Sonntag, 9. August 2015
Syrien: Wie Luftabwehr und Völkerrecht ausgehebelt wurden
IMI-Analyse 2015/029
http://www.imi-online.de/2015/08/06/syrien-wie-luftabwehr-und-voelkerrecht-ausgehebelt-wurden/
Christoph Marischka (6. August 2015)
Planlose Außenpolitik der USA?
Bereit seit Monaten fliegt die US-Luftwaffe Angriffe auf Stellungen des
Islamischen Staates in Syrien und ermöglichte es somit v.a. kurdischen
Kämpfern am Boden, Städte gegen Angriffe des IS zu verteidigen und
Gebiete zu erobern. Seit dem Anschlag auf ein Jugendcamp zum
Wiederaufbau Kobanes in Suruç am 20. Juli 2015 beteiligt sich auch die
Türkei an Angriffen auf syrisches Territorium, die jedoch überwiegend
PKK-nahen Kämpfern gelten. Mittlerweile haben sich die Türkei und die
USA auf die Einrichtung einer „Schutzzone“ in Syrien geeinigt, die
jedoch in erster Linie verhindern soll, dass sich ein zusammenhängendes
Gebiet unter kurdischer Kontrolle an der Grenze zur Türkei bildet. Die
USA geben das Ziel vor, dass von dort aus pro-westliche und teilweise
von den USA ausgebildete Kämpfer gegen den IS operieren sollen und
kündigten an, diese auch gegen Angriffe durch die syrische Luftwaffe zu
verteidigen. Doch die Zahl tatsächlicher pro-westlicher Kämpfer in der
Region liegt im niedrigen dreistelligen Bereich. Wahrscheinlicher ist,
dass sich auch hier islamistische Kämpfer breit machen, die u.a. gegen
die Kurden und regimetreue Kräfte vorgehen, die sich zunehmend in
Auflösung befinden.
Die Syrienpolitik der USA wird in den Medien, von Korrespondenten und
den Sprechern bewaffneter Gruppen in Syrien gerne als „planlos“ und
„sprunghaft“[1] bezeichnet. Die Ziele der türkischen Regierung hingegen
werden nüchtern und klar benannt: Im Ringen um die Vorherrschaft in der
gesamten Region insbesondere mit dem Iran strebt sie seit dem Beginn der
ersten Proteste in Syrien 2011 den Sturz des iranischen Verbündeten
Assad an, wobei sie sich radikaler sunnitischer Kräfte bedient, sogar
den Islamischen Staat tolerierte und unterstützte. Zugleich versucht
sie, eine starke Rolle insbesondere linker kurdischer Kräfte und ein
zusammenhängendes Gebiet unter deren Kontrolle zu verhindern. Dass die
Türkei nun neben vielen pro-kurdischen Politikern und Stellungen auch
vermeintliche Anhänger des IS verhaften und bombardieren lässt, wird als
rein taktisches Zugeständnis an die USA interpretiert, die im Gegenzug
deren Angriffe auf jene kurdischen Kämpfer toleriert, welche sie mit
ihren Luftangriffen im Kampf gegen den IS indirekt unterstützt.
So absurd diese Politik auf den ersten Blick scheinen mag und so blutig
ihre Folgen für die Bevölkerung in Syrien sind, zeigt sie doch auch für
die USA klare geopolitische Präferenzen und bei ihrer Verfolgung
Kontinuitäten auf, die von der Strategischen Gemeinschaft auch klar
erkannt werden. Seit langem unterstützen die USA in der gesamten Region
meist sunnitische gegen schiitische Kräfte und zielen dabei auf eine
Schwächung des Iran und seiner Verbündeten im Irak, Libanon und Syrien
ab. Bereits 2011 bekannte sich die US-Administration klar dazu, dass das
Assad-Regime gestürzt werden müsse, jedoch ohne eigene Bodentruppen
einzusetzen. Auch für sie lag ein staatsähnliches Gebilde unter
Kontrolle der PKK-nahen kurdischen Kräfte in Syrien nie im Interesse.
