Sonntag, 10. Mai 2015

Unersetzliche Verluste in Moskaus einzigartiger Bibliothek.

Wer waren die Brandstifter? Samstag, 14. März 2015 Übersetzung aus dem Russischen: Florian Geißler Eine Analyse dieser humanitären Katastrophe und einige Zitate, die den Direktor der abgebrannten Bibliothek des Instituts für Gesellschaftswissenschaften (BIGW), Akademiemitglied J. Piwowarow, charakterisieren: „…was für mich auch sehr wichtig war — ich war schon mit 18, 19 Jahren ein absoluter Sowjetgegner, ein Antikommunist, obwohl ich bis 18 Lenin mochte, so hat mich die Großmutter ergezogen. Wir bildeten im Мoskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen[2] (MSIB) geheime Zirkel, bereiteten den Mord an Breshnews vor“ BIGW – Was haben wir verloren? Am Freitagabend, am 30. Januar 2015 begann es in der Bibliothek des Institutes für wissenschaftlichen Informationen über Gesellschaftswissenschaften (ИНИОН) der Russischen Akademie der Wissenschaften ein Großbrand. Die Gründe der Entzündung sind bis heute nicht aufgeklärt, doch es gibt mindestens drei Versionen: Brandstiftung, Kurzschluß der Elektroanlage oder wie der Direktor der BIGW, Akademiemitglied Jurij Piwowarow, im Sender „Stimme Moskaus“ verlauten ließ, eine „Entzündung einer Pulverpetarde“. Bis zur völligen Löschung des Brandes, der in die Kategorie 3 (von 5) eingestuft wurde, waren mehrere Tage erforderlich. Die Gesamtfläche des Brandes umfaßte etwa 2.000 m², dabei stürzten die Decken zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk ein, eine der Wände des Gebäudes und das Dach. Nach offiziellen Informationen, gelang es den Mitarbeitern des Katastrophenschutzministeriums, das Bibliotheksarchiv, in dem sich mehr 14,2 Million Dokumente befanden vor dem Feuer zu bewahren. Nichtsdestoweniger kann man die Vorgänge als die größte Katastrophe für die russischen Geisteswissenschaften bezeichnen. WAS IST DAS INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN DER RUSSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, UND WAS IST SEINE BIBLIOTHEK? Das verbrannte Büchermagazin wurde am 7. Februar 1969 auf der Basis der Zentralbibliothek für Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der UdSSR „J.P.Wolgin“[3] eröffnet, die kurz nach Errichtung der Sowjetmacht 1918 gegründet worden war. Die Zentralbibliothek und Wissenschaftliche Bibliothek (BIGW) erhielten dann seit 1920 obligatorisch immer kostenlose Exemplare aller herausgegebenen Bücher, Zeitschriften und Zeitungen der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Die Bestände wurden komplettiert durch ausländische Literatur, die im Ausland gekauft wurden und durch Bücheraustausch. Nach dem Umfang ihres Bestandes war die BIGW die viertgrößte im Land und nach der Russischen Staatsbibliothek („Leninbibliothek“) die zweitgrößte in Moskau. Sie setzt sich zusammen aus der Zentralbibliothek und den Bibliotheken der akademischen Institute Moskaus. Eine der Hauptaufgaben der Mitarbeiter der Bibliothek seit ihrer Gründung war die wissenschaftliche-methodische Arbeit zu Problemen der Bibliothekskunde und Bibliographie. Mit anderen Wörtern, die BIGW half den Forschern mit den Informationen, die über die verschiedenen Themen der Arbeiten hinausgehen. Um den kolossalen Umfang der Informationen zu bewältigen, gab die BIGW spezialisierten monatliche Zeitschriften heraus mit dem Verzeichnis und Übersichten über Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, sowie Thesauren – das sind Nachschlagewerke über Stichwörter, die den Forschern ermöglichen, operativ die sie interessierenden Arbeiten herauszufinden. Die Bibliothek führte einen internationalen Bücheraustausch mit 723 Partnern in 