum so stark minimieren würden, daß sie
Zins und Tilgung ihrer übermäßigen Schulden zahlen könnten. Sondern ein Großteil von
ihnen wäre dazu gar nicht in der Lage. Das gilt für US-amerikanische Subprime-
Hypothekenschuldner ebenso wie für die Besitzer überteuert gekaufter und gern zu 120
Prozent beliehener Eigenheime in Irland oder die oftmals in Euro verschuldeten Haushalte in
Osteuropa. Und es gilt auch für einen nicht geringen Teil der verschuldeten Unternehmen,
zumal in einem wirtschaftlichen Umfeld von Stagnation oder Rezession.
Diese überwiegend verbrieften Kredite, die sich über Fonds teils direkt im Besitz der
Haushalte, großenteils aber im Besitz von Versicherungen, Banken und deren Finanzvehikeln
befinden, müssen also irgendwann abgeschrieben werden. Kredite können aber nur
abgeschrieben werden, wenn in gleicher Höhe auch Vermögenswerte abgeschrieben werden,
entweder jene Vermögen, die mit den Schulden entstanden sind und auf ihnen basieren, oder
die anderer Leute. Sofern die wertlos gewordenen Schrottpapiere von privaten Anlegern
selbst gehalten werden, ist das trivial. Auch bei Hedge Fonds und anderen selbständigen
Finanzinvestoren sind die Konsequenzen noch überschaubar, auch wenn Pleiten der größeren
von ihnen das Finanzsystem durchaus erschüttern können. Ganz abgesehen von den
Auswirkungen auf die privatisierte Alterssicherung von Millionen Menschen. Wenn etwa
große US-Pensionsfonds mit der Abschreibung der Kreditpapiere auch die Rentenzahlungen
zusammenstreichen, bluten definitiv die Falschen für den Kreditirrsinn der letzten Jahrzehnte.
Richtig kompliziert wird es in dem Augenblick, wo Großbanken und große Versicherungen
die Halter sind. Ein Durchgriff auf private Vermögen würde im Falle von Bankenpleiten
geschehen, weil dann deren Aktionäre und Gläubiger ebenfalls ihr Geld verlieren. Das träfe
sicher überwiegend die Richtigen, das Problem ist nur, wie in einem solchen Fall die
normalen Spareinlagen gesichert werden können und ein Flächenbrand verhindert wird. Mit
Verweis darauf werden Bankenpleiten – mit Ausnahme von Lehman Brothers – bekanntlich
bisher von der Politik verhindert.
Die Schuldenblase verlagert sich
Seit Beginn der Krise halten die Staaten daher das Platzen der Schuldenblase (und damit auch
der Vermögensblase) auf. Sie tun dies dadurch, daß sie einen erheblichen Teil der faulen
privaten Schulden übernehmen, sie also in Staatsschulden verwandeln. Die über eine Billion
Euro, die allein in Europa zwischen 2007 und Beginn 2010 für die Bankenrettung ausgegeben
wurden, bedeuten faktisch die Übertragung von über einer Billion Euro fauler privater
Schulden auf die öffentliche Hand. Es spielt dabei keine Rolle, ob die öffentliche Hand die
Papiere bzw. ihre Risiken selbst übernimmt wie im Rahmen des irischen Bad-Bank-
Programms oder bei Verstaatlichung toxischer Müllhalden wie der Hypo Real Estate. Oder ob
die Banken vom Staat mit Kapitalhilfen und Krediten am Leben erhalten werden und ihnen
dadurch ermöglicht wird, einen Teil ihrer toxischen Papiere abzuschreiben. Der Sache nach
geschieht in beiden Fällen das gleiche: aus privaten Schulden werden öffentliche Schulden;
die Vermögen bleiben dadurch zunächst unangetastet.