Demgegenüber sind die USA zur einfacheren Kontrolle des Irak bereit, den
kurdischen Kräften im Nordirak, die auch schon länger mit der türkischen
Regierung im Sinne einer Schwächung der PKK zusammenarbeiten, mehr
formale Autonomie zuzugestehen, als die Türkei. Dies ist jedoch eine
eher marginale Meinungsverschiedenheit, wenn es um die Zerschlagung
Syriens geht.
Ein Regime Change trotz Luftabwehr
Dass ein Regime Change ohne eigene Bodentruppen keine einfache und
kurzfristig zu bewerkstelligende Angelegenheit ist, zeigt die desaströse
Lage im heutigen Libyen. Hinzu kommt noch, dass Syrien – anders als
Libyen – sowohl militärisch potente Verbündete in der Region und
international hatte als auch über eine (im Zuge des Konfliktes mit Hilfe
Russlands nochmals verstärkte) Luftabwehr und -waffe verfügte.
Überspitzt gesagt und grob vereinfacht machte das ein umgekehrtes
Vorgehen notwendig: Während in Libyen die Kräfte des Regimes aus der
Luft so weit geschwächt wurden, dass die (vermeintlichen) Verbündeten am
Boden die Kontrolle übernehmen konnten, mussten die (vermeintlichen)
Verbündeten in Syrien zunächst in einem zähen, blutigen Prozess weite
Teile des Gebietes der Kontrolle des Regimes entziehen, bevor die
NATO-Staaten schrittweise moderierend aus der Luft eingreifen konnten.
Hierfür war es zunächst auch egal, ob es sich bei diesen Verbündeten um
Anhänger der Al Kaida, den Islamischen Staat oder linke kurdische
Guerillas handelte. Die Fragmentierung Syriens war schließlich nicht nur
im streng militärischen Sinne notwendig oder hilfreich, sondern auch im
völkerrechtlich-diskursiven: Anders als in Libyen hätte eine
Flugverbotszone in Syrien (wegen der oben genannten Verbündeten) kein
Mandat durch den UN-Sicherheitsrat erhalten, während für die jetzigen
Luftschläge der USA, der Türkei und ihrer Partner ein solches überhaupt
nicht mehr für notwendig erachtet wird. Um es klar zu sagen: Auch die
frühen Unterstützungsleistungen der USA, der Türkei, der Golfstaaten und
auch Deutschlands für alle möglichen Fraktionen der „Rebellen“
widersprachen wie die quasi-Anerkennung mehrerer Exilregierungen ganz
überwiegend dem Völkerrecht. Aber nur diese Vorarbeit durch kleine
Verstöße und die damit heraufbeschworenen Grausamkeiten machte es
möglich, dass heute Luftschläge über syrischem Territorium stattfinden,
ohne dass eine völkerrechtliche Grundlage überhaupt diskutiert oder für
nötig erachtet wird.
Die neben den syrischen Aufständischen von der Türkei am frühesten und
vehementesten vorgetragene Forderung nach einer Flugverbotszone wurde
auch innerhalb der US-Regierung und ihrer Strategischen Gemeinschaft
früh und offen diskutiert und trug damit sowohl zur Motivation und
Rekrutierung der Rebellen als auch zur Demontage der Souveränität
Syriens bei. Konkrete militärische Vorarbeiten für ein solches
Eingreifen waren jedoch kaum erkennbar. Zurückgewiesen wurde eine solche
Intervention nicht primär aus (unmittelbar) militärischen Erwägungen
heraus, sondern mit dem Verweis auf die „Zerstrittenheit“ der damals
noch überwiegend als zusammenhängend gedachten „syrischen Opposition“
und der fehlenden politischen Kontrolle durch die eilig im Ausland
aufgestellten Exilregierungen. Das stand früh in einem gewissen
Widerspruch dazu, dass westliche Regierungen in ihrer Außendarstellung
lange am (gegenwärtig wieder reaktivierten) Bild einer demokratischen
und von der Freien Syrischen Armee dominierten Opposition festhielten
und die Urheberschaft jedes Kriegsverbrechens und Massakers sofort auf
Seiten des syrischen Regimes und seiner Armee sahen.
