Nach eineinhalb Jahrzehnten linker Hegemonie von Argentinien bis
Venezuela drängen reaktionäre Kräfte erneut an die Macht. Zur
Rechtswende in Lateinamerika (Teil I)
Von Dieter Boris, Achim Wahl
Präsident der Straße: Brasiliens Exregierungschef
Luiz Inácio Lula da Silva auf einer Kundgebung von Anhängern der
vorläufig aus dem Amt gedrängten Staatschefin Dilma Rousseff am 16.
April 2016
Foto: AP Photo/Eraldo Peres
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Dieter
Boris ist Hochschullehrer im Ruhestand an der Universität Marburg.
Achim Wahl ist Lateinamerikanist und war von 2002 bis 2004 Büroleiter
der Rosa Luxemburg Stiftung in Brasilien
Seit etwa drei Jahren
befinden sich die linken Regierungen in mehreren lateinamerikanischen
Ländern in der Defensive. In unterschiedlichem Ausmaß sind sie mit
sinkender Wählerzustimmung, Massenprotesten, ökonomischen und sozialen
Problemen sowie verengten Verteilungs- und Handlungsspielräumen
konfrontiert. Manche sprechen vom »Auslaufen eines Zyklus«, so etwa der
Historiker und Sozialwissenschaftler Guillermo Almeyra. Mit der
Protestwelle des Junis und Julis 2013 in Brasilien, dem Tod des
venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez im März 2013 und den darauf
folgenden gewalttätigen Ausschreitungen der rechten Opposition waren
markante Wendepunkte erreicht. Auf den Sieg des neoliberalen
Konservativen Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen in
Argentinien im November 2015 folgte im Dezember desselben Jahres der
nächste Paukenschlag, als in Venezuela die vereinigte Rechte der
Regierung unter Chávez’ Amtsnachfolger Nicolás Maduro eine herbe
Niederlage bei den Parlamentswahlen beibrachte und eine
Zweidrittelmehrheit in der Abgeordnetenkammer gewann – welche allerdings
einige Wochen später, nach mehreren Anfechtungen, vom Obersten
Gerichtshof des Landes gekippt wurde. Der bolivianische Präsident Evo
Morales verlor im Februar 2016 ein Referendum, das ihm eine vierte
Amtszeit nach 2019 ermöglichen sollte. Im April wurde schließlich in
Brasilien gegen die noch vor 18 Monaten mit knapper Mehrheit im Amt
bestätigte Präsidentin einer Mitte-links-Regierung, Dilma Rousseff, von
der konservativen Mehrheit des Abgeordnetenhauses ein
Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Nachdem am 12. Mai auch im Senat
eine Zweidrittelmehrheit für eine Amtsenthebung der Präsidentin votiert
hatte, wurde sie für ein halbes Jahr suspendiert und von ihrem
bisherigen Vizepräsidenten, dem Neoliberalen Michel Temer, als
Interimspräsident abgelöst. Dieser »weiche« beziehungsweise
institutionelle Putsch, der in ähnlicher Form bereits 2009 in Honduras
und 2012 in Paraguay gegen gewählte, fortschrittliche Präsidenten zu
beobachten war, leitete einen scharfen politischen Richtungswechsel mit
Kurs auf eine Rückkehr zum Neoliberalismus ein.
Zwar sind
weitere Links- beziehungsweise Mitte-links-Regierungen in Bolivien,
Ecuador, Uruguay, Nicaragua, El Salvador und Chile nach wie vor im Amt,
doch sind die jüngsten Umbrüche in den ökonomisch und politisch
bedeutenden Ländern Argentinien, Venezuela und vor allem Brasilien für
die Gesamtentwicklung des Subkontinents von großer Tragweite. Es muss
daher die Frage gestellt werden, ob damit die Periode der
Linksregierungen zu Ende geht und welche Gründe es für die genannten
Prozesse gibt.