Die Schulden- und Vermögensblase wird allerdings auf diese Weise nicht kleiner, sie wird
nur verlagert. Es ist offensichtlich, daß das nicht auf Dauer gut gehen kann. Wenn man
bedenkt, daß sich allein die privaten Anlagen in Kreditpapiere und Unternehmensbonds
weltweit seit 1980 auf 43 Billionen Dollar mehr als verzwanzigfacht haben (die Anlagen der
Banken in entsprechenden Papieren nicht gerechnet) bei einem globalen BIP-Wachstum von
weniger als einem Viertel dessen, läßt sich ahnen, welche Dimension das notwendige
Abschreibungsvolumen hat. Und damit der Umfang der Einschnitte ins Vermögen, die
irgendjemand am Ende tragen muß und tragen wird.
Tatsächlich sahen sich die Staaten der Industrieländer zu Beginn der Krise mit einer doppelten
Aufgabe konfrontiert: Sie mußten einerseits versuchen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage,
die weggebrochen ist, seit die private Schuldenblase nicht mehr wächst, durch öffentliche
Ausgaben auszugleichen. Und sie übernahmen und übernehmen anderseits die faulen
Schulden der Vergangenheit, um den Finanzsektor vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Diese Situation mußte in einer eskalierenden Staatsverschuldung münden.
In der EU stiegen die Staatsschulden von 2007 bis 2009 um 20 Prozent: nämlich um 1,4
Billionen Euro auf 8,7 Billionen Euro. Die Schuldenstandsquote erhöhte sich von 59 Prozent
auf 74 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In der Euro-Zone sind es bereits knapp 90
Prozent. Und das ist erst der Anfang, denn in den Kellern der Banken lagert noch billionenschwerer Müll.

Wege aus der Krise
Ökonomie. Hintergründe und Perspektiven der
Staatsverschuldung (Teil 2 und Schluß)
Sahra Wagenknecht
Inzwischen wird deutlich, daß zumindest in Europa der Ausgleich von Nachfrageeinbrüchen
durch expansive staatliche Ausgabenpolitik nicht mehr auf der Agenda steht. Die
gegenwärtigen Sparprogramme bedeuten den sicheren Weg in den nächsten wirtschaftlichen
Einbruch und eine hohe Deflationsgefahr. In einer Deflation allerdings werden Schulden, die
ja ihren Nominalwert behalten, umso drückender, und die Realzinsen steigen, selbst wenn die
Nominalzinsen niedrig bleiben. Auch ist nicht unwahrscheinlich – und für mehrere Euro-
Länder bereits Realität –, daß unabhängig von den Leitzinsen der Europäischen Zentralbank
(EZB) die Kapitalmärkte den Staaten aufgrund ihrer wachsenden Defizite höhere Zinsen
abverlangen werden. Das würde das weitere Schuldenwachstum zusätzlich beschleunigen.
Das heißt aber: Selbst wenn wir von weiteren Bankenrettungen und einer fortgesetzten
Übertragung fauler privater Schulden auf die öffentliche Hand absehen, ist die staatliche
Finanzsituation explosiv.
Gesetzt, alle Länder der Euro-Zone könnten ab sofort einen ausgeglichenen Primärhaushalt
erreichen (was nicht nur wirtschaftlich unsinnig wäre, sondern real auch nirgends in
Reichweite ist), würde die staatliche Schuldenquote weiterhin jedes Jahr um die Differenz
zwischen Realzins und Wachstumsrate anschwellen. Bei Nullwachstum und Nullinflation
wäre das aktuell eine Zunahme der staatlichen Schuldenquote um etwa vier
Bruttoinlandsprodukt (BIP)-Prozentpunkte pro Jahr. Steigen die Kapitalmarktzinsen oder
kommt die Wirtschaft tatsächlich in eine neue Rezession oder Deflation, wäre es noch
deutlich mehr. Bei ausgeglichenem Primärhaushalt wohlgemerkt, den kein Land in einer
Rezession – selbst bei den verrücktesten Sparbemühungen – erreichen wird. Ganz abgesehen
davon, daß es, je schlechter die Wirtschaftslage ist, desto wahrscheinlicher zu neuen akuten
Problemen bei Banken oder Versicherungen kommt, die die öffentliche Hand dann zusätzlich
belasten dürften. Spaniens Staatsanleihen etwa stehen in erster Linie wegen der Probleme der
spanischen Banken unter Druck, die in erheblicher Größenordnung faule Kredite aus der
vorangegangenen Immobilienblase in ihren Bilanzen haben. Wie selbstverständlich wird im
Handel mit spanischen Anleihen eingepreist, daß der Staat im Notfall seine Banken stützen
wird.