Gefahr durch Islamisten lange bekannt – und toleriert
Ein im Mai 2015 veröffentlichtes Dokument der US-Geheimdienste aus dem
August 2012 gibt demgegenüber Einblicke in den Erkenntnisstand der
US-Regierung und vermutlich auch ihrer Verbündeten zum damaligen
Zeitpunkt. Darin heißt es bereits einleitend zur „generellen Situation“,
dass der Konflikt eine klare Tendenz zur Konfessionalisierung aufweise
und „Salafisten, die Muslimbruderschaft und die Al Kaida die
wesentlichen Kräfte hinter dem Aufstand in Syrien sind“.[2] Al Kaida sei
mit Syrien vertraut und habe „die syrische Opposition von Anfang an
sowohl ideologisch, als auch durch die Medien unterstützt“. Unter
„Annahmen über die zukünftige Entwicklung der Krise“ wird davon
ausgegangen, dass sich die Situation zu einem „Stellvertreterkrieg“
entfalten werde, bei dem das Regime mit Hilfe Russlands, Chinas und
Irans seine Kontrolle in den Küstenregionen aufrecht erhalten kann, die
Opposition hingegen versuchen werde, die östlichen Regionen entlang der
Grenzen zum Irak und der Türkei zu kontrollieren. Hierzu heißt es
eindeutig: „Westliche Staaten, die Golfstaaten und die Türkei
unterstützen diese Bemühungen“. Diese Situation werde „hilfreich dabei
sein, Rückzugsgebiete (Save Havens) unter internationalem Schutz
vorzubereiten, ähnlich dem, was sich in Libyen entwickelt hat, nachdem
Bengasi als Kommandozentrum der Übergangsregierung ausgewählt wurde“.
Unter den möglichen Effekten im Irak wird sogar das Entstehen des
islamischen Staats in etwa seiner heutigen Form prognostiziert: „Es
besteht die Möglichkeit, dass ein erklärtes oder unerklärtes
salafistisches Hoheitsgebiet (‚Principality‘) im Osten Syriens (Hasaka
und Der Zor) entsteht und das ist exakt das, was die Unterstützer der
Opposition wollen, um die syrische Regierung, die als strategisches
Rückgrad (‚strategic depth‘) der schiitischen Expansion (Irak und Iran)
angesehen wird, zu isolieren“. Auch die weiteren Konsequenzen für den
Irak wurden bereits vorweggenommen: „Damit sind ideale Bedingungen für
Al Kaida geschaffen, um in ihre Hochburgen in Mosul und Ramadi
zurückzukehren und unter der Ideologie eines geeinten Jihad der
irakischen und syrischen Sunniten neue Kraft zu gewinnen… ISI könnte
durch die Vereinigung mit anderen terroristischen Organisationen in
Syrien und Irak auch einen Islamischen Staat ausrufen, was eine schwere
Bedrohung hinsichtlich der Einheit und des Schutzes des irakischen
Territoriums bedeuten würde“.
Auf die Friedensbemühungen im Rahmen der UN, den in Genf verhandelten
Sechs-Punkte-Plan und die Vermittlungsrolle zunächst Kofi Annans geht
der Bericht mit keinem Wort ein. Annan legte sein Amt als
Sondergesandter der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga für
Syrien wegen mangelnder internationaler Unterstützung im August 2012 nieder.