112 Ländern der Welt durch, war Mitglied in der Russischen Bibliothekarische Gesellschaft (RBG) und in der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA). Das Gebäude war interessant, da es keine zu öffenden Fenster hatte, statt dessen war eine einzigartige zentrale Klimatisierungsanlage vorhanden, die mittels eines Wasserkreislaufes betrieben wurde, die mit einem Wasserbecken (welches heute nicht mehr in Betrieb ist) vor dem Gebäude verbunden war. Entgegen den Meinungen, die man im Internet lesen kann, arbeitete das System der Konditionierung, wie auch der Belüftung völlig normal. Es ist eine andere Sache, daß es im Zusammenhang mit der Verwahrlosung der sowjetischen Wissenschaft nach 1990 zerstört wurde. Deshalb war es nach der Trockenlegung des Wasserbeckens im Gebäude ziemlich schwül. Eine weitere einzigartige Besonderheit dieses Instituts war die Beleuchtung, die durch große runde Dachfenster gewährleistet wurde. WAS BEFAND SICH IN DER BIBLIOTHEK UND IN DEN ARCHIVEN? Im Bücherfundus der Bibliothek wurden bis vor dem Brand über 6 Millionen Exemplare ausbewahrt, 7,5 Millionen Periodika, 19.000 audiovisuelle Medien (einschließlich Mikrofilme), 121.000 handschriftliche Dokumente, Dissertationen und 450.000 Ausgaben von geringer Auflagenhöhe. Es gab Dokumente in alten und neuzeitlichen östlichen, europäischen und russischen Sprachen. Im Fundus der Bibliothek wurden seltene Ausgaben des 16. bis Anfang des 20. Jahrhunderts aufbewahrt, es gabe etwa 1.000 Bände der Gotischen Bibliothek (von denen ein großer Teil 1956 an die DDR zurückgegeben worden waren). Außerdem existierten in der Bibliothek vollständige, und in einzelnen Fällen auch in Rußland die einzigen Sammlungen von Dokumente des Völkerbunds, von internationalen Organisationen, sowie Parlamentarische Berichte der USA (ab 1789) und von England (ab 1803). Die Sammlung der Bücher in den slawischen Sprachen galt als eine der größten in Rußland und in der Welt, und viele Zeitschriften waren in vollständigen Sätzen über hundert und mehrere Jahre vorhanden. Nicht zu vergessen, daß die Bibliothek auch über eine einzigartige Sammlung regionaler Periodika der Zeiten des Bürgerkrieges der Jahre 1917-1922 verfügte. WAS GING DURCH DIE BRANDKATASTROPHE VERLOREN? Im Erdgeschoß des Gebäudes der BIGW der Russischen Akademie der Wissenschaften befanden sich das Büchermagazin und der Internetserver – und gerade dort wurden die digititaliserten Kataloge der Bibliothek und digititaliserte Kopien der Druckexemplare erstellt. Im zweiten Stock waren die wissenschaftlichen Bereiche und die Arbeitsräume der Mitarbeiter. Im drittem Stock, von wo der Brand ausgegangen war, befanden sich die eigentlichen wissenschaftlichen Abteilungen, die Lesesäle und der Katalog. Dort waren auch die zeitgenössischen Ausgaben aufbewahrt. Der elektronische Katalog und die Datenbanken der Bibliothek enthielten ungefähr 3,5 Million Aufzeichnungen, sie wurden jedoch infolge der Brandbekämpfung der Internetservers mit Wasser überflutet, und es ist fraglich, ob die digitalisierten Daten wieder herstellbar sind. Die Webseite der BIGW der Russischen Akademie der Wissenschaftenunden ist zur Zeit unzugänglich. Ein großer Teil der Informationen über die im Fundus der Bibliothek aufbewahrte Literatur befand sich in den alphabetischen Karteikartenkatalogen, die vom Brand vollständig zerstört wurden. WAS IST DAS RESULTAT DER BRANDKATASTROPHE? Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der Fundus der Bibliothek nicht nur durch den Brand, sondern auch erheblich durch die Wasserschäden gelitten. Außerdem befindet sich der Aufbewahrungsort faktisch zur Zeit unter freiem Himmel, was zu weiteren Folgeschäden der altertümlichen Bücher, insbesondere auch der Zeitungen und Zeitschriften beiträgt. Zur Trocknung und Aufbewahrung mehrerer Millionen Exemplare werden riesige Flächen und kolossale Ressourcen benötigt. So daß aller Wahrscheinlichkeit nach ein großer Teil des Fundus für immer verloren sein wird. Das betrifft in erster Linie die alten Bücher und Zeitungen, die gegen Feuchtigkeit besonders empfindlich sind. Für die die erneute Erfassung und Katalogisierung des Bestandes der Bibliothek werden Monate, wenn nicht sogar Jahre vergehen. Das ist vor allem deshalb so, weil der Karteikartenkatalog vernichtet wurde und das Schicksal der elektronischen Verzeichnisse derzeit nicht bekannt ist. An erster Stelle steht die Frage einer Inventur und faktisch die Wiederherstellung eines Katalogs von Anfang an. Unter Berücksichtigung dessen, daß das Gebäude der Bibliothek wahrscheinlich nicht wieder hergestellt werden kann, ist für die Katalogisierung ein mindestens vergleichbarer Raum erforderlich, und es wird einige Jahre hartnäckiger Arbeit bedürfen. BIBLIOPHILE KOSTBARKEITEN – AUF DEN SCHWARZMARKT Der Transport und die Umlagerung des erhalten gebliebenen Bibliotheksbestandes ruft bei den Fachleuten erhebliche Befürchtungen hervor. Sind doch 14 Millionen Exemplare nicht mit ein oder zwei Lastkraftwagen zu befördern. Und durch das Fehlen von Verzeichnissen lassen sich weitere Buchverluste bei der Beförderung faktisch nicht vermeiden. Die Frage, ob nicht irgendwann auf dem Schwarzmarkt bibliophile Kostbarkeiten der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften auftauchen werden, bleibt also völlig offen. Am traurigsten ist, daß die russischen Forscher nun für viele Jahre, wenn nicht für immer, den Zugang zu den für ihr Arbeit notwendigen Informationen verloren haben. Für viele Ausgaben, die in der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wurden, gab es Duplikate in der „Leninbibliothek“ – doch sind sie, wie die Praxis zeigt, für die Forscher faktisch nicht zugänglich. Viele selten benötigte Bücher werden gestapelt in Moshaisk aufbewahrt, ein Teil davon auch in Chimkin. Die Vorgänge an jenem Freitag sind eine absolute Katastrophe für die russischen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, und wenn die Führung des Landes keine operative Maßnahmen einleitet, um diese einzigartige Bibliothek wiederherzustellen, wird Rußland es für immer riskieren, seine Positionen in der wissenschaftlichen Welt zu verlieren. Wie die Nachrichtenagentur Nowosti mitteilte, hat der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Wladimir Fortow, den Brand in der Bibliothek des Institutes für wissenschaftlichen Informationen der Gesellschaftswissenschaften (BIGW) mit dem Unglück im Atomkraftwerk von Tschernobyl verglichen. Insbesondere hat er erklärt: „Für die Wissenschaft ist es ein großer Verlust, daß dieser weltgrößte Aufbewahrungsort, der in seiner Art wahrscheinlich nur vergleichbar ist mit der Kongreßbibliothek. Es wurde hier Material zusammengetragen, das unmöglich anderswo zu finden ist, alle geisteswissenschaftlichen Institute haben diese Bibliothek genutzt. Auch äußerlich erinnert das hier Vorgefallene an Tschernobyl.