Es braucht also keiner prophetischen Fähigkeiten, um vorherzusagen, daß es ein »Weiter so«
in der Frage der Staatsverschuldung nicht geben kann. Drei Jahrzehnte neoliberaler
Umverteilung von unten nach oben haben eine globale Vermögens- und Schuldenblase von
historisch beispielloser Dimension erzeugt, und die entscheidende Aufgabe der Zukunft
besteht darin, aus dieser Vermögens- und Schuldenblase geordnet die Luft wieder
herauszulassen. Und zwar so, daß es möglichst genau jene Vermögen trifft, deren enormer
Zuwachs tatsächlich auf der Blasenökonomie der letzten drei Jahrzehnte beruht, also auf
Dividenden, Zinseszins und Spekulation. In Deutschland beispielsweise sind die privaten
Geldvermögen allein seit der Jahrtausendwende von 3,6 auf 4,6 Billionen Euro
angeschwollen. Diese zusätzliche Billion befindet sich nahezu ausnahmslos auf den Konten
der oberen Zehntausend, also der Millionäre und Multimillionäre, während die Spareinlagen
der Mehrheit der Bevölkerung eher geschrumpft sind. Diese Billion ist ein Beispiel für das,
was ich mit Vermögensblase meine.
Die faulen Schulden müssen also so abgeschrieben werden, daß in der Gegenbuchung diese
blasenbasierten Vermögen verschwinden – und nicht die Spargroschen der Mittelschicht.
Die Schuldenblase wird irgendwann platzen. Die ganze Frage ist, auf welche Weise, zu
wessen Lasten und mit welchen volkswirtschaftlichen Folgewirkungen.
1. Erste Variante: Weiter so bis zum Crash
Eine denkbare (und verheerende) Variante ist die, die sich zur Zeit in Europa andeutet: Die
Staaten versuchen, durch irrwitzige Sparprogramme ihrer eskalierenden Defizite Herr zu
werden. In der Folge erlebt die Wirtschaft einen erneuten Einbruch, verstärkt eventuell durch
eine Deflation. Spätestens das dürfte bald wieder größere Finanzinstitute ins Wanken bringen,
die dann erneut mit Staatsgeld gerettet werden. Einige Euro-Länder, die das besonders betrifft
und deren Defizite besonders schnell steigen, werden von den Kapitalmärkten mit steigenden
Zinsen abgestraft und können sich womöglich bald gar nicht mehr zu vernünftigen
Bedingungen refinanzieren. Dann greift zwar vielleicht der Euro-Rettungsmechanismus, das
hat aber nur zur Folge, daß die Schulden nun nicht mehr von der privaten auf die öffentliche
Hand, sondern von den schwächeren auf die stärkeren Euro-Länder abgewälzt werden. Da das
aber nicht auf Dauer funktioniert – spätestens wenn Länder wie Spanien mit derzeit etwa 700
Milliarden an Schulden oder gar Italien mit knapp zwei Billionen staatlicher Außenstände in
Probleme geraten –, wird es irgendwann das erste Land geben, das einen Zahlungstopp
verkündet und eine Umschuldung einleitet. Dann werden die Kreditzinsen für Staaten in
vergleichbarer Situation explodieren, so daß auch diese Länder bald nicht mehr zahlungsfähig
sein werden. Es wird dann Bankencrashs geben, sicher auch einen Run auf bestimmte
Banken, und am Ende kann eigentlich nur der Zusammenbruch der Währung und des
gesamten Euro-Finanzsystems stehen. Dabei werden zwar auch die Reichen verlieren, aber
am Schlimmsten getroffen werden die Mittelschichten, so wie es bei Währungsreformen
bisher immer war. Letztlich ist das ein Szenario mit unabsehbaren politischen Folgen und in
jedem Falle eins, das sich kein Linker wünschen sollte.