Insgesamt war der Spätsommer 2012 jener Zeitpunkt, zu dem westliche
Regierungen und Thinktanks zunehmend die Beteiligung militanter
Islamisten am Aufstand in Syrien einräumten, während Medien und NGOs
noch deutlich undifferenzierter das Bild einer aus Deserteuren
gebildeten Freien Syrischen Armee als Selbstverteidigungskräfte der
demokratischen Opposition vermittelten. Dieses Bild unterstützte auch
die Bundesregierung etwa noch in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
vom 10. September 2012, in der sie behauptete: „Die Massenproteste der
syrischen Bevölkerung haben über mehrere Monate hinweg ihren friedlichen
Charakter beibehalten, trotz des Einsatzes militärischer Gewalt durch
die Regierung Assads. Mit zunehmendem Einsatz von Waffengewalt durch das
Regime kam es im weiteren Verlauf zur Bildung erster ‚Bürgerwehren‘ und
darüber hinaus auch zu lokalen Angriffen auf die Streit- und
Sicherheitskräfte, die durch Bewohner mit guten Ortskenntnissen
durchgeführt wurden. Die Bewaffnung von Oppositionsanhängern nahm nach
Kenntnis der Bundesregierung ihren Anfang, als reguläre Soldaten aus
Gewissensgründen den Einsatz gegen unbewaffnete Zivilisten abgelehnt und
sich zur Desertion entschlossen. Dies führte mit zur Gründung der
‚Freien Syrischen Armee‘ Ende Juli 2011“.[3] Es wird jedoch eingeräumt:
„Neben der FSA haben sich nach bisherigen Erkenntnissen Splittergruppen
gegründet oder von der FSA abgespalten. Darunter sind u. a. Jihadisten
und islamistische Gruppen.“ Drei Tage zuvor hatte die Regierung erstmals
die Präsenz jihadistischer Elemente, die nicht klar von der FSA
abzugrenzen sind, eingestanden: „Der Begriff FSA wird häufig als
Sammelbegriff für den bewaffneten syrischen Widerstand verwendet. In
Wahrheit existieren häufig unabhängig agierende bewaffnete Verbände, die
nur in loser Beziehung zueinander oder zur FSA stehen. Es gibt Hinweise
(u. a. Selbstdarstellung im Internet) auf die Existenz dschihadistischer
bewaffneter Gruppen in Syrien. Zuordnung und Abgrenzung sind jedoch
aufgrund rudimentärer Organisationsformen schwierig. Über die Stärke
dieser Gruppen liegen der Bundesregierung keine sicheren Erkenntnisse
vor“.[4] Insgesamt ging die Bundesregierung zu dieser Zeit offiziell von
„mindestens 5 000 Personen im bewaffneten Widerstand in Syrien aus“.[5]
Diese gegenüber dem US-Geheimdienstbericht recht beschönigende
Darstellung war u.a. nötig geworden, weil zur selben Zeit die
vielfältige Unterstützung für die Opposition bekannt und ausgebaut
wurde. Im Juli 2012 hatte die Türkei gemeinsam mit Katar und Saudi
Arabien ein militärisches Kommandozentrum für die Rebellen bei der
wichtigen Luftwaffenbasis Incirlik 100 km nördlich der syrischen Grenze
eingerichtet, über das auch Waffenlieferungen, geheimdienstliche
Unterstützung und Ausbildungshilfe für die Rebellen koordiniert
wurden.[6] Die USA beteiligten sich hieran über Mittelsmänner und
bildeten in Jordanien Kämpfer der Rebellen aus. Die Bundesregierung
hatte gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten in den
Räumlichkeiten der Deutschen Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) in Berlin eine Arbeitsgruppe Wirtschaftlicher
Wiederaufbau eingerichtet und mit 550.000 Euro aus dem Bundeshaushalt
finanziert. Partner dabei war der Syrische Nationalrat, der von den
„Freunden Syriens“ – sozusagen der Koalition für den Regime Change aus
Golf- und NATO-Staaten und weitgehend identisch mit den im
Geheimdienstbericht genannten „Unterstützern der Opposition“ – als
„legitimer Vertreter der Syrer, die nach einem friedlichen,
demokratischen Wandel streben“ anerkannt wurde.[7] Im November 2012
begrüßte die EU eine in Doha gegründete „Nationale Koalition der
oppositionellen und revolutionären Kräfte“ als „wichtigen Schritt zur
notwendigen Einigung der syrischen Opposition“ und „legitimen Vertreter
der Bestrebungen des syrischen Volkes“.[8] Zuvor hatten die USA den
Syrischen Nationalrat wegen mangelnder Effizienz und Sichtbarkeit in
Syrien kritisiert und die US-Außenministerin Clinton hatte sich dafür
ausgesprochen, im neuen Bündnis „jene zu stärken, die ‚an der Front‘
stünden“[9] – wohl wissend, dass unter jenen längst militante Islamisten
dominierten. Im Oktober hatte auch die International Crisis Group
