Sonntag, 16. August 2015
“Der Flüchtling klaut mir meinen Fernseher!”
Oder: Verarscht fühlen ist das neue 20.
von die Kuchenbäckerin on August 8, 2015
Ich habe lange überlegt, ob es klug ist, zu diesem Thema die Fresse aufzureißen.
Wahrscheinlich bin ich dafür nicht genug informiert. Sicherlich bin ich zu aufbrausend. Zu drastisch. Möglicherweise zu, ähm, vulgär. Vielleicht habe ich sogar schlichtweg keine Ahnung. Ich habe nämlich nicht Politikwissenschaften studiert. Und auch nicht die FAZ aboniert. Oder die Süddeutsche. Ich klicke mich nicht nach Feierabend stundenlang durch einschlägige politische Onlineartikel oder gucke den 24 Std. Tagesschau Kanal im PayTV.
Ich lese jeden Morgen auf der Arbeit die Bild. Und wühle mich durch die yellowpress. Ich verdiene mein Geld nicht damit, investigativ zu recherchieren, sachlich fundierte Fragen zu unbequemen Themen zu stellen oder in Kriegsgebieten mit einer Lampe auf dem Kopf und schusssicheren Weste am Körper durch dreckige Höhlen zu kriechen. Ich bin nicht Christiane Amanpour. Mein Job ist es, glücklich zu machen. Und ich liebe es.
Ich glaube daran, dass ein Herzenswort, ein positiver Blick auf die Dinge, ein Lächeln von Ohr zu Ohr auch in düstersten Zeiten viel Licht bringen kann. Eine liebevolle Erinnerung daran, dass sie kleinen Dinge zählen. Ein Sonnenstrahl auf der Nase, Bauchweh vor lachen, ein glitzernder Fernsehturm. Dafür bin ich hier. Und doch muss ich sagen:
MIR REICHT ES JETZT.
Vor ein paar Wochen sah ich bei facebook den Kommentar eines Freundes meines Cousins, 16 Jahre alt, unter einem NPD Posting: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber allmählich reichts auch mal mit den Flüchtlingen hier.“
Und auf einmal ist er da: der Moment, in dem dir kotzübel wird. Weil du all das, was du immer wie ein Schutzschild vor dir her getragen hast, alle Abwehr, jeder Gutglaube, mit einem Schlag zunichte gemacht wird. Die Realität tritt deiner Naivität in den rosa Hintern. „Diese Rassismusscheiße stirbt zum Glück mit der nächsten Generation aus“, hörte ich mich oft sagen. War ja auch alles so schön weit weg. Ja gut, da irgendwo im Osten pöbeln so ein paar gehirnamputierte Nazis. Aber alles in allem sind wir doch safe. Wir sind schlau. Unsere Schulden sind beglichen. Hitler und so. Wir haben es schmerzhaft gelernt. Wir wissen, wie der Hase läuft. Und jetzt steht dieser Rotzbengel da und verkündet munter seine als Landsliebe und Gerechtigkeitssinn getarnte Hassparole. Ohne mit der Wimper zu zucken. Von Nichts ne Ahnung, zu Allem ne Meinung. Und wenn alle widerlichen, rechtsradikalen, rassistischen Arschlöcher, alle unwissenden Dämlinge ihre grenzdebile, in Dummheit und Ignoranz getauchte Meinung in die Welt rausschreien können, dann kann ich das auch. Trotz der Abstinenz von Politikstudium, FAZ und Co. Ich glaub, Frau Amanpour fänd’ das okay.
„Wer fliehen musste, verdient ein wenig Frieden. Punkt.“, kommuniziert die Ideenschmiede Eier und Herz bei Facebook. „Aber bitte nicht bei uns!“, brüllen die selbsternannten „Landsleute“. Ah, Frieden wird also jetzt geografisch aufgeteilt: bei uns leider momentan out of stock.
Was zur Hölle ist eigentlich unser Problem?
Während ich das hier schreibe, sitze ich mitten in Berlin. Im Halbschatten. Vor einem Riesenglas Latte Macchiato. Vor mir ein MacBook. Und ich denke: Na toll, braucht ganz schön lange zum Hochfahren. Kackteil. Könntste dir auch mal n Neues gönnen. Und 2 Min später: Fuck, gleich burne ich mir wieder den Hintern am Ledersitz meines Autos weg beim Einsteigen. Scheißhartes Leben im Palast Dekadenzia. Und JA, ich hänge dran. An meinem Latte Macchiato, meiner Wohnung, meiner Badewanne, meinem Auto, meinem Luxusleben. Denn es IST Luxus, das alles.
Wir ersticken an ihm, ohne ihn auch nur wahrzunehmen. Wir wollen immer mehr, immer höher, immer geiler, immer schneller. Und egal, wie viel wir kriegen: alles, was wir sehen, ist der Mangel. Aus Unzufriedenheit wird Hass gegenüber denen, die ja nun wirklich GAR NICHTS mehr haben. Wer das kapiert, erklärts mir bitte.
Gleichzeitig fühlt der Deutsche sich ja per se ungerecht behandelt. Alles immer kacke. Der Staat hier, die Regierung da. Verarscht fühlen ist das neue 20.
„Die Ausländer nehmen uns die Jobs weg.“
„Ich geh schuften, meine Familie hat kaum was zu fressen und der Türke hat ne Rolex und ein iPhone 6.“ Blablabla etc.
Liebe Pöbelfritzen: Sicher, Rabauken gibt’s überall. Arschlöcher eh. Schlupflöcher in Systemen, Schmarotzer und Abzocker auch, klar. Aber so was zu generalisieren, aufgrund der paar schwarzen Schafe gleich eine Hassparole abzuspulen – kapiert ihr, was ihr da redet? Was aus euch geworden ist? Der Nachkriegsgeneration, die es doch verdammte Scheiße noch mal besser wissen müsste?