Erklärungen und Interpretationen
Viele bisher vorgebrachte Erklärungsansätze erscheinen
unzureichend, da sie sich häufig auf einzelne Faktoren oder
oberflächliche Erscheinungen fokussieren: Das schlichte
Nebeneinanderstellen von positiven und negativen Resultaten linker
Regierungstätigkeit bleibt ebenso unbefriedigend wie der Hinweis auf
Führungsschwächen oder auf die gegenwärtige (welt-)wirtschaftliche
Rezessionsphase. Auch die von mancher Seite zu hörende Erklärung, dass
nun – mit der starken Abschwächung der Weltmarktpreise für Rohstoffe –
das Wirtschaftsmodell des »Neoextraktivismus« (der intensiven Ausbeutung
eigener natürlicher Ressourcen) endgültig an seine Grenzen stoße, kann
kaum überzeugen. Ebenso wenig schlüssig erscheint die gern vorgebrachte
pauschale Behauptung, die politischen und ökonomischen
Transformationsversuche der Linksregierungen seien ohnehin von
vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
In Lateinamerika
selbst werden die Entwicklungen der letzten Jahre in einer intensiven
und äußerst kontrovers geführten Debatte ergründet. Dabei wird
gelegentlich sogar denjenigen, die ein Auslaufen oder eine Erschöpfung
des »progressiven Zyklus« konstatieren, unterstellt, sie wollten dessen
Ende »herbeireden« oder seien bestenfalls geschichtsphilosophischen
Spekulationen erlegen.
Im folgenden soll der Versuch einer
materialistischen Analyse unternommen werden. Diese muss die
Ausgangsbedingungen der Gesellschaften in den links regierten Ländern
vor Beginn des jeweiligen Transformationsvorhabens berücksichtigen. Sie
muss die Kräfteverhältnisse bei der Zurückdrängung des Neoliberalismus
untersuchen und die zentralen, auf Veränderungen zielenden Maßnahmen der
Linksregierungen sowie deren Wirkungen auf die jeweiligen
Gesellschaften herausarbeiten – in bezug auf die sozioökonomische
Lebenslage, auf Sicherheit, Aufstiegsmöglichkeiten, Bewegungsfreiheiten
sowie die politischen und gewerkschaftlichen Artikulationsmöglichkeiten.
Dabei fällt auf, dass die Linksregierungen bis etwa 2013
mehrheitlich große Zustimmungswerte seitens der Bevölkerungen ihrer
Länder erzielten. Dies lässt sich anhand von empirischen Daten,
statistischen Materialien, Umfragewerten und mehreren gewonnenen
Wiederwahlen nachvollziehen. Dennoch scheint es innerhalb ihrer
bisherigen Basis schon bis zu diesem Zeitpunkt Unmut gegeben zu haben.
Die Frage ist, warum und wann die Befürwortung in Ablehnung umschlug,
welche politischen und ökonomischen Maßnahmen wachsendes Missfallen
hervorgerufen haben.
Dabei sind innere und äußere Bedingungen
ebenso wie unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen und Akteure ihrer
jeweiligen Bedeutung nach einzubeziehen. Die wachsende Unzufriedenheit
in Teilen der bisherigen sozialen Basis und Wählerschaft und das
offensivere Auftreten der jeweiligen nationalen Rechten – inklusive
ihrer allzeit bereiten auswärtigen Unterstützer – scheint ein
wechselseitiger, sich aufschaukelnder Prozess zu sein, der letztlich in
einer deutlichen Veränderung der Kräfteverhältnisse zuungunsten der
Linksregierungen mündet.
Keine Überlegungen zur Strategie
Präsident der Bosse: Brasiliens ins Amt
geputschter geschäftsführender Staatschef Michel Temer beim Empfang
seiner Getreuen im Mai 2016
Foto: Marcos Corrêa/flickr.com/CC BY 2.0
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Ausgangspunkt war die verkündete Abkehr von einer neoliberalen
Politik, die sich jedoch nur in beschränktem Maß in konkreten
politischen Maßnahmen niederschlug. Erweiterte Mitbestimmungsrechte für
die Bürger, die Wiederherstellung der Staatlichkeit und des öffentlichen
Raums gegenüber der Allmacht des Marktes und der fortschreitenden
Privatisierungen sowie die Rückeroberung der nationalstaatlichen
Souveränität waren die wichtigsten Zielpunkte der Linksregierungen.
Zudem wurde eine Anerkennung und der gesetzliche Schutz der Lebenswelt
der indigenen Bevölkerungsgruppen versprochen. Die Neuausrichtung wurde
vor allem in den Staaten mit verfassunggebenden Versammlungen
(Venezuela, Bolivien, Ecuador) diskutiert; für die neuen Verfassungen
wurden entsprechende Ziele formuliert. Aber eine konkrete Festlegung auf
die angestrebte Gesellschaftsform wurde dabei nicht vorgenommen. So ist
es erstaunlich, dass die Diskussion über die Gesellschafts- und
Staatsziele in der Öffentlichkeit und der Bevölkerung seit einigen
Jahren offenbar kaum weitergeführt wurde.