festgestellt, dass eine „mächtige salafistische Strömung unter den
syrischen Rebellen nicht mehr zu leugnen sei“ und machte dafür die
Golfstaaten verantwortlich, die gemeinsam mit EU und NATO-Staaten als
„Freunde Syriens“ Sanktionen und Unterstützung für die Rebellen
koordinierten.[10]
Ein Beispiel aus Deutschland: Die SWP
Dass nach dem Sturz des formal säkularen Assad-Regimes Islamisten eine
größere Rolle spielen würden als zuvor, schien jedoch bereits Anfang
2012 für die Planer_innen des Regime Change absehbar. Mit finanzieller
Unterstützung des US-Außenministeriums wurde im Januar unter der Regie
der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin
ein (zunächst geheimes) Projekt unter dem Titel „Day After“ gestartet,
das auch die wirtschaftliche Ordnung Syriens nach Assads Sturz mit
möglichen künftigen Führungspersonen, darunter auch Vertreter der Freien
Syrischen Armee, diskutieren sollte. Als das Projekt Ende Juli 2012
bekannt wurde, wurde seine Durchführung in Deutschland u.a. damit
begründet, „dass es kaum möglich gewesen wäre, die Teilnehmer aus dem
islamistischen Spektrum in die USA zu bringen“.[11] Die Bundesregierung
hingegen ermöglichte das Projekt durch die „Unterstützung bei der
Visumbeantragung und -vergabe“.[12] Als weitere Begründung wurde
genannt, dass in Berlin „mit [dem Direktor der SWP, Volker] Perthes und
der Projektleiterin Muriel Asseburg langjährige Kenner Syriens vor Ort
verfügbar“ gewesen seien.[13] Beide spielten in jener Zeit eine zentrale
Rolle bei der Kommentierung des syrischen Bürgerkrieges und dabei – aus
Unwissenheit oder bewusst? – die Rolle der Jihadisten herunter, um mehr
internationale Unterstützung für die Rebellen einzufordern. Ende Oktober
etwa veröffentlichte Perthes auf Qantara.de einen Artikel unter dem
Titel „Kleinster gemeinsamer Nenner“, in dem er die „Weigerung“ der
„Freunde Syriens“, „an der Grenze zu den Nachbarländern eine Schutzzone
für syrische Zivilisten einzurichten oder eine Flugverbotszone gegen
syrische Kampfflugzeuge zu verhängen“ damit erklärt, dass „die
internationale Gemeinschaft darauf [wartet], dass sich die
desorganisierte syrische Opposition in eine in sich geschlossene,
effektive Kraft verwandelt“: „Die syrische Opposition muss eine
Dachorganisation einrichten, die von allen, und d.h. auch den faktischen
zivilen und militärischen Führern, die in den letzten anderthalb Jahren
hervorgetreten sind, akzeptiert werden. Diese Gruppen teilen bereits ein
gemeinsames Ziel – den Sturz des Assad-Regimes – und von ein paar
ultramilitanten Ausnahmen abgesehen hoffen die meisten, einen
friedlichen, alle Gruppen einschließenden, demokratischen Staat zu
errichten.“[14]
Einen Monat zuvor erschien jedoch ein Buchbeitrag Perthes‘, der noch
während der Laufzeit des Projekts „Day After“ verfasst wurde und vier
mögliche „Szenarien zur näheren Zukunft Syriens“ auflistet. Davon geht
nur eines davon aus, dass eine Ende des Assad-Regimes – welches die
„Arbeitshypothese“ des „Day After“-Projektes gebildet hatte – bald
bevorstünde. Quasi als Voraussetzung geht dieses Szenario (Rasches Ende,
geordneter Übergang) zunächst von einer Eskalation aus: „Nach dem
endgültigen Abzug der VN-Beobachter verschärfen sich die Kämpfe; zudem
droht die Türkei nun offen mit einem militärischen Eingreifen“. Dies
führe entweder zu einer von Russland arrangierten Ausreise Assads und
seiner Familie oder zu einem Putsch. „Allein unter diesem Szenario, in
welcher Variante auch immer, besteht die Chance, wenigstens einen Teil
der Pläne und Ideen Realität werden zu lassen, die in den Monaten zuvor
von engagierten Syrer im In- und Ausland für die Organisation von
Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in der Übergangszeit, für notwendige
Startmaßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft und vor allem für einen
Versöhnungs- und einen Verfassungsprozess erstellt worden sind“, so
Perthes, wobei dem Text anzumerken ist, dass dies nicht als besonders
realistisch erachtet wird. Das liegt auch daran, dass es in keinem der
Szenarien den Rebellen aus eigener Kraft gelingt, das Regime zu stürzen
oder es zu einem entschlossenen militärischen Eingreifen Dritter mit
dieser Absicht kommt.