Da sind Menschen, mitten in der Nacht, 700 Stück, auf einem kleinen, kaum seetüchtigen HOLZBOOT. Mitten auf dem Mittelmeer. Unter ihnen hunderte Meter Wasser, sonst nichts. NICHTS. Genau soviel, wie sie noch haben. Familien in zerbombten Straßen, verfolgt und vom Tode bedroht. Frauen mit weinenden Babys auf dem Arm – kleine Kinder, die vielleicht gestern noch in Bangladesch eure 3 Euro PRIMARK Shirts in giftige Farbe getaucht haben. Denkt ihr ernsthaft, die Ärmsten der Armen dieser Erde sitzen in ihren Baracken und tüfteln hinterfotzige Pläne aus, wie sie euch euren 58 Zoll Smart TV zecken können? Oder euren angerosteten Opel, eure Bude oder euren ach so verdammt heiligen Job? Himmelherrgott, was stimmt denn nicht mit euch? Diese Menschen haben alles verloren, die machen keine lustige Hafenrundfahrt aus Bock schön eng aneinandergedrängelt, weil’s dann umso mehr fetzt.
Wer „die Tribute von Panem“ kennt, der hat gelernt: Das einzige, was noch stärker ist als Angst, ist Hoffnung. Und diese Menschen haben nur noch eine: Uns. Wir sitzen hier in unserem Reichtum, die Hintern fett gefressen und pöbeln, wie schlecht es uns geht. Wohnung zu klein, Fernseher eh. Auto zu alt, Frau zu dick, Schwanz zu kurz. Diese Menschen wollen nichts von uns! Und selbst WENN, täte es uns wirklich so unglaublich weh?
Weder ich noch meine Eltern haben hautnah einen Krieg erlebt. Dafür bin ich sehr dankbar. Und doch macht es uns blind. Es macht uns arrogant. Wir wissen nicht, wie es ist, zwischen Bombenhagel und zerfetzten Menschen durch die Straßen zu laufen, um unser Leben zu rennen, alles zurücklassen zu müssen. Die Familienfotos, die Kinderschuhe, den Ehering, den Partner. Oder die Eltern. Wir haben noch nie ALLES verloren. Und da wir ja so wahnsinnig an Glotze, Glamour und Grundstück hängen, wissen wir: Freiwillig lässt niemand sein Zuhause zurück, mit nichts in den Händen außer einem Bündel Lumpen und einem Baby auf dem Arm. Alles, was diese Menschen noch haben, ist der Gedanke an eine bessere Welt: an unsere. An die, die uns nie gut genug ist.
Ich hatte noch niemals das Blut eines geliebten Menschen an den Händen. Ich hatte noch niemals so große Angst, dass ich den möglichen Tod als Konsequenz in Kauf nahm, um mich an einen Ort zu retten, an dem NICHTS auf mich wartet. NIEMAND meine Sprache spricht. An dem ich monatelang in einer Notbehausung leben muss, nur um von widerlichen Rassisten Steine an den Kopf geworfen zu bekommen, deren Großväter und Urgroßväter „Führer befiel, wir folgen dir“ gebrüllt haben. Wer ernsthaft gegen Flüchtlinge hetzt, wer verlangt, sie abzulehnen, ist Abschaum und Schande für das „Vaterland“, das er angeblich so tatkräftig schützen will. Schämen solltet ihr euch. Alle.
Und nu? Ausgepöbelt. Eine Antwort weiß ich leider auch nicht. Eigentlich die perfekte Form der Propaganda: Hetzen, nur aufzählen, was scheiße ist, Leute anstacheln – und gehen. Ohne Lösung. Vielleicht ist der erste Schritt, dass wir nachdenken. Eine Meinung haben. Und die sagen. Schreien. Laut. Denn das dürfen wir nicht nur, das ist unsere fucking Pflicht. Ich will nicht in einer Welt leben, in der notleidende Menschen arrogant abgewiesen werden, weil sich einer Sorgen ums „Vaterland“ macht. (Wenn ich das Wort noch ein mal schreiben muss, kotze ich.) Ich möchte meinen Wohlstand bewusst wahrnehmen, dankbar dafür sein und Mitgefühl zeigen, so gut ich kann. Jaja, uns fehlt so vieles. Monatsticket ist auch wieder teurer geworden, der Sommer ist zu heiß und halbe Stunde parken in der City kostet 8 Euro. Ick wees. Aber verglichen mit den Menschen, die unsere Hilfe brauchen, haben wir ALLES. Und die NICHTS. Was das bitterböse Auge-um-Auge-Argument „Wenn WIR das bei DENEN im Land machen würden…“ angeht:
Nun – könnte, hätte, Fahrradkette. Wir wissen nicht, was dann WÄRE.
Vielleicht würden sie uns gar nicht reinlassen. Vielleicht würden sie uns auch mit Steinen beschmeißen. Vielleicht ist aber irrelevant. Wir sind am Zug. Wir haben die Chance, es gut zu machen. Besser. Besser als gestern.
Ist ein guter Anfang, oder?
Nachtrag vom 13/8/15:
Wem meine BILD Zeitung, yellowpress und ich zu “ungebildet” sind – für den reicht Journalist, Moderator und ehemaliger Leiter des ZDF heute-Journals Claus Kleber vielleicht aus… DER hat’s verstanden. Genau DARUM geht es auch mir: http://youtu.be/Z1zvfLk065I
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