Montag, 3. März 2014

Armut in Berlin: Endstation Heerstraße Nord

Freiwillig zieht hier keiner hin: Am Rand von Spandau in der Hochhaussiedlung an der Heerstraße leben fast nur noch Menschen, die die Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen können. Ein Rundgang durch ein Viertel voller Hoffnungslosigkeit. Es ist der letzte Tag im Monat, Zahltag, heute ist das Geld vom Jobcenter auf dem Konto. Deshalb steht Marianne Masuch mit ihrer Tochter Christiane schon um kurz nach acht am Geldautomaten. Sie hat seit Tagen nur noch knapp 50 Cent im Portemonnaie. Im Staaken-Center gibt es zwei Geldautomaten, den hier von der Postbank und draußen noch den von der Sparkasse. Vor beiden hat sich bereits eine Schlange gebildet. Dabei haben die Geschäfte noch geschlossen, nur der Bäcker und das Bistro sind schon gut besucht. Marianne Masuch steht an Position fünf in der Schlange. Man könne nicht erst um zehn kommen, sagt sie, dann stünden 25 Leute an. Groß etwas kaufen will sie nicht, will sie eigentlich nie. Kann sie gar nicht. Aber sie braucht zwei Briefmarken und sie möchte ihre Tochter zum Kaffee beim Bäcker einladen. Christiane hat die letzten Tage wieder für sie gekocht, wie so oft, wenn ihr zum Monatsende das Geld ausgeht. Marianne Masuch, eine dürre, große Frau, 52 Jahre alt, ist seit einem halben Jahr arbeitslos. Vorher war sie Zimmermädchen in einem Hotel, doch es ging pleite. Christiane, 30, ist auch arbeitslos, hat aber vier Kinder und bekommt am 15. des Monats Kindergeld. Außerdem hat ihr Mann Arbeit. Marianne Masuch bekommt nichts mehr vom Leben. Sie war lange krank, lebt allein, und wenn es regnet, läuft durch ihre Wohnzimmerdecke Wasser. „Dann sitze ich mit Regenschirm vor dem Fernseher“, sagt sie. „Das klingt lustig. Ist es aber nicht.“ Hoch, dunkel und verwinkelt Als sie 1983 in die Maulbeerallee in Spandau zog, war das Haus neu gebaut, die Aussicht vom siebenten Stock herrlich. Es gab ein Reformhaus und einen Süßwarenladen, eine gute Busverbindung in die Stadt, die Havel und den Neuen Hahneberg. Der war mal Schuttabladeplatz, damals aber war er gerade ein Park geworden. Marianne Masuch gefiel es in der Maulbeerallee. Heute heißt die Gegend Heerstraße Nord, weil sie am Ende der Heerstraße liegt, und sie gilt als ein sozialer Brennpunkt. Putz blättert von vielen Fassaden, die schönen Geschäfte sind weg, Trinker sitzen schon morgens vor dem Staaken-Center. Die Mieten sind mit die niedrigsten in Berlin. Etwa 16.000 Menschen leben dicht gedrängt in der Hochhaussiedlung, enger aufeinander als im Falkenhagener Feld, dem zweiten sozialen Brennpunkt in Spandau. Dort sind die Häuser niedriger und stehen weiter auseinander. In der Maulbeerallee, der Obstallee, dem Loschwitzer Weg sind sie hoch, dunkel und verwinkelt. Hierher ziehen die Menschen, die sich die Miete in Schöneberg, Wilmersdorf oder Kreuzberg nicht mehr leisten können. „Freiwillig zieht keiner her“, „An den Rand gedrängt“, „Kiez auf der Kippe“ stand über den letzten Berichten aus dem Viertel in den Zeitungen. Der Christdemokrat Carsten Röding, Baustadtrat von Spandau, sagte im vergangenen Jahr: „Ich wüsste nicht, wem man empfehlen sollte, hierher zu ziehen. Dies ist der schlimmste Stadtteil von Berlin“. Anscheinend hat die Politik die Heerstraße Nord abgeschrieben. Der Soziologe Thomas Sonntag leitet die Jugendarbeit im Gemeinwesenverein mit Sitz in der Obstallee. „Es gab hier mal eine ganz gute Zeit“, sagt er, „aber vor gut drei Jahren ist es gekippt. Jetzt haben wir es mit einer Flut von Hilfseinsätzen zu tun. Die soziale Mischung stimmt einfach nicht mehr.