“ Timofej Schewjakow * * * INZWISCHEN KOMMEN IMMER NEUE EINZELHEITEN ANS LICHT Jelena Gluschko, facebook Es hatte sich so ergeben, daß ich meine Aspirantur an der BIGW machte, und daß eine nahe Freundin von mir bis jetzt dort arbeitet (oder arbeitete?). Noch vor einigen Jahren war eine Kollegin von ihr, die in unmittelbarer Nähe des Instituts wohnt, in die Stadtverwaltung gegangen, um aufzuklären, ob auch der Fünfgeschosser, in dem sie wohnt, abgerissen werden soll, da im Plan der perspektivischen Entwicklung des Wohnbezirkes an der Stelle der BIGW ein Handelszentrum vorgesehen war. Die Fragen wurden der Verwaltung übergegeben, doch eine Antwort darauf erhielt sie nicht. So gab es schon in den vorangegangenen Jahren verschiedene Gerüchte über das Schicksal der BIGW. In letzter Zeit war man davon überzeugt, daß die Bibliothek das neue Jahr nicht mehr erleben würde. Nach der Reform, in deren Ergebnis die „Akademie der Wissenschaften“ als unabhängige Einrichtung aufgehört hatte zu existieren und an die Macht der Beamten der „Bundesagentur für Wissenschaftsorganisation“ übergegangen war, haben von den vielen Instituten die wenigsten das neue Jahr überlebt. So wurde beispielsweise die gesamte Bibliothek des „Instituts für Weltliteratur“ (IfW), die insbesondere einzigartige jüdische Manuskripte enthielt, aus der wunderbaren Villa auf der Powarskaja ausgeräumt und in die BIGW gebracht, wo sie im dritten Stockwerk (wo der Großbrand begann) in Körben und Kartons gelagert wurde. Und es heißt, daß in der BIGW nicht nur die Bibliothek des IfW, sondern auch die Bibliothek des „Instituts der Slawistik“ (IfS) mit einer Unmenge einzigartiger Ausgaben auf diese Art und Weise gelagert worden war. Im neuen Jahr sollte dann jedoch eine Überprüfung beginnen – die Mitarbeiter hatten die Kommission in dieser Woche erwartet. Und diejenigen, die sie erwartet hatten, berichteten, daß diese „Kommission“ nicht etwa aus wissenschaftlich graduierten Personen bestand, sondern aus irgendwelchen jungen Leuten, die sich absolut nicht für die wissenschaftlichen Erfolge der Mitarbeiter interessierten, sondern ausschließlich für die Wände, die Räume und das Gebäude. Das Bauwerk der Bibliothek, so muß man sagen, ist natürlich etwas völlig Abscheuliches. Ein voller Mißerfolg der sowjetischen Baukunst, bei plus 40°C im Sommer und minus 40°C im Winter. So haben wir, meine Freundin und ich, uns eben damit getröstet, daß wir dachten, darauf ist man eben heute nicht erpicht.[4] Doch in der zweiten Woche gingen im Institut beunruhigende Gerüchte um. Man sprach davon, daß sich der Direktor J.S. Piwowarow, den einige von seinen Äußerungen bei „Echo Moskwy“ her kennen, am Freitag geweigert habe, den Bericht zu unterschreiben, der von der Kommission erstellt worden war. Deshalb habe die Überprüfung eben gedauert. Was in diesem Bericht stand, haben die Mitarbeiter nicht erfahren. Man vermutete aber, daß das Gebäude habe nicht den entsprechenden sanitären Normen entsprochen, und es sei vorgeschlagen worden, das Institut zusammen mit der Bibliothek irgendwohin in die Pampa zu verlegen. Brandstiftung! Die zweite Woche der „Überprüfung“ ging an jenem Freitag, dem 30. Januar 2015 zu Ende. Und um 21.00 Uhr, als sich weder Mitarbeiter noch Besucher im Gebäude befanden, begann im dritten Stockwerk, im Saal der Neuzugänge der Brand, dort – wo es nur raschelnde neue Zeitschriften und Bücher gab, und weit und breit keinen einzigen Teekocher, den man vergessen haben könnte auszuschalten. Als halb Zehn die Bewohner der umliegenden Häuser die Feuerwehr alamierten, die eine Viertelstunde später erschien, hatte der Brand bereits 2.000 m² erfaßt. Also, was für Zufälle es doch gibt! Die Bibliothek des Instituts für Gesellschaftswissenschaften verfügte zur sowjetischen Zeit über einen einzigartigen Status, weshalb dort auch seltene ausländische Ausgaben zu finden waren, die es sonst nirgendwo in Russland gab. Dort wurde auch eine Sammlung altertümlicher Erstdrucke russischer Bücher aufbewahrt, darunter auch Ausgaben aus dem 18.Jahrhundert, wovon wahrscheinlich nicht ein einziges Exemplar erhalten geblieben ist. Die