Mittwoch, 29. September 2021
Schachnovelle auf düsteren Abwegen
Eine Filmrezension von Arno Nickel
Wenn Sie sich gern überraschen lassen, so wie ich, dann sollten Sie keine Filmrezensionen lesen, bevor Sie ins Kino gehen. So landete ich gestern Abend nichtsahnend, weil spontan, zusammen mit einem guten Schachfreund im Charlottenburger Kino Delphi anlässlich des Premierenstarts der Neuverfilmung Schachnovelle, über die ChessBase schon vor einer Woche vorab berichtete. Das renommierte Kino mit seinen fast 700 Plätzen war schätzungsweise zu einem Drittel gefüllt, also nicht richtig gut, aber auch nicht enttäuschend schlecht besucht. Kennzeichnend war für mich, dass ich keinen mir bekannten Schachspieler unter den Gästen erspähte, ganz anders als beim Premierenstart des Fischer-Spassky-Spektakels Pawn Sacrifice am Rande des Berliner Kandidatenturniers 2018, wo einfach viele Schachspieler in der Stadt waren. Es mag ein bisschen den Nachwirkungen der Corona-Einschränkungen geschuldet sein, auch ich war längere Zeit nicht mehr in einem Kino. Umso größer war die Freude und Spannung beim Blick auf die große Leinwand.
Michael Dombrowsky, mein Schachfreund, vielen als Schachautor bekannt, und ich sprachen die folgenden zwei Stunden (genau: 112 Minuten) kein Wort mehr, sondern verharrten - gebannt auf die Leinwand starrend - in unseren bequemen Sesseln. Die in allen Phasen großartige Kulisse, ob in Wien – dort auf den Straßen und im Hotel Metropol - oder auf dem Ozeandampfer, die überragende Kameraführung mit Nahaufnahmen, die den Zuschauer mitten in die Handlung hineinziehen, mitunter surreal, die exzellenten Leistungen der Schauspieler, vor allem des Hauptdarstellers Oliver Masucci als Josef Bartok (in Zweigs Schachnovelle Dr. B), all das ließ nicht einen Moment Langeweile (man muss allerdings auch sagen: des ruhigen Nachdenkens ...) aufkommen. Hatte ich mich zuvor noch gefragt, ob die deutsch-österreichische Neuverfilmung wohl an die Qualität des Vorläufers mit Curd Jürgens und Mario Adorf von 1960 herankäme, so verblassten meine Erinnerungsbilder von damals wie die aus einem alten Fotoalbum, aufgenommen mit einer minderwertigen Kleinbildkamera.
Bis dann – in einem Moment, und es blieb nicht bei diesem einen Moment – die schockartige Zuspitzung der hollywoodartigen Inszenierung als psychosozialer Folterthriller mit überbordender akustischer Untermalung ihre Version des „Schachcodes“ präsentierte – na, was meinen Sie, wie die lautet?
„Beim Schach geht es darum, das Ego des Gegners zu zerbrechen!“ So oder ähnlich mehrmals vorgetragen. Ja, und außerdem gibt es auch die Sichtweise, dass Schach etwas für gelangweilte wohlsituierte ältere Herren sei (wörtlich: “für gelangweilte preußische Generäle”). Der auf dem Dampfer spielende „Weltmeister“ kommt als analphabetischer Waldschrat daher, eine äußerst bemitleidenswerte Figur, die nicht einmal über den Nimbus des neureichen arroganten Zweigschen Centovic verfügt.
Wenn Sie mich fragen: ein gelungenes antinazistisches Horrorspektakel mit Spielsuchtmotiven, was aber leider wenig mit Schach zu tun hat. Gemessen an Zweig fehlt jede Verbeugung vor unserem alten Kulturspiel, seiner Schönheit und beziehungsreichen Vorstellungswelt, seinen Möglichkeiten an bereichernden menschlichen Begegnungen, und zuletzt: Es fehlt auch jeglicher Humor, und sei es in der leichten ironischen Form des Schlusssatzes von Stefan Zweig: „Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.“ Es liegt vermutlich nicht daran, dass der Regisseur Philipp Stölzl nun gar nichts vom Schach verstünde – er ist laut eigener glaubhafter Aussage ein begeisterter Hobbyspieler, sondern daran, dass sich das heutige brutal durchkommerzialisierte Kino kaum noch traut, jenseits von emotionalisierter Hollywood-Machart zu inszenieren. Der Film wird bestimmt trotz des Stempels „Schachnovelle“ recht erfolgreich sein, aber manche Eltern werden sich vielleicht Gedanken darüber machen, wie sie ihre Kinder vor diesem gefährlichen Spiel bewahren, das zu nichts anderem zu taugen scheint, als in eine abstrakte Scheinwelt zu flüchten und das Ego eines barbarischen Gegners zu zerbrechen.
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