Sonntag, 16. August 2015

»Gefangene haben keine Rechte«

Die Justiz in Odessa geht brutal gegen Oppositionelle vor, vor allem gegen Aktivisten der Antimaidanproteste. Ein Gespräch mit Nadiia Melnychenko und Kyrylo Shevchuk Wie viele politische Gefangene gibt es in Odessa? Nadiia Melnychenko: Zur Zeit (im Juni, jW) befinden sich 58 Menschen in Haft, ausschließlich Antimaidanaktivisten oder Teilnehmer des Protestlagers auf dem Platz Kulikowo Polje im Frühjahr 2014. 55 sind in Untersuchungshaft, drei wurden ohne Urteil im Februar in eine Vollzugsanstalt außerhalb der Stadt gebracht. Der Vorwand war: Sie sollten gegen ukrainische Soldaten ausgetauscht werden, die im Donbass gefangengenommen worden waren. Kyrylo Shevchuk: Es handelt sich um drei Personen, die ohne Urteil eines ordentlichen Gerichts seit Februar in einer Strafkolonie für Schwerverbrecher außerhalb Odessas festgehalten werden. Das verstößt in zynischer Weise gegen die Verfassung der Ukraine und gegen die Menschenrechte. Mit welcher Begründung werden sie dort gefangengehalten? Kyrylo Shevchuk: Der Austausch war nur die offizielle Version. Er hat nicht stattgefunden, was bedeutet, dass sie ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht werden müssen. Sie sind aber noch immer dort, und die Behörden geben niemandem eine Auskunft, warum das geschieht. Die Anwälte dieser Gefangenen haben sich mit der Frage nach den Haftgründen an die Generalstaatsanwaltschaft gewandt, erhielten aber keine konkreten Antworten, nur solche in der Art: Das wird geklärt. Wie sind die Haftbedingungen? Kyrylo Shevchuk: Durch die Zellenwand zieht sich ein Wasserrohr, die Toilette ist ein Loch im Fußboden, das Licht kommt aus einer schwachen Glühbirne. Brennt die durch, wird sie nicht ersetzt, dann müssen Verwandte helfen. Die Gefangenen sitzen in ständigem Dämmerlicht. Es gibt ein Waschbecken für alle vier Insassen einer Zelle, aus dem Wasserhahn holen sie sich Wasser zum Trinken und zum Kochen, denn die Gerichte, die es gibt, sind ungenießbar. Sie riechen unangenehm und enthalten viele chemische Zusatzstoffe. Die Häftlinge sind auf die Lebensmittel angewiesen, die ihnen Verwandte bringen und die sich mit einem einfachen Wasserkocher zubereiten lassen, also meistens Suppe oder Brei. Eine der Matratzen liegt auf dem Betonfußboden, zur Ausstattung gehören ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Fernsehapparat, den auch Verwandte gebracht haben. Wissen die Gefangenen, die Sie vertreten, was ihnen vorgeworfen wird? Kyrylo Shevchuk: Es handelt sich um eine Gruppe von 21 Personen, denen Teilnahme an massenhaftem Aufruhr am 2. Mai 2014 auf dem Gretscheskaja Ploschtschad, bei dem es Tote gab, vorgeworfen wird. Auf dem Platz kam es zu Auseinandersetzungen mit angereisten Fußballfans, Hooligans, die einen Marsch durch die Stadt veranstalteten. Dort kamen sechs Menschen ums Leben, davon vier aus dem Antimaidanprotestlager auf dem Kulikowo Polje. Das war tagsüber, das Gewerkschaftshaus am Kulikowo Polje brannte am Abend. Den 21 wird faktisch vorgeworfen, ihre eigenen Leute ermordet zu haben. Kann man sagen: Die Vorwürfe sind zweifelhaft, die Haftbedingungen unmenschlich? Kyrylo Shevchuk: Ich würde es so formulieren: Die Gefangenen werden nicht wie Menschen behandelt und haben keinerlei Rechte. Weder die Staatsanwaltschaft noch die Gefängnisverwaltungen beachten die Vorschriften. Heißt das, Hilfe für diese Gefangenen ist faktisch unmöglich? Was können Sie erreichen? Kyrylo Shevchuk: Wir hoffen, dass die Öffentlichkeit in der Welt und die in Europa, dass die Politiker anderer Länder ihre Aufmerksamkeit der Lage der Menschenrechte in der Ukraine zuwenden, dass sie ihren Einfluss geltend machen. Die Ukraine strebt, wie es heißt, nach Europa, nach europäischen Werten. Tatsächlich beachtet sie die