Dadurch kann der
Eindruck erweckt werden, dass es vor allem darauf ankomme, die bisher
erreichten sozialen und politischen Verbesserungen (etwa die
Verringerung der Armut, die Bekämpfung der Ungleichheit, die Steigerung
der Löhne) zu halten und vielleicht auszubauen – aber nicht länger eine
tiefer gehende gesellschaftliche Transformation anzustreben. Dies
scheint einer der Gründe dafür zu sein, dass sich in einigen Ländern
relativ überraschend soziale Bewegungen mit großer
Öffentlichkeitswirkung zu Wort meldeten (so 2013 in Brasilien und 2014
in Venezuela), die auf Versäumnisse der Regierungen hinwiesen. Dabei
wurde nicht immer klar, ob diese Proteste nun eher von »rechts« oder von
»links« kamen. In bezug auf eine längerfristige politische Orientierung
scheint das Verhältnis von Antineoliberalismus und Antikapitalismus
kaum explizit von den Linksregierungen thematisiert worden zu sein.
Die Ansätze zur Umwandlung der ökonomischen Strukturen waren und sind
in den verschiedenen Ländern unterschiedlich deutlich und weisen
verschiedene Akzente auf. Ein wichtiges Kriterium dafür, in welchem
Ausmaß der antineoliberale Anspruch realisiert und tiefgreifende
Veränderungen begonnen wurden, kann in der quantitativen und
qualitativen Entwicklung des staatlichen Bereichs der Wirtschaft gesehen
werden. In dieser Hinsicht scheint das Kabinett von Ecuador unter den
Linksregierungen an der Spitze zu liegen. Dies wird nicht nur anhand der
überdurchschnittlichen regionalen Investitionsquote zwischen 2007 und
2013 (mit 24,5 Prozent gegenüber dem lateinamerikanischen Durchschnitt
von ca. 20 Prozent) deutlich. In jenem Zeitraum wurden auch die
öffentlichen Investitionen etwa verdreifacht. Dies schlug sich etwa im
Bereich der Infrastruktur (Straßen, Häfen, Wasserkraftwerke et cetera)
nieder. Auch der Bildungs- und Erziehungsberich sowie der
Gesundheitssektor wurden ausgebaut und die Qualität der bestehenden
Angebote wurde verbessert. Hinsichtlich der Ausgaben für Bildung und
Gesundheit nimmt Ecuador in Lateinamerika den ersten beziehungsweise
zweiten Platz ein. Bei manchen von Linksregierungen geführten Ländern
ist die quantitative Ausweitung im Bildungssektor jedoch teilweise zu
Lasten der Qualität und Effizienz gegangen, so etwa in Venezuela.
In den meisten Ländern gerät fortschrittliche Bildungspolitik – abseits
von Konzeptions- und Umsetzungsmängeln – an Grenzen. Eine davon ist die
traditionelle gesellschaftliche Wertschätzung verschiedener Arten von
Bildung: So existieren privilegierte und stigmatisierte Einrichtungen
und Schultypen. Diese lange tradierten Wahrnehmungsmuster lassen sich
nur schwer kurzfristig überwinden. Bestehende Bürokratien, das Verhalten
des Lehrpersonals gegenüber den Schülern sowie ein mangelnder
gesamtgesellschaftlicher Konsens bezüglich der Maßnahmen zur
Verringerung von Ungleichheit konterkarieren fortschrittliche Vorhaben.
Letztere erschöpfen sich daher meist in einer Erhöhung der Zahl der
Bildungseinrichtungen und in der Erleichterung von Zugangsmöglichkeiten.