Bibliografen hätten besser darüber erzählen sollen… Es waren Barbaren, welche an die Macht kamen … Die Mitarbeiter BIGW hatten sich mit der Digitalisierung der Bücher beschäftigt, hatten elektronische Kataloge erstellt und Datenbanken sämtlicher Zeitschriftenartikel verfaßt – eine Einmaligkeit der gesamten russischen Geisteswissenschaften. Der Server, auf dem sie gespeichert waren, befand sich ebenfalls im Gebäude und ist mit verbrannt. Als die berühmte Bibliothek von Alexandrien verbrannte, war sie nicht von einem wahnsinnigen Herostraten[5], ja – nicht einmal vom Kaiser selbst angezündet worden, sondern von Barbaren, welche ohne jeden Lärm und ohne jedes Waffengeklirr unmerklich im Imperium die Macht ergriffen hatten… * * * 451º Fahrenheit à la Piwowarow Der geistige Brandstifter Wie J.Piwowarow, der Direktor der Bibliothek des Instituts für Gesellschaftswissenschaften (BIGW), unter Hinweis auf Mitarbeiter des Katastrophenschutzministeriums erklärte, ist es nicht vorgesehen, das Gebäude der Bibliothek wiederherzustellen. „Wir müssen abwarten“, sagte er, „was weiter geschehn wird, und inwiefern das Gebäude standfest ist oder nicht. Ein Bereich ist nicht verbrannt.“ Und er fügte hinzu: „Auf jeden Fall, wird unsere Bibliothek keine neuen Räume erhalten.“ Seinen Worten nach galt der Hauptanschlag nicht den Büchern. „Der Hauptanschlag galt dem Institut, das ein wissenschaftliches Fließband war, und dieses Fließband ist stehengeblieben“, sagte Piwowarow. Nach seinen Worten verfügte das Institut über wissenschaftliche Datenbanken, gab unzählige Druckschriften heraus, befaßte sich mit deren Vorbereitung und hatte auch eine eigene Druckerei. „Das alles wurde außer Betrieb gesetzt“, sagte der Direktor der BIGW. Wir erinnern hier daran, was J.S.Piwowarow, der seit 1998 Direktor der BIGW ist, über sich in einem Interview im Zyklus „Odessaer Gespräche“ [1] erzählte: „… Mit sieben oder acht Jahren war ich ein bedingungsloser Antistalinist, ich war ein Mensch, der vieles verstand. Und was für mich noch sehr wichtig war, seltsamerweise — als ich in den Kindergarten kam, wurden wir mit der ganzen Gruppe in einen Betrieb geführt. Und als ich den Betrieb gesehen hatte, da habe ich mir gesagt, — ich war sechs Jahre alt, ich bin spät in den Kindergarten gekommen, — da habe ich mir gesagt, daß ich niemals hier arbeiten werde. … Ich hatte in der Kindheit natürlich auch Musikunterricht, zu mir kam der Lehrer nach Hause. Die Schwester besuchte die Musikschule, und zu mir kam der Lehrer einfach, ich lernte Klavier. Und der Russisch-Lehrer kam auch, erst später, als ich erwachsen war, bin ich dann selbst zum Unterricht gefahren. Ich hatte natürlich eine glückliche Kindheit, wie sie nicht jedes sowjetische Kind hatte, da meiner Großmutter alle ihre Besitztümer aus Zarenzeiten zurückgegeben worden waren. Es war die völlig gesicherte sowjetische Familie in der großen Wohnung, und so weiter. … Meine Großmutter war kein sehr zurückhaltender Mensch, sie zog mich groß, weil die Eltern arbeiteten. Die Großmutter hatte eine schnelle Zunge und nichts zu verbergen. Bei alledem war sie Kommunistin. Das heißt, nicht in der Stalinschen Überflutung, sondern eher kulturvoll, auf Leninsche Art. … Ich hatte mir (in der UdSSR, seit 1967!) angewöhnt, ausländische Zeitschriften und Zeitungen zu lesen, was ich bis heute tue. Ein absoluter Antikommunist … Meine erste Arbeit habe ich mit 22 Jahren geschrieben: „Die Philosophie der Geschichte Tschaadajews“. Das war natürlich keine wissenschaftliche Arbeit, sondern Unsinn, aber es war meine erste Berührung mit dem, womit ich mich heute beschäftige. Parallel dazu, was für mich auch sehr wichtig war — ich