Menschenrechte nicht und tritt auch Verträge, die sie mit unterschrieben hat, mit Füßen. Haben Sie irgendein Signal erhalten, dass es aus Westeuropa solche Hilfe geben könnte? Kyrylo Shevchuk: Die Ukraine ist nach außen abgeschottet, und das betrifft besonders die Region Odessa. Über die wirkliche Situation dringt wenig nach außen. Immerhin will sich das Europarlament jetzt mit diesen Fragen befassen. Gibt es Ermittlungen zum Sturm von Neofaschisten auf das Protestlager auf dem Kulikowo Polje am 2. Mai 2014 und zum Brand des Gewerkschaftshauses? Kyrylo Shevchuk: Dazu gibt es nur wenige Informationen. Die Untersuchung wurde offiziell eröffnet, aber es gibt keine Ergebnisse. Die Ermittlungen werden ohne Zeugen und ohne Beschuldigte geführt. Es werden vor allem Aussagen von Hinterbliebenen aufgenommen. Wer juristische Kenntnisse hat, kann sich über die Funktionsweise der Justiz in der Ukraine heute nur wundern. Nach der Tragödie auf dem Kulikowo Polje und im Gewerkschaftshaus konnten sich die Einwohner der Stadt zwei Wochen lang frei auf dem Platz und in der Brandruine bewegen. Bereits am Tag nach dem Brand wurden dort Führungen veranstaltet, so dass alle Spuren und Beweise vernichtet wurden. Die Leute nahmen sich Souvenirs nach Hause mit. Das wurde gezielt gemacht, damit nichts zu finden ist, was einen Hinweis auf die Schuldigen an diesem Verbrechen liefern kann. Nadiia Melnychenko: Einer der Beschuldigten zu den Ereignissen auf dem Gretscheskaja Ploschtschad war am 2. Mai 2014 überhaupt nicht dort. Er wurde aus dem brennenden Gewerkschaftshaus evakuiert, war bis zum folgenden Tag im Krankenhaus und wurde dann vom ukrainischen Geheimdienst verhört. Danach wurde erst der Vorwurf erhoben und er verhaftet. Tatsächlich war er einer der Geschädigten vom Kulikowo Polje. Er sitzt aber ebenfalls seit dieser Zeit in Haft. Am 14. Mai wurde Ihre Zeitung Timer von den Behörden geschlossen. Mit welcher Begründung? Nadiia Melnychenko: Der Durchsuchungsbeschluss wurde vom Gericht mit Gefahr für die staatliche Souveränität der Ukraine begründet. An diesem Tag fanden auch Hausdurchsuchungen bei sechs Mitarbeitern der Zeitung statt. Sie wurden zu Verhören von zehn bis 15 Stunden Dauer beim Geheimdienst gebracht. Unsere Redaktionscomputer wurden beschlagnahmt und die Website gelöscht. Wir haben sie zwar inzwischen wiederhergestellt, aber ein großer Teil der dort gespeicherten Informationen ist verloren. Kyrylo Shevchuk: Letztlich geht es darum, jede oppositionelle Tätigkeit zu kriminalisieren. Die Menschen haben Angst. Sie erheben den Vorwurf, dass der Geheimdienst physisch foltert. Welche Belege haben Sie? Kyrylo Shevchuk: Zwei meiner Mandanten waren ab 1. April einen Monat lang in Untersuchungshaft. Dem einen wurden terroristische Anschläge, Bombenattentate in Odessa vorgeworfen. Er wurde zusammengeschlagen. Ich durfte ihn erst neun Tage nach seiner Festnahme sehen, er konnte sich kaum bewegen und hatte überall Hämatome. Der zweite, ein orthodoxer Kosake, wurde nicht nur verprügelt, sondern ich habe Gründe anzunehmen, dass er kurzzeitig klinisch tot war. Er erzählte, dass ihm ein Sack übergestülpt wurde, als seine Antworten die Vernehmer nicht mehr befriedigten. Er verlor das Bewusstsein und kam durch einen Elektroschock wieder zu sich. Ich bin kein Arzt, daher behaupte ich nicht, vermute aber, dass er einen Herzstillstand hatte und so wiederbelebt werden sollte. Erfährt die Öffentlichkeit in Odessa irgendetwas von diesen Dingen? Kyrylo Shevchuk: Was wir beweisen können, veröffentlichen wir. Ich habe z. B. Dokumente, die die Hämatome von Untersuchungshäftlingen belegen. Es gibt auch einen Bericht der OSZE über diese Folter, denn wir übergeben ihr unser Beweismaterial. Das Gespräch führte Arnold Schölzel

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