In seiner eingehenden Untersuchung der Bildungspolitik von Venezuela
und Uruguay, deren Befund sich wahrscheinlich verallgemeinern lässt,
gelangt der Sozialwissenschaftler Stefan Peters zu einem ernüchternden
Ergebnis: »Mit der hierarchischen Fragmentierung des Bildungssystems,
dem Dilemma progressiver Bildungspolitiken und den Grenzen der
Bildungspolitik können drei Elemente ausgemacht werden, die einer
Reduzierung sozialer Ungleichheiten mittels bildungspolitischer Reformen
strukturell entgegenstehen«. Großen Hoffnungen auf grundlegende
gesellschaftsverändernde Potentiale progressiver Bildungspolitik
begegnet Peters mit dem Verweis auf zwei entscheidende »Leerstellen der
Debatte«: »Weder berücksichtigen sie in angemessener Weise die jeweilige
Ausgangslage und Strukturierung des Politikfeldes auf dem Reformen
stattfinden, noch sind sie sensibel für tiefer liegende, strukturelle
Hindernisse und generelle Begrenzungen der Reformpolitiken in
Lateinamerika.«¹
Im Falle Brasiliens und Argentiniens zeigt sich im allgemeinen ein
widersprüchliches Bild: Einerseits gibt es Versuche, den öffentlichen
Sektor auszubauen: so etwa in Teilen des Bildungswesens, bei den
Universitäten etwa, oder im Verkehrswesen. Andererseits gibt es in
einigen Bereichen eine Zunahme privater Dienstleistungen. So dürfte etwa
in Brasilien im Sekundarschulbereich gerade in den letzten Jahren
schneller als das öffentliche das nichtstaatliche Angebot gewachsen
sein. Obwohl in dem größten Land Südamerikas von 2003 bis 2010 die
weltweit höchsten Steigerungen der Ausgaben für Bildung im
Staatshaushalt erreicht worden sind und diese mittlerweile mit 6,1
Prozent des BIP über dem OECD-Durchschnitt von 5,4 Prozent liegen,
»perpetuiert« das öffentliche Bildungssystem »weiterhin
gesellschaftliche Ungleichheiten«, bemerkt dazu der
Politikwissenschaftler Yesko Quiroga Stöllger, Leiter des Büros der
SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo. Ähnliches scheint im
brasilianischen Verkehrs- und Gesundheitsbereich zu gelten.
Problem regressiver Steuern
Die in den links regierten Ländern insgesamt geringe Ausweitung der
öffentlichen Dienstleistungen und des öffentlichen Sektors hängt vor
allem auch damit zusammen, dass die in der Regel regressiven
Steuersysteme Lateinamerikas auch unter den progressiven Regierungen
nicht tiefgreifend verändert wurden. Ein regressives Steuersystem
zeichnet sich dadurch aus, dass Bürger prozentual umso weniger Abgaben
zahlen, je höher ihr Einkommen ist. Zwar ist das Steueraufkommen
insgesamt fast überall gestiegen, doch war dies vor allem auf
verbesserte Eintreibungsmechanismen, eine gute Binnenmarktentwicklung,
Einkommenssteigerungen und deutlich gestiegene Exportsteuern
zurückzuführen. Allerdings liegt das nicht nur an der Passivität der
Regierungen, sondern auch am Widerstand derjenigen sozialen Gruppen, die
von einer steuerlichen Mehrbelastung für Unternehmen und Vermögende
selbst profitieren würden. Hier ist zweifellos noch viel
Aufklärungsarbeit seitens der politischen Linken zu leisten.
Deutlich wird dies am Beispiel Ecuadors. Der Anfang 2015 von der
Regierung unter Rafael Correa eingebrachte Gesetzesentwurf, der auf
höhere Steuern für Reiche, sehr große Erbschaften und
Spekulationsgewinne aus dem Immobiliengeschäft abzielte, traf schnell
auf erbitterten Widerstand. Große Demonstrationen bestimmten im Jahr
2015 das politische Klima im Land. Die Regierung musste den
vergleichsweise moderaten Entwurf zunächst zurückstellen. Dafür
verantwortlich war wahrscheinlich weniger das Gesetzesvorhaben selbst.
Eine entscheidende Rolle spielte vielmehr der Umstand, das die Regierung
vorher schon eine gründliche Verwaltungsreform unter Einschluss einer
soliden Ausbildung für Steuerbeamte durchgeführt hatte. Die von den
geplanten Erhöhungen Betroffenen konnten also nicht darauf hoffen, dass
das Vorhaben wie jeder Ansatz einer progressiven Steuerreform durch
Schlupflöcher und andere Umgehungsmöglichkeiten umgehend verwässert
worden wäre.