2. Können wir aus den Schulden »herauswachsen«?
Was wäre die Alternative? Kurzfristig ist die Forderung vollkommen richtig, daß die
öffentliche Hand in der aktuellen Krisensituation nicht sparen darf, sondern die öffentlichen
Defizite sogar ausweiten und damit öffentliche Investitionen und nach Möglichkeit
verbesserte Sozialleistungen finanzieren muß. Mittelfristig ist aber ebenso klar, daß es nicht
darum gehen kann, den Wegbruch an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage durch Ausfall des
schuldenfinanzierten Privatkonsums (der für Deutschland den Ausfall entsprechender Exporte
bedeutet) jetzt wieder durch riesige öffentliche Defizite auszugleichen. Perspektivisch kann
die für ein volkswirtschaftliches Gleichgewicht nötige Nachfrage nur durch eine radikale
Umverteilung der Einkommen erreicht werden. Das bedeutet: Mindestlöhne, Stärkung der
Gewerkschaften und Re-Regulierung des Arbeitsmarktes zur Veränderung der primären
Einkommensverteilung und ein fundamental verändertes Steuersystem sowie Ausbau des
Sozialstaates und höhere Renten zur Veränderung der sekundären Einkommensverteilung.
Eine solche Konzeption auf Deutschland angewandt würde zugleich dazu beitragen, die
außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu verringern.
Offen bleibt damit aber immer noch die Frage der staatlichen und privaten Altschulden. Bei
der Bewertung der Schuldenblase sollte man davon ausgehen, daß selbst bei einer
wirtschaftlichen Erholung aus faulen privaten Schulden keine guten Schulden mehr werden.
Viele amerikanische Hypothekenbesitzer werden ihre Hypothek auch dann nicht mehr in
voller Höhe bedienen können, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Auch die spanische
Immobilienblase ist unwiderruflich geplatzt, und es sollte in niemandes Interesse liegen,
solche Blasen künstlich wiederzubeleben. Damit lagern unverändert Billionen an toxischen
Krediten (verbrieft oder unverbrieft, ausgewiesen oder versteckt) in den Bilanzen der Banken,
und sie werden sich auch im Falle einer wirtschaftlichen Erholung störend bemerkbar
machen: in der permanenten Gefahr einer Kreditklemme. Es ist also unter allen Bedingungen
– auch im Falle einer vernünftigen Wirtschaftspolitik – davon auszugehen, daß uns dieses
Problem erhalten bleibt.
In der Euro-Zone liegt der BIP-Anteil der staatlichen Schulden bereits bei knapp 90 Prozent.
Alle Berechnungen gehen davon aus, daß es bald deutlich über 100 Prozent sein werden. Als
Faustregel gilt, daß Staaten dann aus ihren Schulden »hinauswachsen« können, wenn der
Realzins um zwei Prozent niedriger als das wirtschaftliche Wachstum ist. Zur Zeit bezahlt
selbst die Bundesrepublik durchschnittlich 3,6 Prozent Zinsen auf ihre Anleihen. Bei einer
Preissteigerung von derzeit ein Prozent müßte das Wachstum bei knapp fünf Prozent liegen,
um ein »Herauswachsen« aus den Schulden zu ermöglichen. Selbst bei zwei Prozent Inflation
ergäbe sich ein notwendiges Wachstum von knapp vier Prozent. Ganz abgesehen von der
Frage, ob bei einem Anziehen der Inflation oder höherem Wachstum die Zinsen stabil
bleiben, wofür wenig spricht, ist mit solchen Wachstumsraten auf absehbare Zeit nicht zu
rechnen. Es ist also in der heutigen Situation völlig abwegig, auf ein »Herauswachsen« aus
dem Schuldenberg zu hoffen.
