Wissenschaftler finden in Kirchenakten Hinweise auf Tausende Fälle sexuellen Missbrauchs
Von Marc Bebenroth![]()
Anhaltspunkte für Missbrauchsfälle hat die Kirche Jahrzehnte lang in ihren Unterlagen verschwinden lassen. Opfer erfuhren davon nur, wenn sie auf Entschädigung klagten
Foto: Marijan Murat/dpa
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Kardinal Reinhard Marx, DBK-Vorsitzender und Münchner Erzbischof, ging in seiner Eröffnungsmesse zur Herbstvollversammlung im Fuldaer Dom am Dienstag morgen auf das Thema ein. »Wir sind erschrocken und tief erschüttert über das, was möglich war im Volk Gottes«, sagte Marx laut einer Mitteilung der DBK. Am Mittag folgte die Präsentation der Studie.
Der Auftrag dafür ging an ein Forschungskonsortium der Universitäten von Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG). Nach der Kombination mehrerer Teilprojekte kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass sich für den Zeitraum von 1946 bis 2014 anhand von Personal- und Handakten für 1.670 Kleriker (4,4 Prozent) Hinweise auf Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger finden lassen. Dabei handelt es sich laut den Autoren der Studie um eine »untere Schätzgröße«, tatsächlich liege die Zahl höher. Insgesamt 3.677 Kinder und Jugendliche konnten anhand der Kirchenakten als Betroffene festgestellt werden. Bei knapp mehr als 40 Prozent der Beschuldigten lagen laut Studie Hinweise auf mehrere Missbrauchsopfer vor, der »Maximalwert« lag bei 44 Betroffenen. In vielen Fällen seien Unterlagen »vernichtet oder manipuliert worden«, wie Spiegel online bereits am 12. September vorab über die Studienergebnisse berichtet hatte.
Der Leiter des MHG-Forschungsprojektes, Harald Dreßing, beklagte während der Präsentation in Fulda einen mangelnden Aufklärungswillen in weiten Teilen der Kirche. So hätten das Ausmaß des Missbrauchs und auch der Umgang der Verantwortlichen damit die Forscher »erschüttert«, sagte Dreßing. »Unsere Studienergebnisse legen nahe, dass es in der katholischen Kirche Strukturen gab und gibt, die den sexuellen Missbrauch begünstigen können.«
Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte am Dienstag im ZDF-»Morgenmagazin« die katholische Kirche zu Entschädigungszahlungen auf. Außerdem solle die Aufarbeitung fortan durch staatliche Behörden erfolgen und nicht länger in der Verantwortung der Kirche liegen. Dafür müsste Ermittlern Zugang zu kirchlichen Archiven gewährt werden.
Aus Sicht der von Rörig im Jahr 2015 einberufenen Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zeigt die MHG-Studie, dass innerkirchliche Machtstrukturen »den Schutz der Kinder und die Rechte der Betroffenen untergraben«. Eine Konsequenz müsse die Analyse »täterfreundlicher Strategien« innerhalb der katholischen Kirche sein.

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