Auf diesen wichtigen Zusammenhang hat der
Steuerexperte für Lateinamerika, Andreas Boeckh, aufmerksam gemacht:
»Versuche, die regressive Wirkung des Steuersystems abzumildern, konnten
zum Teil auch unter schwierigen politischen Voraussetzungen abgeblockt
werden, und dann, wenn tatsächlich ein progressives Steuersystem
etabliert wurde, scheiterte dies an einer überforderten und korrupten
Steuerverwaltung. Nicht umsonst wurden die Proteste gegen staatliche
Reformversuche besonders schrill, wenn es darum ging, mit Hilfe einer
verbesserten Steuerverwaltung schon bestehende Steuergesetze auch
wirklich anzuwenden.«² Genau dies scheint der Hintergrund der Proteste
in Ecuador gewesen zu sein.
Ökonomische Defizite
Auch Einflussmöglichkeiten auf wirtschaftliche Entwicklung wurden
nicht genutzt. Dies gilt ebenfalls für die Veränderung der ökonomischen
Grundstrukturen in Richtung einer stärkeren Diversifizierung und
internen Verkettung der Zweige und Sektoren.
Selbst in jenen
Ländern, in denen das industrielle Wachstum gegenüber dem Wachstum des
gesamten Bruttoinlandsprodukts überproportional war (wie etwa in
Argentinien zwischen 2003 und 2009), blieben die Probleme im
wesentlichen die gleichen. Das bedeutete auch, dass sich nach einigen
Jahren des Zusammentreffens günstiger Faktoren die alten Schieflagen in
Form von steigendem Inflationstempo, wachsendem Minus im Staatshaushalt,
Handelsbilanzdefiziten und dem Schwund der Devisenreserven erneut
einstellten. Der argentinische Ökonom Lo Vuolo hat die bestehenden
Probleme treffend für sein Land zusammengefasst. Vieles lässt sich auch
auf die anderen Länder mit linken Regierungen übertragen:
1. konzentrierte Spezialisierung und Einbindung in den Weltmarkt auf der Basis von Rohstoffen,
2. profunde Unterschiede der Produktivität zwischen Branchen, Unternehmen und Regionen,
3. sehr ungleiche Konsummuster, die zudem stark von Importen abhängen,
4. Devisenknappheit wegen negativer Handelsbilanz und Kreditverpflichtungen beziehungsweise Schuldendienst,
5. regressive Steuern, die nicht reichen, um die versprochenen öffentlichen Ausgaben finanzieren zu können,
6. größere ökonomische Konzentration (und des Reichtums) sowie eine noch stärkere Auslandskontrolle bei den Topunternehmen,
7. hohe Gewinne bei Aktivitäten mit Rentencharakter (wobei viele davon mit staatlichen Sektoren verbunden sind).
Diese Tendenzen, in Verbindung mit einer mehr oder minder deutlichen
Verringerung der Bedeutung der Industrieproduktion, werden in manchen
Ländern – wie etwa Brasilien – durch einen hohen Leitzins und eine
häufige Überbewertung der Landeswährung verstärkt. Dadurch werden
Investitionen in die verarbeitende Industrie immer unattraktiver. Die
nach wie vor vorhandenen Machtkonstellationen in der Wirtschaft
privilegieren also eindeutig den nationalen und internationalen
Finanzsektor. Diesen ökonomischen Defiziten entsprechen fortdauernde
soziale Probleme:
1. ein immer noch hoher Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse,
2. sehr ungleiche Verteilung der Einkommen und des Reichtums,
3. soziale Systeme mit schlechtem Zugang zu Dienstleistungen und Transfers für die Ärmsten,
4. ein hohes Armutsniveau, wobei die Einkommen sich bei starkem
ökonomischen Wachstum verbessern. Während die Armutsquote dann
vorübergehend sinkt, steigt sie in Perioden der Rezession rasch wieder
an. Dies scheint in den letzten beiden Jahren in vielen Ländern
Lateinamerikas der Fall gewesen zu sein.
Anmerkungen
1
Peters, Stefan: Bildungsreformen und soziale Ungleichheiten in
Lateinamerika. Kontinuität im Wandel in Venezuela und Uruguay. Nomos,
Baden-Baden 2013
2 Boeckh, Andreas: »Staatsfinanzierung und
soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika«. In: Wehr, Ingrid / Burchardt,
Hans-Jürgen: Soziale Ungleichheiten in Lateinamerika. Nomos, Baden-Baden
2011, 71–90.