Bleibt als Möglichkeit die These: Dann wachsen die Schulden eben weiter, sie stören ja nicht;
Japan lebt auch mit einem Schuldenberg von 200 Prozent des BIP. Unabhängig davon, daß
das japanische Modell ganz sicher kein Vorbild ist, bedeuten wachsende Schulden wachsende
Zinszahlungen und damit eine permanente Einschränkung der öffentlichen
Handlungsfähigkeit. Sie bedeuten außerdem zunehmende Abhängigkeit von den Launen der
Finanzmärkte, denn auch Deutschland ist nicht davor gefeit, seine Anleihen irgendwann nur
noch zu erhöhten Zinssätzen am Markt unterbringen zu können. Das ist spätestens dann
wahrscheinlich, wenn sich im Land politische Konstellationen ergeben, die einen
grundlegenden Politikwechsel möglich machen, also genau dann, wenn es vielleicht auch von
Der Linken abhängen wird, wie der Staat mit seinen Altschulden umgeht.
3. Lassen sich die Altschulden durch höhere Steuern reduzieren?
Bleibt als dritte Variante das Vorhaben, durch höhere Steuern die Staatsschulden abzutragen.
Bei dieser Lösung besteht allerdings das Problem, daß die Veränderungen im Steuersystem
eigentlich die primäre Aufgabe haben sollten, durch Umverteilung von oben nach unten die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern. Höhere Steuern auf Spitzeneinkommen und
Vermögen, die für die Schuldentilgung verwandt werden, tun genau das nicht. Natürlich ist
denkbar, eine so harte Vermögensbesteuerung einzuführen, daß dadurch tatsächlich Luft aus
der Vermögensblase gelassen wird und damit Schulden gestrichen werden können. Aber man
muß sich im klaren darüber sein, um welche Dimension es dabei geht: Von 1998 bis 2010
sind die deutschen Staatsschulden um fast eine Billion Euro angestiegen. Und das ist allein
schon aufgrund der noch in den Tresoren der Hypo Real Estate (HRE) schlummernden
toxischen Assets längst nicht das Ende der Fahnenstange. Umgekehrt hatte ich bereits die eine
Billion Zugewinn auf den Geldvermögenskonten der deutschen Oberschicht erwähnt. Zum
Vergleich: Die Millionärsteuer von fünf Prozent, wie Die Linke sie fordert, soll im Jahr 80
Milliarden bringen, wobei das zum überwiegenden Teil lediglich eine Abschöpfung von
Vermögenserträgen wäre und nur zu einem sehr geringen Teil (wenn überhaupt) eine
Umverteilung der Vermögenssubstanz. Und der größte Teil der 80 Milliarden ist
konsequenterweise ja auch bereits auf der Ausgabenseite verplant: für öffentliche
Beschäftigung, öffentliche Investitionen, Industriebeteiligungen usw. Wer also sagt, die
Staatsschulden sollten durch Steuern verringert werden, muß sagen, durch welche. Auch
sollte man sich über die bei massiver Substanzbesteuerung einsetzenden Ausweichreaktionen
im klaren sein.
Die einzige denkbare Variante scheint mir eine einmalige Vermögensabgabe zur
Abschöpfung der Vermögen der oberen Zehntausend bei gleichzeitiger Tilgung eines Teils
der Staatsschulden zu sein. Das könnte funktionieren, ist aber faktisch ein ähnlich
gravierender Eingriff wie die Umschuldung und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß
in diesem Fall ausschließlich die ortsansässigen Reichen zur Kasse gebeten werden, während
eine Umschuldung im Falle deutscher Staatsanleihen zu gut 50 Prozent ausländische Anleger
träfe. (Sofern solche Maßnahmen allerdings im gesamten Euro-Gebiet durchgeführt werden,
relativiert sich dieser Unterschied.)