Nur eines der Szenarien („More of the same“: Asad bleibt – zunächst)
geht davon aus, dass die „Rebellen … allmählich eine einheitliche
Kommandostruktur [entwickeln]“ und „einzelne Stadteile und Ortschaften
halten“ können. In diesem Falle käme es zu besonders vielen Opfern und
Massakern, „aber weder die NATO noch die arabischen Nachbarstaaten sind
zum Eingreifen bereit. Das einzige, worauf die Staatengemeinschaft, die
syrische Regierung und die Rebellen sich einigen, sind humanitäre
Hilfslieferungen in die von den Kämpfen am meisten betroffenen Städte.
Die EU verschärft ihre Sanktionen gegen führende Köpfe und Unterstützer
des Regimes; einzelne arabische und westliche Staaten organisieren
Waffenlieferungen an die Rebellen, um eine gewisse Balance im
Bürgerkrieg aufrechtzuerhalten.“
Die übrigen zwei Szenarien (Das Regime gräbt sich ein und Agonie und
Fragmentierung) gehen von einem Zerfall des syrischen Staates in
unterschiedliche Herrschaftsgebiete konkurrierender bewaffneter Kräfte
aus. In einem Fall „erklärt der Sicherheitsrat die von den Rebellen
gehaltenen Enklaven zu ‚Schutzzonen‘, die von den USA „aus der Luft …
patrouilliert“ werden, während vereinzelte Vorstöße der Regimekräfte
„mit der Zerstörung einzelner Militäreinrichtungen durch amerikanische
Cruise Missiles geahndet werden.“ Das Regime bleibt an der Macht, ist
aber „international nahezu völlig isoliert, nachdem ein weitreichendes
Wirtschaftsembargo verhängt worden ist und auch Passagierflüge von und
nach Syrien verboten worden sind“. Das letzte Szenario (Agonie und
Fragmentierung) geht von der größten Zersplitterung aus, in der
[v]erschiedene Teile der Armee und diverse Milizen … je einzelne
Landstriche, Städte oder Stadtteile [kontrollieren]“. Als mögliche
lokale Akteure werden u.a. eine „Koalition alawitischer Generäle und
Stammesältester“, kurdische Parteien, sunnitisch-arabische Stämme, eine
„von den Muslimbrüdern dominierte städtische Koalitionsregierung“
genannt sowie „eine ‚patriotische‘ Regierung [in Damaskus], die sich aus
Vertretern der FSA, der Muslimbruderschaft, der Handelskammer und
kleinerer liberaler Gruppen zusammensetzt.“ Nur in diesem Szeanrio
spielen Jihadisten in Perthes‘ Prognosen überhaupt eine, wenn auch eher
nachgeordnete Rolle: „In Idlib hat eine al-Qa’ida nahestehende Gruppe
eine Islamische Republik Orontes ausgerufen“. Nicht von den
Kräfteverhältnissen her, aber vom Grad der Fragmentrierung kommt dieses
Szenario der aktuellen Lage am nächsten. „[D]as Regime [löst] sich eher
auf, als dass es ‚gestürzt‘ würde oder ‚abtritt‘ … Ob das Ende Asads
dann durch einen Palastcoup, ein Attentat, den ungeklärten Absturz
seines Hubschraubers oder durch einen Sturmangriff einer FSA-Einheit auf
den Präsidentenpalast in Damaskus zustande kommt, spielt keine Rolle mehr“.
Strategie der Fragmentierung
Die Darstellung der von Perthes entwickelten Szenarien stehen
beispielhaft dafür, dass innerhalb der strategischen Gemeinschaft und
von den westlichen Regierungen ein umfassendes militärisches Eingreifen
zum Sturz des Assad-Regimes kaum ernsthaft in Betracht gezogen wurden.
Die völlige Marginalisierung demokratischer und überkonfessioneller
Kräfte gegenüber terroristischen und militanten Islamisten wurde zwar
angedeutet, um das Ausbleiben von Luftschlägen zu begründen, aber
heruntergespielt, um begrenztes militärisches Eingreifen zu
legitimieren, Drohungen einer umfassenden Intervention aufrecht zu
erhalten und die Schwächung des Regimes und die Fragmentierung Syriens
zu forcieren. Gemeinsam mit der starken Rolle des in dieser
Fragmentierung – mit Unterstützung einiger Freunde Syriens – gediehenen
islamischen Staates stellt diese nun die Rahmenbedingungen her, in denen
interessierte Dritte ohne jede völkerrechtliche Grundlage „Schutzzonen“
einrichten, Luftschläge gegen verschiedene Milizen durchführen und damit
am Boden konkurrierende Kräfte unterstützen. Damit soll nicht gesagt
sein, dass spätestens seit Mitte 2012 ein einheitlicher und klar
formulierter Plan von den Freunden Syriens verfolgt worden wäre, um die
syrische Luftabwehr und das Völkerrecht auszuhebeln. Die genannten
Zitate aus der Strategischen Gemeinschaft diesseits und jenseits des
Atlantik unterstreichen jedoch, dass diese Entwicklung absehbar war und
ihr weder durch eine Offenlegung des jihadistischen Charakters des
Bürgerkrieges noch durch eine kategorische Absage an eine militärische
Intervention entgegengewirkt wurde. Im Spiel der innen- wie
außenpolitischen Kräfte, der Geheimdienste, Regierungen, Thinktanks und
NGOs hat sich jene Situation entfaltet, die von Anfang an aufgrund der
Interessenlagen und der strategischen Bedingungen absehbar war: ein
internationalisierter, brutalisierter Bürgerkrieg mit dem Ziel der
Zerschlagung Syriens zur Schwächung der schiitischen Kräfte und
insbesondere Irans. Das Handeln der USA und ihrer Verbündeten (wie auch
der Unterstützer des Assad-Regimes) ist somit keineswegs
personalisierend als „planlos“ oder „sprunghaft“ zu bezeichnen, sondern
schlicht: Geopolitik in Zeiten eines erodierenden Völkerrechts – sehr
zum Leid der Menschen in Syrien und der ganzen Region.
Anmerkungen
[1] Aktuelle etwa Marcus Pindur in seinem Kommentar für den
Deutschlandfunk am 1.8.2015,
http://www.deutschlandfunk.de/unterstuetzung-fuer-tuerkei-die-sprunghafte-syrienpolitik.720.de.html?dram:article_id=327101.
[2] Alle Zitate in diesem Absatz stammen aus dem „Information Report“
der Defence Intelligence Agency über den Irak vom August 2012,
veröffentlicht von der (den US-Konservativen nahestehenden) NGO Judical
Watch infolge eines Prozesses nach dem Freedom of Information Act unter
http://www.judicialwatch.org/document-archive/pgs-394-398-396-from-jw-v-dod-and-state-14-812/.
Die Relevanz des Dokuments wie auch die Interpretation einiger, sehr
knapp gehaltener Aussagen sind umstritten. Dass eine solche Einschätzung
über die Rolle von Jihadisten zu jenem Zeitpunkt innerhalb der
Administration existierte, geht daraus jedoch eindeutig hervor.
[3] Bundestags-Drucksache 17/10632.
[4] Bundestags-Drucksache 17/10619.
[5] Ebd.
[6] Regan Doherty, Amena Bakr: Exclusive – Secret Turkish nerve center
leads aid to Syria rebels, Reuters.com vom 27.7.2012.
[7] Bundestags-Drucksache 17/ 10632.
[8] Schlussfolgerungen des Rates (auswärtige Angelegenheiten) vom 19.
November 2012.
[9] „Verhandlungen über Exilregierung“, faz.net vom 4.11.2015.
[10] ICG: Tentative Jihad: Syria’s Fundamentalist Opposition , Crisis
Group Middle East Report N°131 vom 12.10.2012.
[11] Jörg Lau: Das neue Syrien kommt aus Wilmersdorf, Zeit.de vom 25.7.2015.
[12] Bundestags-Drucksache 17/ 10619.
[13] Jörg Lau 2012, a.a.O.
[14] Volker Perthes: Die syrische Opposition – Kleinster gemeinsamer
Nenner, Qantara.de vom 29.10.2012.
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