war schon mit 18, 19 Jahren ein absoluter Sowjetgegner, ein Antikommunist, obwohl ich bis 18 Lenin mochte, so hat mich die Großmutter ergezogen. Wir bildeten im Мoskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen[6] (MSIB) geheime Zirkel, bereiteten den Mord an Breshnews vor, aber nicht ich sollte ihn töten… Wir dachten, — wie jene Terroristen, die in den Zaren erschossen, — daß es im allgemeinen soagr ganz gut ist, wenn die Jungs bei uns das Schießen lernen. … und Feind der Sowjetunion Eine Dummheit war natürlich, daß wir nichts von dem gemacht haben. Das einzig, was wir begangen haben — einmal haben den Hausfunk des MSIB gekapert, es war im zweiten Semester, und ich habe mich mit einer stürmischen Rede an die Studenten und Lehrer gewandt. Wir sind seltsamerweise nicht hinausgeworfen worden, man hat uns nicht exmatrikluliert. Und später, im fünften Semester, wurde ich zum ersten Mal verhaftet. Man hat mich 1972 auf dem Jaroslawler Bahnhof mit einem Koffer voller selbstverlegter Druckschriften verhaftet. Ich wurde vom KGB verhört, und ich dachte schon, daß sie mich hinauswerfen werden, aber sie haben mir nicht nur erlaubt, das Institut zu beenden, sondern auch eine Arbeit im diplomatischen Dienst aufzunehmen. Das bedeutet, daß die eine Behörde nicht wußte, was die andere macht, weil, wenn alles funktioniert hätte, hätte man mich einfach geext. So wurde ich von 1972 bis 1988 ständig vom KGB beobachtet. Als ich die Aspirantur beendet hatte, haben sie abgelehnt, mich im Institut für Weltökoniomie und Internationale Beziehungen[7] (IWIB) zu beschäftigen und haben mich hinausgeworfen. Primakow wurde wegen seiner Verbindung zu den Dissidenten hinausgeworfen und ich war ein Jahr arbeitslos. Dann kam die Miliz, ich wurde ständig zum KGB gerufen, aber ich habe nie gesessen…» Kein Interesse an der Wissenschaft „Dann begann ich 1976, in die Akademie der Wissenschaften im Institut für wissenschaftliche Informationen der Gesellschaftswissenschaften[8] zu arbeiten, und ich habe nie irgendwo gearbeitet… … Ich halte mich für einen Außenseiter. Die reine Wissenschaft interessierte mich kaum, mich interessierten andere Dinge mehr, und ich denke, daß ich zu meinem 45. Lebensjahr auch nichts besonderes geschrieben habe.“ „… so gesehen habe ich mich eigentlich nie mit Wissenschaft befaßt, und für die Historiker bin ich beispielsweise kein Historiker, weil ich nie in Archiven sitze und bestimmte Dinge einfach nicht weiß, da ich sie im MSIB nicht gelernt habe. Aber ich wurde in die Akademie der Wissenschaften in die Abteilung „Geschichte“ im „Russische Geschichte“ gewählt, zuerst als korrespondierendes Mitglied, später als Mitgleid der Akademie. Aber ich denke nicht, daß ich irgendetwas klassisch Historisches geschrieben habe. Und dabei bin ich Doktor der politischen Wissenschaften, Kandidat der historischen, aber Doktor der politischen Wissenschaften. Aber die Politikwissenschaftler halten mich auch nicht für einen der ihren, das heißt, für einen Politikwissenschaftler bin ich Historiker, und für die Historiker bin ich Politikwissenschaftler. Obwohl ich einige Jahre lang Präsident der Russischen Assoziation der politischen Wissenschaften war. Das ist eine professionelle Organisation, wie der Verband der Filmschaffenden oder der Schriftsteller. Ich war ihr Präsident, und jetzt bin ich schon einige Jahre der Ehrenpräsident. Ein Wanderer zwischen den Welten Ich fühlte mich weder den Politikwissenschaftlern, noch den Historikern zugehörig. Die schmalspurigen wissenschaftlichen Sachen waren für mich niemals so interessant, und ich weiß viele Sachen einfach nicht – darin besteht meine große Schwäche. Aber andererseits