4. Entwertung der Schulden durch Inflation
Eine vierte Variante ist eine historisch schon mehrfach erprobte: Inflation. Das wäre
tatsächlich ein Weg, sowohl Vermögens- wie Schuldenblase zu entwerten, aber es ist
trotzdem einer, den kein Linker anstreben sollte. Denn Inflation, ähnlich wie ein Crash der
Finanzmärkte, belastet vor allem die Mittelschichten, die dabei ihre Spargroschen verlieren,
während die wirklich Reichen ihr Vermögen in der Regel zwischen Geldvermögen, Aktien
und Betriebsvermögen, Immobilienvermögen, zusätzlich oft Gold und anderes Sachvermögen
aufgeteilt haben. Sie können daher selbst einen völligen Wertverlust des Geldes ganz gut
verkraften, während Otto Normalverbraucher seine mühsam zusammengetragenen
Ersparnisse verliert. Inflation ist zudem in der Regel verheerend für die Bezieher von Renten
und Sozialleistungen. Ein solches Szenario bedeutet daher auf jeden Fall, daß es wieder
einmal die Falschen wären, die für die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen der letzten
Jahrzehnte zu zahlen hätten. Hinzu kommt, daß Inflation die Vermögens- und Schuldenblase
natürlich auch nur dann entwertet, wenn die Zinsen niedrig bleiben. Steigen die Zinsen rapide
an, sinkt zwar die Last der Altschulden, aber ihre Refinanzierung wird dafür umso teurer.
Verlieren werden dann nur diejenigen, die ihr Geld langfristig angelegt haben. Wer viel
kurzfristige Spekulationskasse hält, ist dagegen fein raus.
5. Abkoppelung der Staatsschulden von den Kapitalmärkten
Eine fünfte Variante ist die Abkoppelung der öffentlichen Finanzen von den Kapitalmärkten
und die Finanzierung der öffentlichen Defizite durch niedrigverzinste bzw. in einem
bestimmten Rahmen zins- und tilgungsfreie Direktkredite der EZB. Dies würde faktisch
bedeuten, daß Zentralbankgeld über öffentliche Ausgaben statt über das Kreditgeschäft
privater Banken in Umlauf gebracht wird. Für die öffentlichen Finanzen hätte dies zur Folge,
daß der Umfang der Neuverschuldung durch die sinkenden bzw. wegfallenden Zinsen extrem
reduziert würde. Mindestens ebenso wichtig aber wäre, daß die öffentlichen Finanzen
berechenbarer würden und die Abhängigkeit von den Kapitalmärkten und deren (teils, wie
Griechenland zeigt, rein spekulationsgetriebene) Zinssetzungen überwunden wird. Möglich
und durchaus kurzfristig regelbar wäre eine solche Umstellung durch eine Änderung der
europäischen Verträge und des EZB-Statuts.
In der ökonomischen Debatte wird gegen die Notenbankfinanzierung von Staatsschulden in
der Regel eingewandt, daß das die Inflation nach oben treiben würde. Dahinter steckt die
stillschweigende Annahme, daß private Banken bei ihrer Kreditgewährung genauer hinsehen,
ob der Kreditnehmer zahlungsfähig bleibt, während der Notenbank als öffentlicher Institution
verantwortungslose Kreditexpansion unterstellt wird. Dieses Argument ist angesichts des
privaten Kreditrauschs der letzten 15 Jahre eigentlich nicht mehr ernstzunehmen. Die
modernen Finanzmärkte haben ihre Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung hinlänglich unter
Beweis gestellt; keine öffentliche Kreissparkasse könnte sich derartige Fehleinschätzungen
leisten. Natürlich gibt es die historischen Beispiele exzessiver Notenbankkredite, die in
Hyperinflation mündeten. Aber tatsächlich lag die Wurzel der Probleme in den meisten Fällen
tiefer. Entscheidend wäre ohnehin, daß der Umfang der Direktkredite bestimmten Regeln
unterliegt (also z.B. im Abschwung deutlich höher ist als in einem Konjunkturaufschwung)
und so eine willkürliche Ausweitung der Kreditvergabe verhindert wird.