“ Als er anfing, gab es einen Wohnungsleerstand von fast 20 Prozent, nachts erleuchtete die Künstlergruppe „Neue Nachbarn“ die Fenster der leeren Wohnungen. „Jetzt ist es so gut wie voll vermietet. In den Schaukästen der Wohnungsbaugesellschaften hängen nur Angebote für freie Autostellplätze.“ Sonntag legt die Sozialstrukturdaten von 2012 auf den Tisch. Seit 2006 ist die Einwohnerzahl um 1300 angestiegen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 17,9 Prozent (Berlin 9,4 Prozent), die der Langzeitarbeitslosen bei 6,3 Prozent (Berlin 3,1 Prozent). 77,8 Prozent der Kinder unter 15 leben von Arbeitslosengeld II oder Existenzsicherung (Berlin 33,6 Prozent). „So ist es hier“, sagt Sonntag. „Fast 80 Prozent der Kinder wachsen in Familien auf, die von Arbeitslosengeld leben. Das ist einigermaßen irre.“ Er blättert weiter. „Hier, das ist auch interessant. Die durchschnittliche Kaltmiete pro Quadratmeter ist 2012 auf 4,81 Euro gefallen. Das ist gegen den Trend. 2010 lag sie sogar nur bei 4,25 Euro.“ Er zeigt das nächste Blatt. „Das ist das Ranking nach Postleitzahlen. Es gibt 190 Postleitzahlengebiete in Berlin. 2007 war die Heerstraße Nord noch auf Platz 168, 2010 war sie auf Platz 190. Die billigsten Mieten im Jahr 2010 gab es hier. Jetzt sind wir auf Platz 188. Zwei Bezirke in Hellersdorf-Marzahn liegen noch drunter.“ Es ist erstaunlich, dass ein Stadtteil, in den niemand will, voll vermietet ist. Gibt es dafür eine Erklärung, Herr Sonntag? „Es gibt Gerüchte“, antwortet er. „Sie lauten, dass die Leute die nirgendwo anders etwas finden, hier unterkommen.“ Um sich ein Bild von der Heerstraße Nord zu machen, geht man am besten vom Staaken-Center aus den Loschwitzer Weg hinunter. Im Einkaufscenter gibt es Woolworth, eine Videothek, eine Spielhalle und eine Apotheke. Gegenüber gibt es ein Eiscafé und Frisör Rosi. Dann gibt es nur noch Hochhäuser. Obwohl hier viele Menschen wohnen, ist kaum jemand auf der Straße. An der Ecke zum Pillnitzer Weg steht ein Mann mit einem blauen Auge und möchte interviewt werden. Allerdings sei er alkoholisiert. Woher haben Sie das blaue Auge? „Weiß nicht. Black Out. Bin Alkoholiker. Aber pflegeleicht.“ Die Gardinen vor den Fenstern des Wohnblocks, in dem er verschwindet, sind vergilbt. Manche Fenster sind mit Pappe verklebt. An der Haustür gibt es zwei Sorten von Klingelschildern: viele verblasste unter Plastik und fast genauso viele neue, die auf den Klingelknöpfen kleben. Die Mühe sie einzuziehen, macht man sich offensichtlich nicht mehr. Ein Stück weiter, in der evangelischen Kirchengemeinde, gibt die Berliner Tafel jeden Donnerstag Lebensmittel aus, auch am vergangenen Donnerstag. 30 Mitarbeiter beginnen morgens um halb acht mit dem Aufbau der Stände, es ist die größte Ausgabestelle der Stadt. Rund 520 Personen sind registriert. „Früher standen die Leute hier schon morgens um sechs an“, erzählt Klaus Ringhand, der Gemeindevorsitzende. „Deshalb haben wir ein Nummernsystem eingeführt, wo die Leute zwar zu einer bestimmten Zeit kommen müssen, dafür aber nicht lange warten.