erlaubt mir das, verantwortungslos zu reden und zu urteilen, nach den Wolken und auf den Wolken zu fliegen. Vielleicht gibt es darin irgendeine Kraft, weil ein solches konkrete Mehrwissen die Menschen sehr häufig unterjocht. Ich urteile schneller über Geschichte und Politik, als wenn ich sie konkret analysieren müßte. Aber, um zu sagen, was bin ich eigentlich in der Wissenschaft? Ich denke nicht, daß ich irgendeinen Namen in der Wissenschaft habe. Ich meine das ernst. Ich werde schneller erkannt, wenn ich im Fernsehen erschienen bin. Es ist lange her, noch in den 1990er Jahren, später im Jahr 2000. Man braucht nur ein paar Vorlesungen irgendwo Fernsehen zu halten, und schon kennen dich hundert Menschen, aber wenn du 10 Bücher schreibst, dann kennen sie dich natürlich nicht. Mitte der neunziger Jahre gelang es mir, zusammen mit einem meinem Freund, eine Reihe von Arbeiten mit irgendwelchen scharfen Titeln zu verfassen, die in die Wissenschaft eingegangen sind, nicht einmal die Konzeption, sondern nur irgendwelche Wörter und Begriffe, die wir verfaßt haben, sind plötzlich in die Wissenschaft eingegangen, natürlich nicht in die Wissenschaft, sondern nur in beinahe wissenschaftliche Wendungen. Das sagt eigentlich alles, was die Wissenschaft anbelangt. Der Brandstifter vergeht – der unermeßliche Schaden aber bleibt! Ich denke nicht, daß von mir etwas Ernsthaftes bleibt, wie leider auch von meiner ganzen Generation, weil sie schon gealtert ist. Und ich sehe auch nichts Bleibendes, wofür wir ernsthaft gescholten werden könnten. Es gibt gescheite Arbeiten, es gibt kulturvolle Arbeiten, und es gibt manchmal irgendwelche Durchbrüche des Gedankens, aber wir haben keine derartigen begrifflichen Sachen gemacht, die man machen müßte. So etwa ist mein Verhältnis zur Wissenschaft. * * * In diesem Videowerbefilm ist es Zombisierung der Studenten mittels der Technik der NLP anschaulich sichtbar: „Jurij Piwowarow: Der Khan ist in den Kreml gefahren“ https://www.youtube.com/watch?v=MgOz3f1NJwY _______________ Quellen (russ.) [1] „Eine Revolution hat keinen Anfang und kein Ende“, ein Artikel des „Instituts für hohen Kommunitarismus“ [2] „Odessaer Gespräche“, 23.03.2011, http://polit.ua/articles/2011/03/23/pivovarov.html [3] http://art-of-arts.livejournal.com/458878.htm [4] http://www.km.ru/informatsionnye-voiny/2011/08/19/istoriya-sssr/kak-i-pochemu-vrut-istoriki-iv-ili-yus-pivovarov-ch-2 [1] Die Biliothek des Instituts für wissenschaftliche Information über die Gesellschaftswissenschaften, hier: BIGW (russ. Институт научной информации по общественным наукам [ИНИОН] РАН), welches zur Russischen Akademie der Wissensvchaften gehörte, wurde 1969 auf dem Bestand der Fundamentalbibliothek für Gesellschaftswissenschaften (rus. Фундаментальная библиотека общественных наук [ФБОН]) gegründet. Das Gebäude der Bibliothek war 1960 als eines der schönsten Bauwerke sowjetischer Ingenieurkunst fertiggestellt worden und galt über viele Jahrzehnte als ein Paradies für Gelehrte. [2] russ. Московский государственный институт международных отношений (МГИМО) [3] Wjatscheslaw Petrowitsch Wolgin (1879-1962), Professor, berühmter sowjetischer Historiker, Rektor der Moskauer Staats-Universität, Mitglied der Kommunistischen Partei seit 1920. [4] …und wer’s bis jetzt noch nicht verstanden hat: Dies ist ein bitterer Sarkasmus! [5] Herostrat: Verbrecher, Zerstörer aus Ruhmsucht [6] russ. Московский государственный институт международных отношений (МГИМО) [7] russ. Институт мировой экономики и международных отношений (ИМЭМО) [8] russ. Институт научной информации по общественным наукам (ИНИОН)

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