Die Notenbankfinanzierung würde gewährleisten, daß öffentliche Finanzen nicht länger ein
renditeträchtiges Geschäfts- und Spekulationsobjekt privater Banken wären. Eine Situation, in
der das Urteil der Finanzkonzerne über die Politik eines Landes sich unverzüglich in
milliardenschweren Belastungen (oder auch Entlastungen) der öffentlichen Hand geltend
macht, hat zudem mit Demokratie wenig zu tun. Gerade Linke sollten ein großes Interesse
haben, diesen Zustand zu überwinden, denn es ist davon auszugehen, daß eine Politik nach
unseren Vorstellungen im Falle der Umsetzung wenig Begeisterung auf den Finanzmärkten
auslösen dürfte – mit allen Konsequenzen.
Es ist daher richtig, daß Die Linke die Forderung auf ihre Agenda genommen hat, die
Staatsschulden von den Kapitalmärkten zu entkoppeln. Der große Vorteil einer
Direktfinanzierung durch die Notenbank wäre, daß der Staat jedes Jahr in einer gewissen
Größenordnung mehr ausgeben als einnehmen kann, ohne daß sich daraus künftige Schulden
oder die Pflicht zu Zinszahlungen ergeben. Es gibt kein Argument, weshalb ein solches
System inflationstreibender sein sollte als das heutige. Jedes Wachstum beruht auf Kredit, der
Unterschied zu heute wäre nur, daß das zusätzliche Geld über den Staat statt über die Banken
in Umlauf kommt.
Aber was bedeutet das für die Altschulden? Theoretisch könnte die EZB natürlich auch die
Refinanzierung der Altschulden übernehmen. Schon heute kauft sie vorhandene Bonds vom
Markt auf, und denkbar wäre natürlich, daß der Staat sich die für die Refinanzierung seiner
Schulden bei Fälligkeit nötige Summe dann bei der EZB beschafft und so die staatlichen
Gesamtschulden schrittweise auf die EZB übertragen werden. Oder auch, daß die EZB
sämtliche Staatsbonds vom Markt aufkauft. Das Problem einer solchen Lösung wäre, daß die
Vermögensblase so eben nicht entwertet würde, sondern in vollem Umfang bestehen bliebe,
nur daß die Finanzkonzerne eine Anlagemöglichkeit für diese Vermögen weniger hätten. Das
würde die infolge jahrelanger Umverteilungspolitik ohnehin schon vorhandene Situation eines
Überhangs an Liquidität, die nach lukrativen Anlagemöglichkeiten sucht, zusätzlich
verschärfen und dürfte zu neuen Kredit- und Spekulationsblasen führen.
6. Reduzierung der Altschulden durch Umschuldung
Der einzige nachhaltige Ausweg aus den Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte, den ich
sehe, ist daher die politisch kontrollierte Entwertung der Vermögens- und Schuldenblase, und
zwar möglichst in einer konzertierten Aktion in der gesamten Euro-Zone oder vielleicht sogar
der Gesamt-EU. Dieser Ausweg beinhaltet zum ersten die Verstaatlichung der großen
Finanzkonzerne, womit die faulen Schulden zwar definitiv auf die öffentliche Hand
übergehen, aber eben auch die werthaltigen Assets der Banken und Versicherungen, die es ja
auch noch gibt. Anschließend ist ein Großteil der öffentlichen Schulden, die auf die verfehlte
Politik der letzten Jahrzehnte zurückgehen, zu streichen, allerdings mit einer Einschränkung,
die Argentinien seinerzeit auch praktiziert hat: Kleinanleger unterhalb einer gewissen
Anlagesumme dürfen nicht getroffen werden. In Deutschland könnten z.B.