“ „Ich war auch schon um sechs Uhr hier“, ruft eine untersetzte Frau mit lila gefärbten Haaren dazwischen. Sie trägt auch einen lila Mantel, ein lila T-Shirt und Tuch, beides im Leopardenfellmuster, und stellt sich als Angelika Holtmann vor. Früher war sie Haushälterin, davor Auffüllkraft in einem Supermarkt, jetzt ist sie schon lange arbeitslos. „Aber ich habe nicht ganz so dolle Probleme wie andere.“ Sie schaffe es sogar, Geld für Futter für ihre drei Katzen abzuzweigen. „Und ich rauche! Aber schön ist es nicht, arm zu sein.“ Und die Ecke hier, fügt sie mit gesenkter Stimme hinzu, sei eine Katastrophe geworden. „Ich kenne Leute, die trauen sich abends nicht mehr raus. Zu viele Aggressionen sind auf der Straße. Meiner Meinung nach geht das hier steil nach unten.“ Fragt man bei der Polizei nach, ob es viele Konflikte gibt in dieser Gegend, in der viele Familien und wenig Alleinstehende wohnen, ist die Antwort: Ab abends um sechs haben wir es fast ausschließlich mit häuslicher Gewalt zu tun. Nicht draußen. Doch das geht die ganze Nacht durch. Vier Kinder, keine Miete Gegensätze zwischen Armen und Reichen wie anderswo in der Stadt sind in der Heerstraße Nord nicht zu spüren. Hier ist bloß Armut sichtbar. Sie drückt sich auch in dem aus, was es nicht gibt: keine Restaurants, keine Parfümerie, keinen Buchladen, kein Möbelgeschäft, kein Kino. Nichts, wo es Dinge zu kaufen gibt, die das Leben bloß schöner machen. Es gibt den Friseur, die Schneiderei und den Waschsalon, das braucht man zur Sicherung der Grundbedürfnisse. „Das Schlimme ist, dass die Leute, die herziehen oder vom Jobcenter aufgefordert wurden herzuziehen, auch hier oft mit dem Geld nicht zurechtkommen“, sagt Thomas Sonntag. „Das Jobcenter würde die Miete gerne direkt an die Vermieter überweisen, aber das geht bei Familien nicht. Das Problem bei ihnen ist die Finanzierung aus verschiedenen Töpfen. Am 15. kommt das Kindergeld, am Monatsende Hartz IV. Die Leute warten auf das Geld. Wenn sie es haben, geben sie es aus. Die These ist ganz klar: Familien, die herziehen, brauchen eine HZE, Hilfe zur Erziehung.“ Das bedeutet, dass die Familien von Sozialarbeitern zu Hause besucht werden. Eigentlich ist sie als eine pädagogische Hilfe gedacht, wenn Kinder auffällig in der Schule sind, nie ein Pausenbrot dabei haben oder erst gegen elf erscheinen, obwohl die Schule um acht beginnt. „Aber tatsächlich machen wir ganz viel Basissicherung“, sagt Sonntag. „Wir haben Familien, die zahlen keine Miete. Dann kriegen sie die fristgemäße oder die fristlose Kündigung, haben vier Kinder und dann, tja, dann wird es schwierig. Dann muss das Jugendamt gucken, wie es schnell vier Kinder unterbringt.“ Wohin ziehen die Familien, die hier ihre Wohnung verlieren? „Das möchte ich auch mal wissen.“

1 Kommentar:

  1. Tja, aber die Mieten steigen auch in diesem Wohngebiet. Die 1 und 2 Zimmer Wohnungen liegen bei Neuvermietung schon heute über dem Satz, den das Jobcenter für 1 oder 2 Personen zahlt. 42 Quadratmeter 1 Zimmer Wohnung in der Obstallee 440-450€ warm, sagte man mit zumindest am Telefon (GSW).

    Die Unterscheide der Mieten werden immer weiter schmelzen. In 5-10 Jahren wird es auch in der Obstallee nicht mehr billig sein.

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