Bundesschatzbriefe generell ausgenommen werden. Ein Teil der Entwertung wird
Finanzkonzerne außerhalb der Euro-Zone oder private Vermögensanleger (jene oberhalb der
garantierten Mindestsumme) treffen, der andere wird bei den hiesigen Finanzinstituten zu
Buche schlagen. Die Staatspapiere müssen dann ebenso wie sämtliche toxische Wertpapiere,
die sich noch in den Bankbilanzen befinden, abgeschrieben werden.
Toxisch würden durch eine Umschuldung der Staaten natürlich auch die auf die
Staatsanleihen abgeschlossenen Kreditausfallversicherungen (Credit default swaps, CDS).
Denn es ist eine Illusion zu glauben, daß die Versicherungsnehmer der CDS (also diejenigen,
die auf die Staatspleiten wetten) von einer eintretenden Pleite eines größeren Landes am Ende
tatsächlich profitieren könnten. Die CDS unterscheiden sich auch dadurch von normalen
Versicherungen, daß es keine regulatorischen Vorschriften für die Anbieter gibt, sie
angemessen mit Eigenkapital zu unterlegen. Schon bei der Subprime-Krise hätte niemand
Profit aus seinen Wetten gegen amerikanische Hypothekenpapiere ziehen können, wenn nicht
die Staaten die größeren Anbieter der CDS gerettet und ihre Verpflichtungen mit Steuergeld
erfüllt hätten. Einer der Großanbieter von CDS (u.a. auf US-Hypothekenpapiere) war der
Versicherungsriese AIG, der gerade darüber in die Pleite stürzte. Es war aber juristisch
keineswegs notwendig, daß der Staat mit der Verstaatlichung von AIG auch diese
Verpflichtungen übernahm, und entsprechend groß war die Kritik daran.
Die Finanzinstitute sind danach mit öffentlichem Geld zu rekapitalisieren und durch strikte
Regeln auf das klassische Kredit- und Einlagengeschäft zu reduzieren. Die nötigen Mittel
sollte sich der Staat durch eine einmalige Vermögensabgabe auf sehr hohe Vermögen
(jenseits einer Million Euro) zurückholen. Damit wären die Altlasten der Vergangenheit
beseitigt, Vermögens- wie Schuldenblase wären abgetragen, die Banken könnten sich wieder
um die Kreditversorgung der Wirtschaft kümmern, und die öffentliche Hand wäre wieder
handlungsfähig, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Es geht also gar nicht um die Frage, ob die öffentliche Hand zahlungsfähig oder bankrott ist.
Es geht um die Frage, ob es politisch vertretbar ist, daß der großen Mehrheit der Menschen
auf unabsehbare Zeit ein Schuldenberg auf die Schultern geladen wird, der auf drei Jahrzehnte
wirtschaftlicher Fehlentwicklungen zurückgeht, von denen sie weder profitiert haben, noch
dafür Verantwortung tragen.
Es wurde von Linken immer kritisiert, daß lateinamerikanische Länder wie Argentinien, als
sie nach Jahren der Militärdiktatur endlich zu demokratisch verfaßten Staaten wurden, die
Schulden dieser Militärdiktaturen anerkannt und übernommen haben. In vieler Hinsicht war
damit der spätere Niedergang vorgezeichnet. Natürlich kann die politische
Entscheidungsfindung in den heutigen Industrieländern nicht mit der in Militärdiktaturen
gleichgesetzt werden. Dennoch: Die heutigen Staatsschulden sind das Ergebnis einer
Finanzdiktatur und einer jahrelangen Politik gegen die Mehrheit der Menschen. Sie sind daher
nicht weniger illegitim als die Hinterlassenschaften der südamerikanischen Diktatoren.
Sahra Wagenknecht ist wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag.
Zuletzt veröffentlichte sie: »Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft«, Das Neue Berlin,
Berlin 2008 (auch im jW-Shop erhältlich)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen